Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.19 vom 14.09.2000, Seite 14

Die Peripherie in der Metropole

Markus Wissen, Die Peripherie in der Metropole. Zur Regulation sozialräumlicher Polarisierung in Nordrhein-Westfalen, Münster 2000, 48 Mark.

Auf der EXPO in Hannover warben Vertreter der Chemie-Industrie, der Emscher-Lippe-Region in Nordrhein- Westfalen sowie der IG Bergbau, Chemie und Energie um die Ansiedlung neuer Betriebe unter dem Stichwort "New Park". Damit ist die Bereitstellung von zusammenhängenden Flächen, Arbeitskräften, Betriebszeiten, steuerlichen und tariflichen Sonderbedingungen und Umweltauflagen durch die öffentlichen Hände der Region gemeint, um Industrie und Handwerk anzulocken.
Ebenso wurde bekannt, dass die Industrie- und Handelskammer Münster sich für die Ansiedlung eines BMW-Werks im Kreis Recklinghausen auf einer großen bisher landwirtschaftlich genutzten Fläche stark macht, und dort vor allem den Straßenbau dafür bereitstellen will.
Das sind genug Stichworte, um mit Markus Wissen anhand eines neuen Buches über "die Unwirksamkeit von Strukturpolitik" nachzudenken. Strukturpolitik ist ein Bündel von Maßnahmen, mit dem die bürgerliche Staatswissenschaft und viele Politiker behaupten, den Problemen der Arbeitslosigkeit beikommen zu wollen. Die Bewohner des Ruhrgebiets haben es seit langer Zeit am eigenen Leib erfahren, wie wenig dabei herum kommt: seit 1958 gibt es Bergbaukrisen, seit 1976 Stahlkrisen, seit einigen Jahren Abbau der Arbeitsplätze in der Chemie, dem Automobilbau, seit neustem in der Energiewirtschaft, und die Arbeitslosenquoten verharren auf hohem Niveau.
Markus Wissen, der vor einiger Zeit über die Strukturprobleme des nördlichen Ruhrgebiets u.a. für die SoZ geschrieben hat, legte nun seine Dissertation zu der Wirkung von Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen vor. Dafür bekam er den Doktortitel verliehen, und seine Dissertation erschien unter dem Titel Die Peripherie in der Metropole. Zur Regulation sozialräumlicher Polarisierung in Nordrhein-Westfalen beim Verlag Westfälisches Dampfboot in Münster*.
Wer angesichts des Titels und des wissenschaftlichen Apparats im Buch erst mal schlucken muss, sei auf die Kapitel 3 und 4 verwiesen, um das Thema von der praktischen Seite her kennenzulernen. Anhand der zahlreichen Maßnahmen und Strukturprogramme der sozialdemokratischen Landesregierungen seit 1966 erläutert der Autor die Strukturpolitik des Landes Nordrhein-Westfalen angesichts zunehmender Arbeitsplatzverluste bei der nach wie vor dominierenden Montanindustrie. Er lässt die sozialen Konflikte z.B. um Hattingen und Rheinhausen aufleben, um darzulegen, wie sich die sozialdemokratische Regierungspolitik "durchgewurstelt" hat, um politische Zustimmung nicht zu verlieren.
Hinzu kommt die zunehmende Abhängigkeit landespolitischer Entscheidungen von dem europäischen Einigungsprozess, der zu weiteren Eingriffen führt, die im Interesse der "Globalisierer" unter den Konzernen wirken. Die VEBA und die Ruhrkohle, Thyssen und Krupp sind einerseits die bedeutendsten Arbeitsplatzvernichter, andererseits die entscheidenden Mitmischer beim Subventionspoker.
Die These des Buches, dass selbst eine weitere Regionalisierung und Einbeziehung der regionalen Wirtschaft, der Gewerkschaften oder Kommunen in die Planung von Strukturpolitik kaum Wirkung bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und sozialer Polarisierung zeigen, belegt Markus Wissen anhand der Ergebnisse der Strukturpolitik in der Emscher-Lippe- Region. "New Park", "Chem-Site", "Gründeroffensive" und wie die Projekte heißen: die Wirkung von Strukturpolitik liegt "in der Organisierung des privatwirtschaftlichen Muddling Through (Durchwursteln) bzw. … je stärker sich der Widerspruch zwischen Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Stabilität zuspitzt - in der krisenregulierenden Bearbeitung der Folgeprobleme ökonomischer Restrukturierung".
Der Autor kritisiert Vorstellungen, der Staat könne eine "verständigungsbasierte Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung" schaffen, angesichts der wirtschaftlichen Übermacht etwa solcher Konzerne wie VEBA oder RAG und der politischen Verflechtungen zwischen regionalen Unternehmen, Angestellten der Konzerne, politischen Entscheidungsträgern und Gewerkschaftsvertretern, die sich dem Diktat der Wettbewerbsfähigkeit unterwerfen.
Dass eine politökonomische Dissertation kein "leichter" Lesestoff ist, muss wohl nicht betont werden. Wer es trotzdem wagt, lernt einiges über die Politik, die in Nordrhein-Westfalen seit Jahrzehnten gemacht wird. Das Buch ist ein Beitrag zu den Diskussionen um staatliche Regulation unter den Bedingungen der Globalisierung und von europäischen Institutionen.
Markus Wissen sieht sich dabei in der Tradition marxistischer Staatsanalyse und macht mit seinem Buch deutlich, dass "die Möglichkeiten, unter den gegebenen institutionellen Bedingungen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen über den Staat die sozialräumliche Entwicklung solidarisch und ausgewogen zu gestalten … äußerst gering" sind. Darin sieht er gerade eine "Herausforderung emanzipatorischer gesellschaftlicher Kräfte außerhalb der staatlichen Apparate und einer kritischen Sozialwissenschaft".

Rolf Euler


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