Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.21 vom 12.10.2000, Seite 10

Ist die Parteiform noch aktuell?

Thesen zu einer schwelenden Diskussion



1. Parteienschelte ist modern.

Die Unzufriedenheit über die sozialen und politischen Verhältnisse entlädt sich in erster Linie gegen die Politik und gegen die Parteien als Repräsentanten der Politik. Sie sind der Blitzableiter, denn sie stehen im Rampenlicht der Öffentlichkeit und treffen die Entscheidungen; mindestens aber setzen sie Entscheidungen Dritter, der Wirtschaft nämlich, in politisches Handeln um.
Das ist nicht immer gerechtfertigt, denn die Parteien (die Politik) handeln in vielen Fällen nicht aus eigener Machtvollkommenheit heraus, sondern agieren als Vermittler in einem Dreiecksverhältnis zwischen Bürgern, Staat und Wirtschaft. Darin sind sie nicht neutral, sondern — vor allem in Regierungsposition — häufig die Büttel der Wirtschaft. Die undifferenzierte Parteienschelte vergisst aber oft, dass die wirkliche gesellschaftliche Macht bei den Unternehmern sitzt, deren Willen Regierungen und Parteien exekutieren. So passiert es den Parteien/ der Politik, dass sie die Schelte für andere abkriegen — jüngstes Beispiel ist die Debatte um die Ökosteuer, wo die Regierungsparteien dafür gescholten werden, dass die Mineralölkonzerne die Benzinpreise heraufgesetzt haben.
Die Parteien sind aber auch selber schuld daran, dass sich mehr und mehr Bürgerinnen und Bürger von ihnen als Mitglieder und WählerInnen abwenden. Ihr Sündenregister sei hier auf vier Elemente konzentriert:
die Korruption, das ist der Filz zwischen Partei, Wirtschaft, öffentlichem Dienst und privaten Vereinen;
die Aushöhlung der innerparteilichen Demokratie und die zunehmende Entfernung der Parteispitzen und Mandatsträger von den Mitgliedern und deren Wunsch nach Mitgestaltung;
die Machtbesessenheit, das ist die zunehmende Konzentration der Parteien auf die Besetzung von Posten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft auf Kosten gesellschaftspolitischer Orientierungen, die an den Sorgen und Bedürfnissen der Mitglieder und WählerInnen ansetzen;
die programmatische Austauschbarkeit, das ist die zunehmende Unterordnung der Parteien unter die neoliberale Doktrin und das Diktat der Unternehmerverbände.
Diese Kritikpunkte treffen auf alle im Bundestag vertretenen Westparteien zu, der zweite und der dritte Punkt auch auf die PDS.

2. Parteienschelte ist gefährlich.

Das Schimpfen auf die Parteien/die Politik ist — zumindest wenn es so undifferenziert vorgetragen wird — Ausdruck einer gesellschaftlichen Entpolitisierung, die die Parteien allerdings selbst befördert haben.
Es führt in aller Regel nicht zu anderen Formen der Einmischung der Bürger in die Politik, sondern zu gar keiner Einmischung mehr, zum Rückzug aus der Politik bzw. zur Abwendung von derselben. Eine Folge ist, dass politische Macht immer weniger kontrolliert wird; eine andere, dass Raum für politische Demagogen und Rattenfänger aller Art entsteht: Millionärsparteien, die im Namen des Kampfes gegen Parteienfilz und Korruption politischen Einfluss zu erhaschen suchen, den sie gewinnbringend für ihre Geschäfte einsetzen können; rechte und extrem rechte Parteien, die die soziale und politische Unzufriedenheit in antidemokratische und autoritäre Kanäle zu lenken suchen. Auch Spaßkandidaturen und die Vervielfältigung von Ein-Punkt-Kandidaturen sind eine Reaktion auf die sog. Parteienverdrossenheit.
Die Abwendung von den Parteien — vor allem von den sog.Volksparteien, wozu neben CDU/CSU und SPD in Ostdeutschland auch die PDS zu zählen ist — schafft ein politisches Vakuum, das gefüllt werden will. Wenn es nicht von links gefüllt wird, dann von rechts.

3. Parteien haben ein demokratisches Potenzial.

Jedes Gemeinwesen, das eine Staatlichkeit aufzuweisen hat, kennt Parteien. Sie reflektieren die soziale Schichtung und grundlegende Interessenwidersprüche. Sie reflektieren aber auch einen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung, in dem politische Strukturen und politischer Einfluss nicht mehr über Verwandtschaftsbeziehungen (Familie, Clan) und persönliche Abhängigkeiten (Lehnsherrschaft und Vasallentum) geregelt werden, sondern auf der Basis einer Staatsbürgerlichkeit.
Die Herausbildung von Parteien ist eng an die von Parlamenten — im Gegensatz zu Gerichtstagen, Reichstagen, Ständevertretungen — gebunden, damit an die Herausbildung des neuzeitlichen Staates.
Parteien spielen darin eine Mittlerrolle zwischen den Gesellschaftsschichten, die sie vertreten, und den staatlichen Institutionen. Ihr Gegenstand ist die Besetzung politischer Machtinstitutionen, um Einfluss auf die Ordnung des Gemeinwesens und die Verteilung der Ressourcen zu bekommen.
Daran ist an sich nichts Verwerfliches; solange es Staaten gibt, solange gibt es einen Kampf um politische Macht. Die Frage ist, mit welchem Interesse und welchem Ziel dieser Kampf geführt wird. Selbst die Abschaffung des Staates muss sich noch des Staates bedienen (wie im Übrigen der Marsch in den neoliberalen "schlanken Staat" sehr schön zeigt). Jedenfalls wird man das Problem nicht dadurch lösen, dass man es links liegen lässt.
Die Mittlerrolle der Parteien funktioniert prinzipiell (also abstrakt gesehen) in zwei Richtungen: vom Staat in die Gesellschaft und von der Gesellschaft zum Staat. In einer republikanischen Verfassung oder in einer parlamentarischen Demokratie ermöglichen die Parteien breiteren Gesellschaftsschichten eine Mitwirkung an der Bestimmung der politischen Ziele und an politischer Einflussnahme. Dies ist allerdings nur eine Möglichkeit; gerade dieser Punkt — die Partizipation der Bürger an der politischen Willensbildung über die Parteien — ist starken Veränderungen unterworfen.
Die demokratischste Parteiform, also die, die sich am meisten gegenüber der Gesellschaft öffnet und am meisten Mitwirkungsmöglichkeiten bietet, ist die Mitgliederpartei (im Gegensatz zur Honoratiorenpartei oder auch der Kaderpartei). Hervorgebracht hat sie die Arbeiterbewegung; die CDU hat sich erst in den 70er Jahren zu einer Mitgliederpartei gewandelt. Deren Krise steht im Mittelpunkt, wenn es hier um die "Parteienkrise" geht, denn FDP und Grüne sind von ihrem Klientel her ein anderer Parteitypus. Die Krise der Mitgliederparteien ist diejenige, die die "Parteiendemokratie" in Frage stellt — also das Beziehungsgeflecht von Staat und Gesellschaft, das die bürgerliche Ordnung der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland und in vielen Ländern Europas geprägt hat.

4. Parteien sind in ihrer Funktion nicht zu ersetzen.

Noch jeder Versuch, die Parteien in ihrer Mittlerrolle zwischen Gesellschaft und Staat zu ersetzen, ist in eine Diktatur gemündet.
Versuche dazu hat es sowohl von rechts als auch von links gegeben: Die Nazis haben ihren Kampf gegen die Weimarer Republik im Namen der Volksgemeinschaft geführt, die die korrupte Parteienherrschaft und deren Verfilzung mit dem niederen Geschäftsinteresse jüdischer und ausländischer Kapitalgeber ablösen sollte. Ganz ähnlich argumentieren neonazistische Gruppen heute. Die KPD ist nicht weniger der Versuchung aufgesessen, auf der populistischen Welle der Parteien- und Parlamentsschelte zu reiten — im Namen der Herrschaft der Arbeiterklasse. Als "die" Arbeiterklasse dann angeblich herrschte, wurden auch ihre Parteien liquidiert und eine "Partei neuen Typs" geschaffen, die keine Partei mehr war: also kein Instrument der freien Artikulation verschiedener Interessen in den Reihen der abhängig Beschäftigten, sondern ein Instrument der Ausrichtung der gesamten Gesellschaft durch den Staat.
In neuester Zeit hat Silvio Berlusconi in Italien den Versuch unternommen, den Zusammenbruch des alten, korrupten und im Sinne der Wirtschaftsinteressen nicht mehr effizienten Parteiengefüges der 1.Republik zu nutzen und auf der Welle der Parteienkritik zu reiten, um mit Hilfe einer aus dem Boden gestampften "unpolitischen" Wahlformation seine Geschäftsinteressen politisch abzusichern. Dieser Verein, der sich Forza Italia nennt, respektierte lange Zeit nicht die mindesten Regeln der innerparteilichen Demokratie und steht für die Einführung eines autoritären Regimes, das elementare Rechte auf politische Vertretung, Presse- und Organisationsfreiheit aushebeln würde. Sein Konzept ist die Ersetzung der Parteien durch die Medien; die Einbahnstraße, dass der Einfluss nur noch vom Staat in die Gesellschaft, nicht mehr umgekehrt ausgeübt wird, wäre dann perfekt.

5. Die Parteien sind immer weniger in der Lage, die gesellschaftliche Entwicklung aufzunehmen.

Die Krise der Parteien hängt stark mit folgenden Faktoren zusammen:
Ihre innere Bürokratisierung.
Bei den Parteien, die aus den Traditionen der Arbeiterbewegung kommen, hängt dieser Prozess, der sich über lange Jahrzehnte hingezogen hat, mit ihrer Verquickung mit den Strukturen des bürgerlichen bzw. des "sozialistschen" Staates zusammen und ihrem Verzicht, diesen in Frage zu stellen. Die PDS transponiert das Verhältnis derzeit auf den bürgerlichen Staat. Dominant für die Ausrichtung der Partei wird damit die dauerhafte Präsenz in den bestehenden politischen Machtstrukturen, die Erarbeitung einer politischen Linie, die eine solche Dauerpräsenz erlaubt, die Rekrutierung von politischem Personal, um die Stellen zu besetzen, die Schaffung von Karrierechancen.
Diese Entwicklung entmündigt auf Dauer die Mitgliedschaft. Als Menschen, die nicht in Funktionen sitzen, sondern umgekehrt von den Parteivorständen betreut werden wollen und ihren Anspruch auf Mitsprache geltend machen, werden sie zunehmend lästig. Die Parteien brauchen ihre Mitglieder nur noch für sehr eingeschränkte Funktionen: Sie sollen Beiträge zahlen, für Ämter und Mandate kandidieren und entsprechende KandidatInnen wählen, und sie sollen die Wahlkämpfe führen. Der Ausgangspunkt der Arbeiterparteien, soziale Milieus in Betrieben und Wohnvierteln zu strukturieren, die Menschen dort zu bilden und sie zu befähigen, sich zu wehren und zu lernen, gemeinsame Kämpfe zu führen, geht dabei völlig unter.
Der organische Bezug zum Milieu geht damit verloren — und so auch das Gespür dafür, was die eigene Wählerbasis umtreibt und bedrückt. Den Parteien kommt damit ein Instrument der Einflussnahme auf die Gesellschaft und ihre Entwicklungen abhanden. Sie meinen, dies durch den verstärkten Einsatz der Medien wettmachen zu können. Die Medien aber — sofern sie nicht einer Partei gehören oder ihr ausdrücklich nahe stehen — gehorchen eigenen Regeln; sie machen sich eher die Politiker gefügig als umgekehrt.
Die Parteien sind auch zunehmend weniger in der Lage, politisches Handeln aus gesellschaftlichen Entwicklungen abzuleiten und auf diese mit gesellschaftlichen Instrumentarien zu reagieren. Ein Paradebeispiel dafür ist die derzeitige Diskussion über den Neo-Nazismus.
Die interne Diskussionskultur verkümmert. Anstelle der Mitglieder erarbeiten wissenschaftliche Teams und die Mitarbeiterstäbe der Fraktionen die inhaltlichen Positionen. Mit der Annäherung der politischen Standpunkte zwischend den Parteien geht auch eine inhaltliche Entleerung, eine Entpolitisierung der Parteien einher. Ihre Arbeitsweise wird immer mehr auf Personen, vorzugsweise auf Vorsitzende und Kanzlerkandidaten oder solche, die es werden wollen, zugeschnitten. Es ist wichtiger, dass sie mediengängig sind, als dass sie im Kontakt zu den Mitgliedern und WählerInnen stehen.
Das interne Regime wird somit zunehmend autoritär. Die Mitglieder bestimmen nicht mehr über ihre Partei; die Partei wird ihnen enteignet.
Dieser Prozess findet übrigens mit Abwandlungen in den Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und anderen großen Vereinen genauso statt. Was man die Krise der Parteien nennt ist deshalb in Wirklichkeit eine Krise der Repräsentationsform, die bürgerliche wie nichtbürgerliche Organisationen gleichermaßen trifft.
Ihr Verwachsen mit den Strukturen des modernen Sozialstaats.
Parteien nehmen ihre Vermittlerfunktion nicht nur dadurch wahr, dass sie Mitglieder organisieren, sondern auch dadurch, dass sie in zahlreichen Funktionen sitzen: im öffentlichen Dienst (Stadtwerke, Sparkassen, Bildungseinrichtungen, die Kassen der gesetzlichen Sozialversicherungen, die Bundesanstalt für Arbeit usw.) wie auch in Vereinen, die in Deutschland sehr weitgehend das gesellschaftliche Leben strukturieren. Für diese nehmen sie Interessenfunktionen wahr, die durchaus in Konflikt mit Mitgliederinteressen treten können. (Es ist diese Einflussnahme von Parteien auf Wirtschaftsbetriebe, die u.a. zum Gegenstand neoliberaler Attacken geworden ist.)
Dieser wichtige Unterbau, der eine Folge der "Verstaatlichung" der Parteien ist, bricht den Parteien durch die Privatisierung der öffentlichen Dienste heute weg.
Veränderungen in der Struktur der Arbeiterschaft und der Jugend.
Der Rückgang der Bindewirkung der Parteien hat auch objektive Gründe, die in den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 50 Jahre zu suchen sind. Die Krise der Montanindustrie, die technologische Revolution, der Anstieg der Dienstleistungsberufe hat gewachsene Arbeitermilieus aufgelöst, damit auch gleichartige Lebensbedingungen, die gleichgerichtete Einstellungen, Lebensplanungen und politische Entwicklungn hervorgebracht haben. Die Parteien treffen heute sehr viel differenziertere Milieus vor, deren sozialer Zusammenhalt sehr viel schwächer ist.
Waren früher die Arbeiterparteien diejenigen, die Jugendlichen Bildung und Freizeit vermittelt haben, ist diese Funktion nach dem Krieg sukzessive von staatlichen Einrichtungen bzw. der Konsumindustrie wahrgenommen worden. Das neoliberale Diktat sorgt jedoch dafür, dass sich das Blatt hier wendet: Der Staat zieht sich aus seinem Engagement als Förderer und Träger von Bildungs-, Freizeit- und Kultureinrichtungen zunehmend zurück, mit der Folge, dass sie schlicht fehlen bzw. unerschwinglich werden und es für Jugendliche kein Angebot mehr gibt. Parteien könnten hier, wenn sie wollten durchaus ein Betätigungsfeld finden. Ebenso stimmt es nicht, dass die "Individualisierung", Medien und Computer das Bedürfnis nach Diskussion, nach Erfahrung von Gemeinschaft, Solidarstrukturen, nach Orientierung und Sinngebung überflüssig machen würde. Im Gegenteil, solche Strukturen sind durch die Mediengesellschaft nicht zu ersetzen. Den Parteien (und Gewerkschaften) fehlt aber der Idealismus, der notwendig ist, solche Strukturen aufzubauen und zu pflegen. Er steht dem Machthunger im Weg.
Die programmatische Entwicklung der Parteien, die aus der Linken und der Arbeiterbewegung kommen, läuft konträr zur gesellschaftlichen Entwicklung. Mit Ausnahme der PDS schwören sie inzwischen alle auf die neoliberale Doktrin, dass der Markt die oberste Priorität und das wesentliche gesellschaftliche Regulierungsinstrument zu sein hat. Sie beten alle dasselbe goldene Kalb, den Standort Deutschland, an und singen dieselbe Melodie: Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es auch den Menschen gut. Sie sehen sich immer weniger als Mittler zwischen ihrer gesellschaftlichen Basis und dem Staat und immer mehr als Moderatoren (O-Ton Schröder) zwischen den Interessen der Wirtschaft, des Staates und der Gesellschaft. Hier soll der neue Konsens gefunden werden, der die neue Mitte trägt, nach der alle streben.
Die Mitte als Bezugspunkt auch für linke Parteien ist nicht neu. Mit ihrem Wandel zur Volkspartei hat die SPD viel dazu beigetragen, dass die fortbestehende Klassengesellschaft zur Mittelstandsgesellschaft erklärt werden konnte. Allerdings hatte dies damals noch eine reale Basis: die mittleren Einkommen stiegen, es gab eine reale Steigerung der Kaufkraft und der Aufstiegschancen. Die "Mittelstandsgesellschaft" wurde als Zwiebel dargestellt, deren oberes und unteres Ende abgeflacht sind und die in der Mitte einen dicken Bauch hat. Seit Anfang der 80er Jahre hat sich diese Entwicklung jedoch umgekehrt: der Mittelstand schrumpft, der Reichtum explodiert und die Armut ebenso. Anstelle der Zwiebel tritt mehr und mehr der Diabolo (ein Holzspielzeug, das auf dem Seil tanzt und zwei dicke Enden hat). Die Gesellschaft polarisiert sich — und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die politischen Verhältnisse polarisieren.
Die bestehenden Parteien werden nicht in der Lage sein, aus dieser Krise einen sozialen und demokratischen Ausweg zu weisen. Sie werden autoritäre Lösungen vorschlagen oder vor ihnen kapitulieren.

6. Nicht "keine Parteien" sondern "andere Parteien".

Die Frage ist nicht: Parteien ja oder nein? Sondern: Welche Parteien? Damit ist nicht gemeint: Welche unter den bestehenden Parteien soll man wählen? Sondern: Wie muss eine Partei beschaffen sein, dass sie die Interessen derer, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, auch wirklich zum Ausdruck bringt?
An eine solche Beschaffenheit lassen sich durchaus eine Reihe von Anforderungen stellen: Sie muss wieder Strukturen der gesellschaftlichen Solidarität aufbauen, muss soziale Milieus organisieren, muss von den Mitgliedern kontrolliert werden, d.h. sie muss ihre Mitglieder auch in die Lage versetzen, ihre Vorstände und Mandatsträger zu kontrollieren, sie muss also eine aktive, keine passive Mitgliedschaft heranziehen, sie muss gegenüber den staatlichen Institutionen unabhängig bleiben — d.h. dass die institutionellen Zwänge nicht das Handeln der Partei dominieren dürfen, auch nicht im Namen eines angeblichen "politischen Realismus", sie muss einen konsequenten Oppositionskurs fahren, eine glaubwürdige Antwort auf die bestehenden gesellschaftlichen Verwerfungen und eine umfassende Alternative zur Neuen Weltordnung bieten usw.
Will man die Fehler der Geschichte nicht wiederholen, ist es unbedingt erforderlich, dass man die Lehren aus der Entwicklung von SPD, KPD und SED zieht (was die PDS nur insofern getan hat, als sie sich der bürgerlichen Stalinismuskritik angeschlossen hat).
Aber selbst wenn es heute einen breiten Konsens um diese Kriterien gäbe, könnte eine solche Partei nicht aus dem Boden gestampft werden. Eine Parteibildung ist ein langwieriger und komplizierter gesellschaftlicher Prozess, bei dem viele Faktoren zusammenkommen müssen, damit eine nennenswerte Anzahl von Menschen ihre politischen Anliegen in einer Partei aufgehoben sieht. Sie setzt nicht nur eine breite soziale Bewegung, sie setzt auch eine umfassende Reorganisation der gewerkschaftlichen Interessenvertretung und deren enge programmatische wie organisatorische Verzahnung mit anderen sozialen Bewegungen, mit ökologischen, frauenpolitischen und antirassistischen Forderungen und Bewegungen voraus.
Ansätze für eine solche Reorganisierung gibt es im internationalen Maßstab durchaus. Die Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung, die sich nunmehr mit dem Namen Seattle verbindet, unternimmt den bewussten Versuch, die Beschränktheit der Ein-Punkt-Kampagnen zu überwinden und durch gemeinsame Aktionen und eine engere organisatorische Zusammenarbeit die Grundlagen für eine neue Internationale gegen den Neoliberalismus zu schaffen.
Sie zieht zahlreiche junge Menschen an, die hier einen neuen Anhaltspunkt für politisches Engagement finden, und sie steckt den Rahmen ab, in dem heute Gewerkschaften und soziale Bewegungen aller Art sich notwendig bewegen müssen.
Diese Bewegung versteht sich als eine soziale Bewegung. Sie ist meilenweit davon entfernt, einen Parteibildungsprozess auch nur in Erwägung zu ziehen. Das ist auch richtig so; eine solche Fragestellung könnte sie nur spalten noch bevor sie sich richtig entwickelt hat. Doch stellt sie zweifellos den Typ von neuen sozialen Bewegungen dar, der notwendig ist, damit die Frage nach einer anderen politischen Repräsentation in Zukunft überhaupt wieder konkret aufgeworfen werden kann.

Angela Klein

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