Sozialistische Zeitung |
Die Bundesländer treten seit mehr als einem Jahr mehrheitlich für eine Lockerung oder gar
völlige Abschaffung des Ladenschlussgesetzes ein. Sie wollen den Ladenschluss unter der Woche auf 22 Uhr und Samstags auf 20 Uhr
verlängern. Bemerkenswert ist dabei, dass auch der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Wolfgang Clement, nach seiner
Wahl über Nacht zu einem glühenden Verfechter längerer Öffnungszeiten wurde. Vor allem die Wirtschaftsminister
treiben. Die Begründung lautet: Modernität. Anderes bleibt auch nicht zur Rechtfertigung dieser Vorstellungen gegenüber der
Wählerschaft.
Das Argument, dass längere Öffnungszeiten mehr Arbeitsplätze
brächten, nehmen selbst die Fundigegner des Ladenschlusses nicht mehr in den Mund. Zu eindeutig sind die Erfahrungen, die mit der
letzten Verlängerung der Einkaufsmöglichkeiten gemacht wurden: Statt 50000 versprochener zusätzlicher Arbeitsplätze
war seit der Gesetzesänderung 1996 bis Ende 1999 ein Rückgang des Beschäftigungsvolumens im Einzelhandel um 130000
Arbeitsplätze - auf Vollzeitstellen umgerechnet - zu bilanzieren. Das System dabei: Zur Abdeckung längerer Öffnungszeiten
werden Vollzeitarbeitsplätze in Minijobs zerlegt, mit denen der Arbeitskräfteeinsatz je nach Kundenaufkommen so sparsam wie mit
einer Pipette dosiert werden kann.
Dieses Sparpotenzial können die Großkonzerne im Einzelhandel mit
ihren großen Einkaufscentern besser erschließen als kleine Läden. Die Akteure auf der "grünen Wiese" vor
der Stadt können den Konkurrenzkampf um die stagnierende Kaufkraft gegen "Tante-Emma"-Läden und wohnungsnahe
Geschäfte noch wirksamer führen, wenn sie ihre Geschäfte möglichst lange offen halten können.
Und König Kunde? Als Monarch ist er nicht so modern wie die
Propagandisten der Zukunftsfähigkeit, für die Zukunft und Verwertung ein und dasselbe sind. Verschiedene Untersuchungen stellen
Kauflust im durch den Ladenschluss verbotenen Bereich nur bei höchstens einem Viertel der Bevölkerung fest.
Noch sind es aller Individualisierung zum Trotze viele, die spätestens zur
"Tagesschau" zu Hause sein oder die Kinder noch selbst ins Bett bringen wollen, sich gern regelmäßig abends mit
Freunden oder Bekannten treffen. Die Zahl der aus den sozialen Bindungen gelösten, Tag und Nacht rastlos als Geld- und
Warentransporteure zwischen Internet und der Wa(h)ren-Welt surfenden Monaden ist zu gering: Einen Kanzler, dem die Berichte der
Demoskopie mehr Leitschnur sind als Parteiprogramme, macht das unentschlossen. Gern würde er einen Konsens zwischen
Einzelhandelsverband und Gewerkschaften herbeimoderieren. Doch das scheitert am klaren Nein der Gewerkschaft HBV. Also bleibt die
Strategie des Amtsvorgängers: Aussitzen. Der Kanzler will nicht ran an den Ladenschluss.
Damit er tatsächlich sitzen bleibt, bietet die Gewerkschaft Ärger an: mit
öffentlichem politischem Druck auf Bundes- und Landespolitik und mit Konflikt in den Betrieben. Die Manteltarife sind in fast allen
Bundesländern gekündigt und Arbeitszeit ist zentraler Inhalt von Manteltarifverträgen. Das riecht nach
Streik.
Jörg Zimmermann