Sozialistische Zeitung |
Einst war die siebenjährige Grundschulausbildung in Tanzania obligatorisch und kostenlos. Heute
müssen schon Grundschüler für ihre Einschulung einen Dollar, für die Registrierung das anderthalbfache, eine
Gebäudegebühr von bis zu fünf Dollar, Kosten für Uniformen, Schulbücher und Aufsichtspersonal bezahlen. Bei
mehreren Kindern kann sich der jährliche finanzielle Aufwand schnell auf 80-100 US-Dollar belaufen.
Horrende Summen für die meisten Familien, denn die Hälfte der 32
Millionen Tanzanier lebt unter der von der Regierung definierten Armutgrenze von 0,65 Dollar am Tag. Vielen fehlt außer den
Gebühren für die formal immer noch schulpflichtigen Kinder das Geld für das Notwendigste. 28% der Bevölkerung
sind Analphabeten, 49% haben keinen Zugang zu sauberem Wasser und seit 1990 ist die durchschnittliche Lebenserwartung von 50 auf 48 Jahre
gefallen.
Früher galt Tanzania, lange Zeit von der im vergangenen Jahr verstorbenen
Symbolfigur Julius Nyerere regiert, als Prototyp eines afrikanischen "Sozialismus". Nyerere verstaatlichte Ende der 60er Jahre
nicht nur große Teile des Bildungssystems, sondern auch die Gesundheitsversorgung, landwirtschaftliche Betriebe und die schwach
entwickelten Schlüsselindustrien.
Bis in die 70er Jahre hinein erhielt Tanzania internationale Kredite auch aus dem
Westen, zum Teil zu flexiblen Zinssätzen. Mit den steigenden Zinsen während der Wirtschaftskrise Ende der 70er und Anfang der
80er Jahre gelangte Tanzania in die Schuldenfalle, die durch fallende Weltmarktpreise für potenzielle Exportgüter aus dem
Agrarbereich und mineralische Rohstoffe sowie steigende Importpreise für Industriegüter verschärft wurde.
Während sich viele Länder daraufhin dem Diktat der
Strukturanpassungsprogramme internationaler Kreditinstitutionen - dem Ausverkauf ihrer wirtschaftlichen Ressourcen - unterwarfen, profilierte
sich Tanzania mit seinem charismatischen Präsidenten als vehementer Gegner dieser Politik. Aus eigener Kraft war das nicht lange
durchzuhalten.
Der Wandel setzte 1985 mit dem Rücktritt Nyereres ein. Sein Nachfolger, Ali
Hassan Mwinyi, erreichte eine Übereinkunft mit den supranationalen Finanzinstitutionen, setzte diese aber nur teilweise um. Gleichzeitig
häuften sich die Korruptionsaffären. Mitte der 90er Jahre musste außerdem der erfolgreiche Zweig der Textilindustrie nach
kostenlosen Spenden und Billigimporten von Altkleidern aus den USA und Europa den Bankrott erklären.
Die nach wie vor regierende Revolutionspartei CCM, ein Produkt des antikolonialen
Befreiungskampfs, ist heute ein williger Kooperationspartner des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Der
amtierende Präsident Benjamin Mkapa präsentiert auf seiner Tour für die kommenden Präsidentschaftswahlen im
Oktober die "wirtschaftlichen Erfolge" und greift die Opposition scharf an. "Einige haben uns kritisiert, weil wir der
Rückzahlung von Auslandsschulden Priorität geben und versprechen, diese Zahlungen einzustellen. Aber man sollte sie fragen, wo
sie die Kredite … zur Finanzierung großer Entwicklungsprojekte hernehmen wollen", kontert Mkapa.
Rhetorik des
Wahlkampfs
Mit seiner Einschätzung des "wirtschaftlichen Erfolgs" befindet sich Mkapa im Einklang mit dem
"Decision-Point"-Dokument des IWF, dem Eintrittsticket zur Entschuldungskampagne für die ärmsten und
hochverschuldeten Länder (HIPC). Sowohl der IWF als auch der Präsident beziehen sich auf die klassischen Eckpfeiler
neoliberaler Wirtschaftspolitik: vergleichsweise niedrige Inflationsraten von 7% und günstige Wachstumsprognosen.
Doch bis zum Abschluss der HIPC-Initiative unter dem "Complition
Point" kann es noch Jahre dauern. Bis dahin muss Tanzania etliche Bedingungen der neuen Strukturanspassungsprogramme erfüllen,
die seit vergangenem Jahr Poverty Reduction and
Growth Facility (PRGF) heißen und erstmals beanspruchen, neben
makroökonomischen auch Kriterien der Armutsbekämpfung mit zu berücksichtigen.
Zur Zeit gehen 40% des Gesamthaushaltes in die Tilgung und in Zinszahlungen der
mehr als 6 Milliarden Dollar Auslandsschulden, und trotzdem bleiben Rückstände, die nicht gezahlt werden können.
Hauptgläubiger sind die multilateralen Institutionen und an zweiter Stelle die im Pariser Club zusammengeschlossenen
Industrieländer.
Die Verschuldung bei privaten Gläubigern spielt in Tanzania wie bei den
anderen HIPC-Ländern kaum noch eine Rolle. Dies erklärt sich bei einer näheren Betrachtung der bilateralen Schulden, die
sich aus Entwicklungskrediten und aus Handelsforderungen zusammensetzen. Letztere resultieren aus Schadensfällen staatlich
verbürgter Liefergeschäfte des Privatsektors.
In Deutschland garantiert die "Hermes-Kreditversicherungs-AG" im
Auftrag der Bundesregierung Außenwirtschaftsgeschäfte deutscher Unternehmen. Da die Hermesbürgschaften zu
marktüblichen Bedingungen verzinst werden, ist die Belastung für die verschuldeten Länder größer als durch
offizielle Enticklungshilfegelder. Von 11,5 Millionen Mark, die Tanzania der Bundesrepublik nominal schuldet, sind 10,5 Millionen
Handelskredite, die verbliebene Million sind Kredite der Ex-DDR.
Erstmals in der Geschichte des ostafrikanischen Landes haben die internationalen
Finanzinstitutionen angekündigt, innerhalb der nächsten zwanzig Jahre insgesamt 2 Milliarden Dollar abzuschreiben. Anders als die
privaten und bilateralen Gläubiger müssen ihre Schulden jedoch refinanziert werden. Deshalb ist der "HIPC-
Trustfonds" eingerichtet worden, der sich aus Reservemitteln des IWF, der Weltbank und der Afrikanischen Entwicklungsbank speisen
soll.
Doch die Finanzierung des Trust-Fonds ist bis heute nicht gesichert. Der US-
Kongress weigert sich noch, die von der US-Regierung zugesagten Mittel auch für die anderen Länder freizugeben. Die regionalen
Entwicklungsbanken sind finanziell nicht in der Lage, ihren Anteil zu zahlen.
Fleißige Schüler
Diese unsichere
Gemengelage hält den IWF nicht davon ab, Bedingungen für die Schuldenreduzierung und weitere Kreditvergaben verbindlich
einzufordern. Die Regierung in Dar es Salaam muss sich ihrerseits gemäß der neuen Bestimmungen mit einem Strategiepapier zur
Armutsbekämpfung für die HIPC-Initiative qualifizieren.
Die tanzanische Regierung hat ihre Hausaufgaben gemacht und will am bisherigen
Kurs festhalten. Schon im vergangenen Jahr sind 80% der neuen Kredite, die in den Multilateralen Schuldenfonds (MDF) eingezahlt werden,
von der Regierung zur Begleichung des Schuldendienstes und Abzahlung von Rückständen genutzt worden, die verbleibenden 20%
gingen in die "primären Sektoren".
Neben dem Bildungs- und Gesundheitssektor zählen die Wasserversorgung,
das Rechtssystem, Straßenbau und Landwirtschaft dazu. Allerdings warnt die Regierung in ihrem Papier den IWF vor zu hohen
Erwartungen. Denn die Armut sei zu weit verbreitet und die Grundlagen für ihre Bekämpfung, die makroökonomischen
Eckdaten, müssten erst noch verbessert werden.
Dazu sollen zahlreiche Liberalisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen
beitragen, die im Anhang an das Strategiepapier mit konkreten Zeitangaben aufgelistet sind. Dazu gehört die weitere Rationalisierung des
öffentlichen Dienstes und die Privatisierung der immer noch zahlreichen staatlichen Betriebe, die schon in den vergangenen sieben Jahren
zu einem Verlust von knapp 100000 Arbeitsplätzen geführt haben.
Sämtliche Betriebe sollen der staatlichen Kontrolle entzogen werden, indem
sie "geleast, liquidiert und zergliedert" werden. Das Versicherungswesen und die National Bank of Commerce sind schon von
ausländischen Investoren übernommen worden, die möglichst bald auch Zugang zu Wertpapieren an der Börse in Dar-
es-Salaam erhalten sollen. Restriktionen auf kurzfristige Spekulationsgeschäfte will die Regierung bis 2001 aufheben.
Das "Decision-Point"-Dokument des IWF, das auf das Strategiepapier
der tanzanischen Regierung Bezug nimmt, entspricht der seit Jahren propagierten Annahme, dass nur eine stabile Makroökonomie ein
Wirtschaftswachstum durch Investitionen ermögliche, das wiederum zur Bekämpfung der Armut beitragen werde.
In dieser Reihenfolge sind auch die Prioritäten zur Reduzierung der Schulden
unter der HIPC-Initiative formuliert. Während der IWF für die Steuerpolitik, Antikorruptionsprogramme und die Privatisierung der
staatseigenen Betriebe konkrete Angaben macht, bleibt die vielgepriesene "Armutsreduzierung" im Wesentlichen darauf
beschränkt, das Problem überhaupt statistisch zu erfassen. Lediglich im Gesundheitssektor gibt es Handlungsanweisungen:
mindestens 75% der Kinder unter zwei Jahren sollen gegen Masern und Diphterie geimpft werden. Krankheiten, die wegen der oftmals
schlechten Wasserqualität weit verbreitet sind.
Im Wesentlichen verfolgt der IWF mit den neuen Vorgaben zur
Armutbekämpfung noch immer seine alten Ziele. Die sog. "Armutsbekämpfung" soll einem sozialen und
wirtschaftlichen Totalkollaps vorbeugen und die zunehmende Kritik der internationalen Öffentlichkeit beschwichtigen. Darüber
hinaus will der IWF mit der ihm eigenen Privatisierungslogik transnationalen Unternehmen die Türen zu Wirtschaftssektoren
öffnen, die bisher als Primärversorgung der staatlichen Obhut unterliegen.
Privatisierte
Grundversorgung
Explizit erwähnt der IWF die Wasserwerke Dar-es-Salaams DAWASA. Wie die Wasserversorgung in den
anderen Regionen Tanzanias sollen sie der zentralen Kontrolle zunächst entzogen und unter regionale Verwaltung gestellt werden, an der
auch private Unternehmen beteiligt sein sollen. Der IWF greift dabei durchaus das Anliegen der tanzanischen Regierung auf, eine
"adäquate Wasserversorgung für die Mehrheit der tanzanischen Bevölkerung" zu gewährleisten. Im Falle
von DAWASA legt der IWF fest, das die Wasserwerke der Hauptstadt für mindestens zehn Jahre an einen privaten Unternehmer
vermietet werden und damit betriebswirtschaftlichen Gewinnkalkulationen unterliegen.
Die Landwirtschaft, in der 90% der Tanzanier beschäftigt sind, ist als
tragender Pfeiler der Wirtschaft ebenfalls im Visier der internationalen Finanzjongleure. Exportiert werden neben Baumwolle die für
viele ehemaligen Kolonien typischen Gewürze und Genussmittel: Kaffee, Tabak, Gewürznelken und Tee.
Nachdem bisherige Anpassungsprogramme schon die staatlich garantierten
Festpreise für landwirtschaftliche Erträge aufgehoben und dadurch die Bevölkerung den Schwankungen der Weltmarktpreise
unterworfen haben, sollen nun die staatlichen Landwirtschaftsbetriebe abgewickelt und das Land zu marktwirtschaftlichen Bedingungen
gehandelt werden. Bis 2003 soll die Privatisierung abgeschlossen sein.
Bei ihren günstigen Prognosen setzen sowohl die tanzanische Regierung als
auch der IWF auf eine zügige Entwicklung der Tourismusindustrie und des Bergbaus. Tatsächlich hat in den vergangenen fünf
Jahren der Anteil nichtagrarischer Produktion am Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 5% zugenommen. Dennoch hält der Agrarsektor auch
heute noch knapp 50% des BIP.
Der prognostizierte wirtschaftliche Erfolg des IWF und die damit einhergehende
Kreditwürdigkeit Tanzanias setzten vor allem auf steigende Exporteinnahmen, die sich bis 2018 vervierfachen sollen, sowie auf eine
rasante Entwicklung des BIP um 52% allein in den nächsten zwei Jahren.
Damit soll die tanzanische Regierung in erster Linie ihre Zinszahlungen für die
Auslandsschulden aufbringen, aber auch neue Kredite finanzieren können, die in den Prognosen des IWF vorgesehen sind. Ginge die
Rechnung auf, würde Tanzania im Jahr 2018 nicht mehr zu der von IWF und Weltbank definierten Gruppe der "ärmsten"
Länder gehören.
Exogene Krisen
Doch die Prognose berücksichtigt weder nichthausgemachte
Wirtschaftskrisen, die jede exportorientierte Ökonomie hart treffen werden, noch die Möglichkeiten von Klimakatastrophen und
Trockenperioden. Im tanzanischen Wahlkampf ist dies kein Thema. Beobachter sprechen von dem "Vogel-Strauß-Syndrom"
der Regierung, die den Kopf in den Sand stecke.
Tatsächlich hatte Premierminister Frederick Sumaye vor dem Parlament
behauptet, dass die Regierungspartei CCM ihre Versprechen des 95er Wahlkampfs umgesetzt hätte. Unter anderem hatte die Regierung
eine radikale Bekämpfung der Armut angekündigt. Die Öffentlichkeit war derart empört, dass Präsident Mkapa
letztlich zugeben musste, dass die Wahlversprechen nicht umsetzbar gewesen seien. Parteifreunde bevorzugen eine härtere Gangart:
Yusuf Makamba, zuständiger Kommissar für Dar-es-Salaam, hat kürzlich die Stadt von allen "reinigen" lassen,
deren Armut das Bild der Innenstädte "befleckte": Prostituierte, Bettler und indigene Jugendliche. Während die gute
Zusammenarbeit der Regierung mit IWF und Weltbank von den Finanzinstitutionen honoriert wird, zeigt die CCM wenig Interesse, die
Empfehlungen einer Untersuchungskommission zur Korruption, die sie selbst beauftragt hatte, umzusetzen.
Dem IWF dürfte es egal sein, ob die CCM oder eine Oppositionspartei das
Rennen macht. Die finanzielle Abhängigkeikeit Tanzanias öffnet dem IWF und seinen Bedingungen noch weiter die Türen zur
Wirtschaft des ostafrikanischen Landes. Die Dezentralisierung der Verwaltung ist ein wichtiger Schritt für den künftigen Zugriff
privatwirtschaftlicher Unternehmen, der auch den Dienstleistungssektor umfassen wird.
Während die marode Energieversorgung TANESCO vor einer Freigabe noch
mit tanzanischen Geldern saniert werden soll, fordert der IWF schon jetzt die Privatisierung der Bildungseinrichtungen der Sekundarstufe, die
sich auch heute nur verhältnismäßig wohlhabende tanzanische Familien für ihre Kinder leisten können. Mit der
Verschuldung Tanzanias hat schon in den 80er Jahren eine soziale Polarisierung der Gesellschaft eingesetzt. Die "neue" Politik des
IWF wird ebenso wie die alte auch in Tanzania die Schere zwischen Arm und Reich weiter vergrößern. Die Verantwortung
dafür wird er künftig weit von sich weisen, denn immerhin hat die tanzanische Regierung unter "Beteiligung der
Zivilgesellschaft" Strategien zur Armutsbekämpfung entwickelt, die letztlich gescheitert sind.
Gerhard Klas