Sozialistische Zeitung |
Bis vor einem halben Jahr versuchte an der Börse jeder auf den Zug aufzuspringen, der in Richtung Internet unterwegs
war. Mittlerweile droht der jungen Online-Wirtschaft eine Pleitewelle. Jetzt steht die Internetbranche bei den Investmentbankern auf dem Prüfstand.
Unsere Zeit ist schnelllebig, das Gedächtnis vieler Zeitgenossen von niedriger Halbwertszeit.
Heute ist aus den Augen und aus dem Sinn, was vor etwas mehr als sechs Monaten die Gemüter in Wallung versetzte: der Höhenflug der
Internetfirmen, der "Dotcoms" an den Börsen. Mittlerweile ist aus der Spekulationsblase viel Luft entwichen. Seit Monaten fallen die
Börsenkurse der "Dotcoms". Der Nemax 50, der Index der 50 bedeutendsten Titel am Neuen Markt, sackte seit März von 9600 auf
6200 Punkte ab. Die Internet-Euphorie hat sich verflüchtigt. In den USA gelten "Dotcoms" als "megaout". Amerikanische
Internetfirmen sehen mittlerweile das "Dotcom" Kürzel als Gefährdung für ihren Geschäftserfolg an. Sie streichen es aus
ihrem Firmennamen. Experten sagen nun der Branche eine Pleitewelle voraus.
Eine Studie der Wirtschaftsprüfer Pricewaterhouse-Coopers kündigt an, dass in
Deutschland im Laufe der nächsten drei Jahre ein Drittel der am Neuen Markt notierten Internet- Firmen die Luft ausgehen wird. Mit Blick auf die US-
Branche warnt das Forrester-Institut, dass bis Ende nächsten Jahres die Mehrheit der Online-Firmen verschwunden sein wird: aufgekauft,
ausgeschlachtet oder schlicht abgewickelt (Spiegel, Nr.27, 2000).
Jede Woche werden dort einstmals hochgejubelte Web-Seiten abgeschaltet. Beschäftigte von
Internet-Start-Ups bekommen ihre "pink slips", wie die Entlassungspapiere wegen ihrer rosa Färbung genannt werden. Auch einstige Stars
der Szene sehen mittlerweile ziemlich gerupft aus. Beispiel Amazon: Das Online-Kaufhaus musste einen dramatischen Kurssturz hinnehmen. Inzwischen wird
der einstige Börsenstar auch von den Investment-Banken sehr kritisch betrachtet. Die US-Investmentbank Lehman Brothers attestiert Amazon eine
"schwache Bilanz" und einen "negativen operativen Cashflow".
Diese Dinge waren auch schon zu jener Zeit bekannt, als Amazon zur Vorzeigefirma der Internetbranche
hochgelobt wurde. Denn auch im Jahre 1999 und Anfang 2000 schrieb das Unternehmen rote Zahlen: 700 Millionen US-Dollar bei 1,6 Milliarden Umsatz. Bei
den meisten anderen Internet-Start-Ups sah es ähnlich aus. Mehr als 90% von ihnen machten keine Gewinne. Aber solange die Kurse stiegen, war die
Welt in Ordnung. Der Finanzbranche waren plötzlich jene Bewertungskriterien nicht mehr wichtig, die man sonst lautstark in die Welt trompetete:
kompetentes Management, herausragende Marktstellung, profitables Kerngeschäft.
Bei den Internet-Start-Ups schien allein die gut erzählte Story auszureichen, um Geld
einzusammeln. Wer, wie ein nicht namentlich vom Spiegel genannter Internetunternehmer, behauptete: "Ich zahle bei jedem Geschäft drauf, aber
die Menge machts" wurde von der "Fachwelt" nicht als armer Irrer mitleidig belächelt. Er galt eher als Visionär.
Flops und Visionen
Investmentbranche und Anlageberater hatten auch wenig Grund, allzu genau zu sein. Sie waren neben den Internet-Unternehmen selbst die
größten Profiteure des Höhenflugs. In der Augustausgabe des Manager-Magazins erfährt mensch warum:
Die Emissionsbanken kassieren zwischen 4 und 6% des Werts der platzierten Aktien als
Provision. Allein 1999 waren das schätzungsweise 650 Millionen Euro.
Risikokapital-Gesellschaften machen beim Börsengang der jungen Unternehmen
kräftig Kasse. Im vergangenen Jahr stellten die rund 150 in der BRD tätigen Risikogesellschaften etwa 3,2 Milliarden Euro Risikokapital zur
Verfügung. Branchenkenner schätzen die Durchschnittsrendite dieser Beteiligungen auf 30%.
Die Fondsgesellschaften haben mit ihren Neue-Märkte-Fonds wahre Renner entwickelt.
Seit 1999 sammelten sie von Privatanlegern rund 1,8 Milliarden Euro und zogen von dem Anlegergeld gleich beim Kauf etwa 5% Ausgabeabschlag ein.
Eine ganze Heerschar von Dienstleistern darf sich außerdem zu den Gewinnern des
Booms zählen: Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, die Zahlen und Fakten der Newcomer checken sollen, PR-Berater und
Werbeagenturen produzieren Anzeigen und Werbespots in Serie, Emissionsberater arbeiten Businesspläne aus und helfen bei der Wahl der
Emissionsbanken, Analysten schreiben und verkaufen Research-Studien über die Börsenneulinge.
Für die Branche galt: Je größer die Zahl der Börsenkandidaten, desto
schöner klingelt die Kasse. "Kein Analyst durfte damals die Wahrheit sagen, weil die Investmentbanken Angst hatten, dann nicht an den
Geschäften teilzuhaben" wird Joan Lappin, Präsident der amerikanischen Fondsfirma Gramercy Capital, vom Spiegel 27/2000 zitiert.
Anlegerfallen
Mit den fallenden Kursen der "Dotcoms" sprudeln diese einträglichen Einnahmequellen für die Finanzbranche
spärlicher. Damit entfällt der Grund, über bestimmte "Ungereimtheiten" bei der Geschäftsperformance der
"Dotcoms" großzügig hinwegzusehen. Plötzlich werden an die "Dotcoms" wieder jene Kriterien angelegt, die
vorher als überholt bezeichnet wurden. Jetzt erst fällt der Wirtschaftswoche auf: "Zu häufig … sind die Gründer der ersten
Generation den Nachweis schuldig geblieben, dass sie tragfähige Konzepte haben, die auch Gewinne abwerfen."
Der eigenen (finanzkräftigen) Leserschaft wird nun als vermeintlich neue
Hintergrundinformation enthüllt, was zumindest den klügeren Köpfen in den Redaktionsstuben der Wirtschaftspresse wohl längst
bekannt war, aber wegen möglicher Geschäftsschädlichkeit unter Verschluss gehalten wurde. "Gründer tricksen, um an das
Geld von Investoren zu kommen, mit allerlei Versprechungen puschen Vorstände ihre Kurse", so die Wirtschaftswoche.
In der August-Ausgabe des Manager-Magazins findet sich ein neunseitiger Enthüllungsartikel
über die dubiosen Praktiken der einstmals gefeierten Lieblinge. "Die Anlegerfalle", lautet der Titel. "Neuer Markt: Falsche
Prognosen, leere Versprechungen, geschönte Bilanzen die Chefs junger Unternehmen greifen zu immer dreisteren Tricks, um an der Börse
schnell Geld einzusammeln", heißt es in diesem Beitrag. Zum Beispiel sei bei den Internet-Unternehmern der Typus des "Blenders"
weit verbreitet, der durch sintflutartige Verbreitung von Positivmeldungen die Anleger täuscht.
Als ein Beispiel wird u.a. der Fall des Softwarehauses Abit aus Mehrburg bei Düsseldorf
aufgeführt. Dessen Gründer, Andreas Zehmisch, hatte seit Ende März, als die Kurse weltweit unter Druck gerieten, seine Aktionäre
nahezu im Wochenrhythmus mit Erfolgsmeldungen über neue Kooperationspartner und Übernahmen bei Laune gehalten. Erst Mitte Juni, vier
Monate nach dem Börsengang, folgte das kleinlaute Eingeständnis, dass es noch nicht gelungen sei, aus dem Internetauftritt Erträge zu
erwirtschaften. Nach dieser Meldung verlor die Aktie fast 90 Prozent ihres Wertes gegenüber dem Höchststand Ende Februar.
Weit verbreitet ist in der Branche offenbar auch das Sich-Reich-Rechnen mittels einer Zahlenakrobatik
am Rande der Legalität, bisweilen auch jenseits derselben. "Um der Blamage durch die Börse zu entgehen, werden Abschreibungsmethoden
geändert, Umsätze verschoben und Ergebnisse geschönt", schreibt im Juni die Wirtschaftswoche.
Welche Ausmaße die kreative Bilanzierung annehmen kann, zeigt das Manager-Magazin am Fall
der Firma "TeleAtlas". TeleAtlas-Chef Alain de Taeye polierte zusammen mit seinem Finanzvorstand die Bilanz kräftig auf, um bei den
Anlegern gut anzukommen. Seine Methode: Selbst programmierte Datenbanken und andere Eigenentwicklungen im Wert von 32 Millionen Euro verbuchte er
als Vermögenspositionen. Auf diese Weise reduzierte der Anbieter für digitale Straßenkarten seinen Verlust von 60 auf 27 Millionen Euro.
Nachdem die Sache aufflog, sank der Börsenwert von Tele Atlas auf 30% des Ausgabewerts.
Was hier plötzlich als besonders verwerflich angeprangert wird, dürfte wohl in den
meisten Unternehmen, nicht nur bei denen der "New Economy", allgemein üblich sein. Solange diese Methoden zum Erfolg des
Unternehmens führen, nimmt in Kapitalkreisen daran niemand Anstoß. Erst im Falle des Misserfolgs werden diese Methoden ruchbar.
Die Moral von der Geschicht
Ebenso wie der irrationale Höhenflug der Börsennotierungen der "Dotcoms" haben sich auch viele der in seinem Gefolge
kolportierten Theorien über die angeblich völlig neuen Wirkungsgesetze der "New Economy" als Seifenblasen erwiesen. Die
Wiederentdeckung der "alten Tugenden" (Daimler-Chef Schrempps "Profit, Profit, Profit") für die neue Ökonomie zeigt:
Es ist eben nicht so, dass in der "New Economy" nur noch kreative Ideen zählen und der Profit als oberstes Kriterium kapitalistischen
Handelns passé ist. Ebensowenig kann davon die Rede sein, dass jetzt nur noch Schnelligkeit und nicht mehr Kapitalmacht von Bedeutung ist.
Das räumt im Spätsommer ganz beiläufig auch der Spiegel ein, der vor Jahresfrist
noch ganz anders getönt hatte. "Firmen, die nicht schnell mehr als 20 Millionen Dollar machen, werden nach Berechnungen von Analysten schon
bald vom Markt verschwinden, weil ihnen die nötige Finanzkraft fehlt, um mit Werbung und Service einen zugkräftigen und unverwechselbaren
Markennamen aufzubauen."
Wir erleben momentan eine Konzentrationswelle, wie sie in der Geschichte des Kapitalismus nicht
ungewöhnlich ist. Auch die Wirtschaftswoche kann sich dieser Erkenntnis nicht verschließen. "So gibt es zwischen der
Technologiehysterie und der Aufbruchsstimmung Mitte des 19.Jahrhunderts erstaunliche Parallelen: Als mit der Eisenbahn ein revolutionär neues
Transportmittel nutzbar wurde, sah es in Amerika und Europa so aus, als seien für das Wirtschaftswachstum die Grenzen der Schwerkraft außer
Kraft gesetzt. Bald schäumte der Optimismus über, es kam wie es kommen musste … Auf Euphorie folgte Ernüchterung, das
Investitionsvolumen brach schlagartig ein, die gesamte Wirtschaftsleistung erhielt kräftige Dämpfer."
Für Menschen, die sich vom ideologischen Nebel der Wirtschafts-PR-Leute nicht den Verstand
vernebeln lassen, kommen die neuen und sensationell aufgemachten Enthüllungen der Lautsprecher des Wirtschaftsjournalismus nicht
überraschend. Blamiert sollten eigentlich jene großspurigen Apologeten des Kapitalismus sein, die noch vor einem halben Jahr tönten, die
"New Ecomony" habe mit dem Kapitalismus herkömmlicher Prägung nichts mehr gemein. Ihre aktuellen Enthüllungen zeigen,
dass das, was sie selbst vor einem halben Jahr als der Weisheit letzter Schluss in die Welt posaunten, kompletter Unfug war.
Die wirklich Leidtragenden der Krise der Internet-Start-Ups sind vermutlich viele Beschäftigte
in der Branche. Denn entgegen den allgemein genährten Mythen findet man in der modernsten Branche oft Arbeitsbedingungen wie im vorigen
Jahrhundert: 60-Stunden-Woche, ungeregelte Beschäftigung, Scheinselbständigkeit, kein tariflich gesicherter Urlaub usw. und das bei
keineswegs hohen Gehältern. Eine Studie der New York New Media Association von 1999 ergab, dass z.B. ein Beschäftigter in New Yorks
Multimedia- und Internetbranche jährlich 37.212 US-Dollar verdient angesichts der horrenden Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen ein
Niedriglohn in einer der teuersten Städte der Welt.
In der Vergangenheit konnten Beschäftigte dennoch hoffen, schnell reich zu werden
dank der scheinbar grenzenlos steigenden Aktienkurse "ihrer" Firmen. Diese Hoffnungen sind jetzt geplatzt. Vor einem Jahr gab es kaum eine
Ausgabe von einschlägigen Presseorganen ohne Portraits solcher Mitarbeiter, die dank Aktienanteilen an ihren Firmen zu Millionären wurden.
Es wäre interessant zu erfahren, was aus ihnen geworden ist.
Franz Mayer
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