Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.21 vom 12.10.2000, Seite 7

Die Krise der Parteien:

Politikverkauf statt Interessenvertretung

Die Krisenphänomene sind unübersehbar: Den etablierten Parteien laufen die Mitglieder und — zumindest bei weniger bedeutsamen Wahlen — die Wähler und Wählerinnen davon. Seit etwa 15 Jahren macht das Wort von der "Politikverdrossenheit" Karriere. 1992 wurde es sogar zum geflügelten Wort des Jahres gekürt; bei genauerer Betrachtung handelt es sich aber beim Missmut vieler Bürger über die Politik vor allem um eine "Parteienverdrossenheit". Lässt man die üblichen konjunkturellen Schwankungen einmal außer Betracht, so kann man für die Bundesrepublik festhalten, dass es in den 90er Jahren zu einem beträchtlichen Absturz der Parteien in der Gunst der Bevölkerung gekommen ist. Besonders unter jungen Leuten ist die Anti-Parteien- Stimmung und die Unlust, sich parteipolitisch zu engagieren, weit verbreitet.
Im Unterschied zu den "Verfassungsorganen" wie etwa dem Bundestag, dem Bundespräsidenten oder gar dem Karlsruher Verfassungsgericht, die regelmäßig in Umfragen mit vergleichweise hohen Zustimmungsraten rechnen können, ist das Vertrauen in Parteien und "Politiker" in den letzten Jahren immer weiter zurückgegangen. Zeitweilig gaben weniger als 10% der Befragten an, noch Vertrauen ins "Politikangebot" zu haben. Es gibt also ein eigenartiges Missverhältnis zwischen einer starken Zustimmung zur bürgerlichen Demokratie und dem Unbehagen in die Organisationen, die laut Grundgesetz bei der "Herausbildung des Volkswillens" entscheidend mitwirken sollen.
Besonders bei jüngeren Menschen bis dreißig findet sich mittlerweile eine weitverbreitete Distanz zu Parteien und darüber hinaus auch allgemein zur Politik, wie sie in den verschiedenen Studien (z.B. Shell-Studien) immer klarer zum Vorschein kommt. Der Politikbetrieb "nervt" und gilt bei der großen Mehrheit der Jugendlichen als weit abgehoben vom "wirklichen Leben". In den 80er und zu Beginn der 90er Jahre lag der Prozentsatz der 15- bis 24-Jährigen, die angaben, sich für Politik zu interessieren, jeweils bei zwischen 55 und 60%; in der letzten Studie (von 1998/99) war dieser Prozentsatz auf 43% gefallen. Zieht man die beiden Studien des Deutschen Jugendinstituts (DJI) von 1992 und 1997 heran, dann besteht unter den 16- bis 29-Jährigen nur bei etwa 20% ein starkes bzw. größeres Interesse an Politik, wobei dieses Interesse im östlichen Anschlussgebiet noch deutlich weniger ausgeprägt ist.

Musik der Ökonomie

In den Antworten auf die Fragen nach den Ursachen für mangelnde politische Interessiertheit und Engagement tauchen immer wieder zwei Grundelemente auf: Einerseits bestehen sehr starke Tendenzen, die Steuerungsfähigkeit und Entscheidungskompetenz der Politik anzuzweifeln und anzunehmen, dass "die Musik" in der Ökonomie gespielt werde. Der Siegeszug des Neoliberalismus, zu dem es scheinbar keine grundlegende Alternative gibt, hat für eine weite Verbreitung dieser Vorstellung gesorgt.
Viele junge Leute beschäftigen sich mehr mit Computer und Internet oder gründen gar Firmen in der "neuen Ökonomie", als sich auf eine Ochsentour in den erstarrten Altparteien zu machen oder sich in den Reststrukturen der sozialen Bewegungen zu engagieren. Andererseits gibt es auch eine zunehmende Entfremdung und Frustration, keine Eingriffsmöglichkeiten finden zu können, um die Entscheidungen der etablierten Politik zu beeinflussen oder gar zu ändern. Das Ende der Grünen als einer "Bewegungspartei" hat maßgeblich zu dieser Lage beigetragen.
Die Aussage der DJI-Studie: "Ich glaube nicht, dass sich die Politiker viel darum kümmern, was Leute wie ich denken", wurde im Westen 1992 von 77% und 1997 von 75%, im Osten sogar von 81% bzw. 83% der Befragten für zutreffend gehalten. Ähnliche Anteile der Zustimmung ergaben sich bei Aussagen wie: "Leute wie ich haben so oder so keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut", oder: "Politiker sind doch nur daran interessiert, gewählt zu werden, und nicht daran, was die Wähler wollen".
Im Unterschied zur Zeit nach 1968, als politisches Engagement populär war und Rudi Dutschkes Diktum "Geschichte ist machbar", also Politik von unten gestalt- und veränderbar, von Vertretern unterschiedlicher politischer Richtungen als im Prinzip richtig angesehen wurde, ist im Zeitalter der Globalisierung das Vertrauen in die politischen Gestaltungsmöglichkeiten generell, vor allem aber bei jungen Leuten bis dreißig, auf einem Tiefpunkt angekommen. Jugendliche möchten sich durchaus engagieren, doch gefragt sind zumeist schnelle Erfolgserlebnisse und Spaß. Daher kommt es immer wieder zu politischen Initiativen und Aktivitäten, die aber ohne langfristiges Engagement über den Tag hinaus wenig bleibende Resultate zeitigen, weil die organisatorischen Strukturen nach dem "event" wieder zerfallen.
Neben einer allgemeinen Unzufriedenheit mit der etablierten Politik gibt es natürlich zahlreiche weitere Gründe, weshalb die Anhänger unterschiedlicher politischer Richtungen gerade von "ihrer" Partei enttäuscht sind. In besonderem Maße gilt dies für viele und häufig den engagiertesten Anhängern von "Rot-Grün", die sich mit dem Regierungswechsel 1998 zumindest den Ansatz eines "Politikwechsels" nach der bleiernen Kohl-Zeit versprochen hatten.

Unbefriedigte Wählergruppen

Traditonell ist der Erfolg sozialdemokratischer Politik von einem ordentlichen Wirtschaftswachstum abhängig, womit gewisse Verteilungsspielräume eröffnet werden, die zumindest zu einer teilweisen Befriedigung der verschiedenen Wählergruppen, vor allem aber der Stammwählerschaft, den "Arbeitnehmern" genützt werden können. Wenn durch die zyklischen Krisen des Kapitalismus die Spielräume enger werden oder verschwinden, weil dem Kapital die Erhaltung oder der Aufschwung der Profitrate wichtiger ist als "soziale Wohltaten" und es insbesondere die disziplinierende Wirkung" der Krise auf eventuelle Forderungen der Arbeitenden kennt, dann wird es für sozialdemokratisch geführte Regierungen kritisch: Die Epoche des "mehr Demokratie Wagens" von Willy Brandt war mit der Weltwirtschaftskrise 1973/74 zu Ende.
Der zweite Konjunktureinbruch Anfang der 80er Jahre brachte den Sturz des SPD-Kanzlers Schmidt; Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff von der FDP hatte mit dem nach ihm benannten Papier eine klare neoliberale Wende mit massiven Einschnitten ins soziale Netz verlangt, die Schmidt in dieser Härte nicht akzeptieren konnte, wollte er nicht einen massiven Konflikt mit den Gewerkschaften und der SPD- Stammwählerschaft riskieren. Daher sprang die FDP unter Führung von Genscher ins Bett der CDU/CSU und wählte Kohl zum Kanzler.
Man braucht kein Prophet zu sein, um zu erkennen, dass der Fortbestand von "Rot- Grün" entscheidend von der konjunkturellen Entwicklung abhängig ist, diese Regierung also einen stärkeren Konjunktureinbruch nicht überleben würde. Sollte Schröder deutlich Stimmen in der klassischen "Arbeitnehmer"-Wählerschaft verlieren, würde ihn auch die Zustimmung der modernisierten Aufsteiger der "neuen Mitte" nicht retten. Der Anstieg des Ölpreises und die Aktionen der von der Union in billigem Populismus unterstützten Bauern- und Lkw-Lobby haben bereits zu kräftigen Dissonanzen im Regierungslager geführt und zeigen einmal mehr, auf welch schwankendem Grund sich diese Regierung bewegt.
Entgegen den Versprechungen vor den Wahlen startete Rot-Grün mit einem neuen Sparpaket zur Sanierung des Haushalts, das Einschnitte für die vielen brachte, mit einer Steuerreform, die die allgemeine Tendenz des größer werdenden Abstands zwischen Gewinnern und Verlierern im Globalisierungsprozess noch unterstützt, in dem es z.B. Betriebsveräußerungen steuerfrei stellt, und derzeit mit einer Rentenreform, die durch teilweisen Übergang vom Umlageprinzip auf das Kapitaldeckungsverfahren die Belastung einseitig auf die Versicherten verschiebt und die Kapitalseite entlastet.
Es handelt sich um ein neoliberales Programm, das die sozialen Härten durch Stützungsmaßnahmen (Erhöhung Kindergeld, Entfernungspauschale, Zuschüsse zum Wohngeld) abzufedern trachtet, insgesamt aber den "Standort Deutschland" "modernisieren", also auf Vordermann bringen möchte. Man braucht sich daher nicht zu wundern, wenn aufgeklärte Unternehmervertreter, etwa der Chefökonom der Deutschen Bank, Walther, sich durchaus lobend über die "Leistungen" der neuen Regierung äußern.

Politikverkäufer

Die Enttäuschungen zahlreicher Sozialdemokraten und Grüner über das erste Regierungsjahr der Regierung Schröder/Fischer und über die Bedenkenlosigkeit, mit der "unverrückbare Grundsätze" über Bord geworfen wurden, führten bekanntlich zu herben Niederlagen bei den Europawahlen sowie den Landtagswahlen in Hessen, Thüringen und dem Saarland. In diesen Wahlen blieben viele Stammwähler von Rot-Grün den Urnen fern, so dass es durch die stärkere Mobilisierung des rechten Lagers (gegen "die Ausländer", man braucht ja ein Feindbild) zu neuen Mehrheitsverhältnissen kam.
Ähnlich erging es übrigens der Regierung Brandt/Scheel in den Jahren 1970/71, allerdings in einer Situation erheblicher gesellschaftlicher Politisierung und auch Polarisierung, die wesentlich durch die neue Ostpolitik hervorgerufen wurde.
Im Gegensatz zu Brandt, in dessen Regierungszeit hunderttausende, vor allem junge Leute in die SPD eintraten, hat die Schröder-SPD und -Regierung keinerlei über den Tag hinausreichende programmatische Vision. "Rot" und "Grün" gewinnen daher auch keine Mitglieder mehr.
Die prekäre Lage der rot-grünen Koalition änderte sich schlagartig mit der Aufdeckung des CDU-Spendenskandals seit November 1999, der zu einer tiefen politischen und personellen Krise und der Ersetzung der wichtigsten Führungsmitglieder der Union führte. Diese Krise gleicht in vielem der Krise der Union zwischen 1969 und 1973, als die "ewige Regierungspartei" CDU von der Regierung verdrängt wurde und heftige innere Auseinandersetzungen zu überstehen hatte, bis die alte Führung um Kiesinger und Barzel abgehalftert war und Kohl sich zum unbestrittenen Parteichef emporgeboxt hatte.
Auch die heutige Parteiführung, wiewohl aufgrund aus dem Spendenskandal resultierender Zwänge runderneuert, ist eine auf Abruf, denn die Zahl derer, die den Fraktionsvorsitzenden Merz für überfordert und die "Ossifrau" Merkel als für eine autoritative Führung zu schwach halten, steigt schon jetzt. Die Skandale der Union haben die gesetzestreuen oder "moralisch denkenden" Anhänger zutiefst verunsichert. Der strahlende "Kanzler der Einheit" ein mafia- artiger Pate — der Schock in der christlichen und konservativen Wählerschaft, besonders bei den ihr treuen älteren, sitzt tief. Sofern überhaupt noch junge Leute in die Union eintreten, benutzen sie die Partei als Sprungbrett und Sicherheitsnetz für die eigenen Karriereabsichten.
Der fast vollständige Zerfall klassischer Wählerbindungen besonders bei jungen Leuten bringt in einer Zeit zerbrochener oder fehlender Utopien einen neuen Typus von Politiker hervor: den Politikverkäufer. Inhaltlich bietet er das, was der opportunistische Zeitgeist gerade verlangt, also in den unzähligen Fernsehkanälen an den Mann oder die Frau gebracht wird, ansonsten geht er mit dem (eroberten oder gewünschten) Marktanteil hausieren: Bei Möllemann und Westerwelle sind es die berühmten 18%.
Ein im Sonnenstudio gebräuntes Antlitz oder eine sportliche Anstrengung machen sich immer gut, und die Anzüge müssen natürlich von einem Mailander oder Pariser Modehaus stammen, wie beim Kanzler und seinem grünen Adlatus. Was zählt, ist die "performance". Noch ist aber nicht ausgemacht, dass die marktschreierische Verpackung die Unwirtlichkeit der Verhältnisse langfristig zudecken kann.

Paul Kleiser

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