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Am 26.September 2000 hat sich Prag in die Liste der Städte eingereiht, die heute und künftig als Symbol
für den Aufstieg der Kämpfe gegen die liberale Globalisierung genannt werden: Seattle, Bangkok, Washington, Genf. Die Größe der
Demonstration (geschätzt werden 12.00015.000 Teilnehmende), die am Tag der Eröffnung der gemeinsamen Hauptversammlung von IWF
und Weltbank stattfand, bestätigt die Breite der Protestwelle, die alle Kontinente erfasst hat. Aber wie jedes Ereignis hat auch Prag seine
Besonderheiten, die ein eigenes Augenmerk verdienen.
Die erste Lehre aus Prag betrifft die Politik von IWF und Weltbank. Diese wurde in der Vergangenheit
eher von James Wolfensohn, dem Weltbankpräsidenten, vorgetragen als von Horst Köhler, dem Generaldirektor des IWF. Das liegt nicht allein
am Amtsantritt des Nachfolgers von Michael Camdessus, der für heftige Kontroversen gesorgt hatte. Die Weltbank hat immer Wert darauf gelegt, ihr
Image zu pflegen, und sie möchte sich gern als Sprecherin der "Armen der Welt" darstellen.
Im Kern ändert sich damit an ihrer Politik nichts. Die Rede ist jetzt nicht mehr von
"Strukturanpassungsplänen", sondern von "Plänen zur Senkung der Armut und der Schulden". Der Inhalt bleibt
derselbe. Der Diskurs aber hat sich völlig geändert. In der Debatte zwischen den führenden Vertretern von IWF und Weltbank und
Vertretern der Nichtregierungsorganisationen hat sich James Wolfensohn allein mit der wiederholten Versicherung verteidigt, auch er habe "ein
Herz". Diese Linie hat er den ganzen Dienstag durchgehalten, während die Demonstrationen vorbeizogen, und hat der Presse erklärt, er
"verstehe die Motivation der Demonstrierenden".
Es ist derselbe Diskurs, den die Vertreter der Weltbank an demselben 26.September in Paris an den Tag
gelegt haben, als im Rahmen einer Unterstützerdemonstration für die Initiativen in Prag eine Delegation von ATTAC und französischen
Nicht-Regierungsorganisationen von der Weltbank empfangen wurde. Die defensive Linie geht bis zu einem teilweisen Schuldeingeständnis:
Weltbank und IWF anerkennen, dass die Armut in den letzten Jahren zugenommen hat. Dies ist Folge des Drucks und der Breite der Kritiken, die aus drei
verschiedenen Richtungen gleichzeitig kommen.
Erschütterungen
Erstens kommen sie aus eher liberalen Milieus, vor allem in den USA, die die Auffassung vertreten, dass das Mandat der internationalen Institutionen
weitestgehend beschränkt werden muss. Normalerweise sind es die UNO und deren Unterorganisationen, vor allem die UNESCO, die im Schussfeld
ihrer Kritik liegen, aber IWF und Weltbank werden nicht ausgespart. Ein Ausschuss des US-amerikanischen Kongresses hat gerade eine Begrenzung der
Interventionsmacht des IWF gefordert, und in Prag hat die Finanzpresse heftige Kritiken an die Adresse von IWF und Weltbank gerichtet: Ein Leitartikel der
Financial Times vom 28.September griff James Wolfensohn frontal an, er mache sich der Komplizenschaft mit den Gegnern der Globalisierung schuldig.
Die zweite Kritik ist jüngeren Datums und kommt aus den Reihen der internationalen
Finanzinstitutionen selbst. Sie wird von hohen Funktionären vorgetragen, die ein hartes Urteil über die jüngsten Aktionen von IWF und
Weltbank fällen. Joseph Stiglitz, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, ist der Bekannteste unter ihnen. Er hat sich sehr kritisch über die
Linie des IWF geäußert, sowohl während der Asienkrise als auch in Bezug auf seine Intervention in Russland.
Stiglitz stellt zwar die Grundzüge des "Konsens von Washington" nicht in Frage,
der die Privatisierung der Staatsunternehmen, die Begrenzung des Haushaltsdefizits und die durchgängige Öffnung der Märkte fordert.
Aber er kritisiert, dass der IWF in Russland notwendige strukturelle Maßnahmen die Sanierung des Bankensektors, die "gute
Regierung", usw. außer Acht lässt und in den Ländern, die einem Strukturanpassungsplan unterliegen, vor allem nach der
Asienkrise nicht den Dialog führt, der notwendig ist, um einen ausreichend breiten Konsens in diesen Ländern herzustellen.
Die dritte Achse der Kritik kommt von den sozialen Bewegungen und von den Demonstrierenden in
Seattle, Washington und Prag. Hierbei handelt es sich um eine grundsätzlichere Kritik, die sich gegen die Logik eines Systems richtet, das die
Ungleichheit verstärkt, Arbeit prekär macht und die Umwelt bedroht. Als jüngste Beispiele dafür stehen die Großbauten, die
die Weltbank finanziert: der Drei-Schluchten-Staudamm in China und die Ölpipeline durch den Tschad. Es ist ein System, das ohne wirkliche
demokratische Kontrolle arbeitet die Stimmengewichtung sowohl im IWF wie in der Weltbank gibt den reichen Ländern eine absolute
Mehrheit.
Die Weltbank und der IWF befinden sich also in einer instabilen Situation, in der sie ihre liberale
Linie zwar fortsetzen, aber den Eindruck erwecken, dass sie nicht mehr so recht an sie glauben.
Die Demonstrationen waren stark genug, das System zu destabilisieren, aber noch nicht so stark, dass
sie die dem System zugrundeliegende Logik umkehren könnten. Denen, die nicht genügend Vertrauen in das Gewicht der Mobilisierungen haben,
sei ein Zitat aus der britischen Wirtschaftszeitung The Economist vom 23.September entgegengehalten. Darin schreibt ein Leitartikler: Die
"antikapitalistischen Demonstranten, die sich in Prag versammeln … haben in zwei Punkten recht: in der wichtigeren Frage der Armut der Dritten Welt,
und in dem Punkt, dass die Globalisierung rückgängig gemacht werden kann, trotz der Macht, die sie darstellt."
Neue Jugendradikalisierung
Die zweite Lehre aus Prag betrifft die Bedeutung der Mobilisierung der Jugend.
Wie in Seattle und Washington bestand die große Mehrheit der Demonstrierenden aus
Jugendlichen um die 20 Jahre. Die Radikalisierungswelle erfasst alle Länder, auch wenn einige, wie Frankreich, einen gewissen Rückstand haben.
Die Zahlen sprechen für sich: 500 junge Schwedinnen und Schweden, mehrere hundert aus Norwegen und Finnland, 300500 aus Griechenland,
1000 aus Italien, noch mehr aus Großbritannien und etwa gleich viele aus Spanien. Dabei hatte es am gleichen Tag, dem 26.September, in Madrid eine
Paralleldemonstration von 4000 Jugendlichen zur Unterstützung der Aktionen in Prag gegeben; wenige Tage später demonstrierten je 5000
Jugendliche in Madrid und in Barcelona gegen die Repressalien der tschechischen Polizei.
Die angewandten Aktionsmethoden reflektierten bis ins Detail diejenigen, die in den USA erprobt
worden waren. Die Basisstruktur ist die "Bezugsgruppe", ein Prinzip, das sich besonders für multinationale Mobilisierung sehr eignet,
weil hier die Verhältnisse durch die vielen Sprachen und durch unterschiedliche politische und organisatorische Traditionen kompliziert werden.
Die Bezugsgruppen sammelten sich in einem "Konvergenzzentrum", in denen die
Delegierten Demonstrationspläne ausarbeiteten und Anwesende sich zuordnen und mit anderen Delegationen austauschen konnten.
Nachdem der Demonstrationsplan erstellt war, konnte jede Gruppe ihre Demoroute wählen, je
nachdem wie riskant, wie lang o.a. sie war. Alle verfügten über eine Marschrichtung, die sich auf den Grundsatz der radikalen gewaltfreien Aktion
gründete.
Die neue Welle der Jugendradikalisierung kann das Kräfteverhältnis und die Lage der
sozialen Bewegungen in vielen Ländern grundlegend ändern auch wenn sie nicht so groß ist wie in den 60er und 70er Jahren.
Aber wie immer, wenn sich eine neue Generation von AktivistInnen herausbildet, wird sich die Verbindung zwischen den Jugendlichen und den bestehenden
Bewegungen nicht von allein herstellen. Allein schon aus Gründen, die den Generationsunterschied betreffen: Es müssen sich eine
Identität, eine Praxis und Orientierungen herausbilden, die andere sein werden als die der vorhergehenden Generation.
Nach den US-amerikanischen Demonstrationen gibt Prag uns eine Vorstellung davon, was diese Praxis
und die Identität sein können: Es bestehen gute Chancen, dass die Jugendlichen die Traditionen und Gewohnheiten der "Apparate",
auch die der NGOs, aber auch die neueren sozialen Bewegungen und ihre Träger aufmischen.
Dabei steht viel auf dem Spiel: Es geht darum, eine Brücke zwischen den Generationen zu
schlagen und eine Basis zu schaffen, dass die Erfahrungen, die Errungenschaften und die Debatten der Arbeiterbewegung und der sozialen Bewegungen in den
letzten Jahrzehnten weitervermittelt werden können.
Es ist möglich, dem US-amerikanischen Beispiel zu folgen, wo ein Netzwerk von Jugendlichen
und Gewerkschaften (in diesem Fall der AFL-CIO) sich trotz erheblicher Differenzen miteinander verständigt und ihre Aktionen koordiniert haben;
dabei stellte die Mobilisierung in Washington diesbezüglich gegenüber der in Seattle einen klaren Fortschritt dar.
Es gibt aber auch Fälle, in denen das schwieriger ist, wie in Großbritannien, wo die
Gewerkschaften die radikalen Jugendlichen, die sich im Netzwerk "Reclaim the Streets" zusammengefunden hatten, abgewiesen haben und nur in
geringem Umfang dem Aufruf von Jubilee 2000 zu Aktionen für die Streichung der Schulden der armen Länder gefolgt sind.
Die Probleme betreffen aber nicht nur den Umgang mit den Gewerkschaften. In Prag waren die
Gewerkschaften im großen und ganzen abwesend; hier gab es Probleme mit einer Nichtregierungsorganisation, den "Friends of the Earth".
Die hat sich angesichts möglicher Gewalttätigkeiten schon im Vorfeld von der Demonstration abgegrenzt und entsolidarisiert, was zu heftigen
Debatten in ihren Reihen geführt hat.
Die dritte Lehre aus Prag betrifft die offenbaren Schwächen und Schwierigkeiten.
Zunächst die Schwäche und die Spaltung unter den AktivistInnen in Tschechien selbst.
Diese Schwäche erklärt sich aus der Situation des Landes nach der "samtenen Revolution". Die damaligen Mobilisierungsstrukturen
sind sehr schnell zerfallen, neue Organisationsformen der sozialen Bewegung haben sich nicht gebildet. Hinzu kommt, dass die Tschechische Republik bei den
internationalen Finanzinstitutionen nur schwach verschuldet ist, wenn man das mit anderen osteuropäischen Ländern, insbesondere Russland,
vergleicht.
Weder die Gewerkschaften noch eine der großen Parteien haben sich an der Demonstration vom
26.9. beteiligt. Die Regierung und die sie bildenden Parteien (Liberale und Sozialdemokraten) haben vor und nach dem 26.9. eine hysterische Kampagne
gegen die Demonstrierenden geführt; nur Vaclav Havel hat eine ausgeglichenere Haltung eingenommen. Die Kommunistische Partei, die in der
Wählergunst steigt, hatte zu einer eigenen recht mageren Demonstration am 23.9. aufgerufen wahrscheinlich wollte sie den
Regierungsattacken keine Flanke bieten.
Schwächen und Chancen
Demonstrationen und Alternativgipfel wurden von zwei verschiedenen Strukturen organisiert: von einem "Forum", das vor allem die
Debatte organisierte, und INPEG, das sich um die Demonstration gekümmert hat. Beide sind ihrer Zahl und Repräsentativität nach
beschränkt.
Diese Schwäche hatte vielfache Folgen.
Zum einen wurde dadurch eine kollektive Beherrschbarkeit der Demonstration verhindert.
INPEG stand für gewaltfreie Radikalität, hatte aber nicht die Mittel, eine ausreichende Präsenz zu sichern, dass dieser Rahmen auch
respektiert würde.
Zum zweiten war deshalb auch eine zahlreiche Teilnahme von Vertretern der Länder des
Südens und des Ostens nicht möglich. Dafür hätten andere finanzielle Ressourcen mobilisiert werden oder mindestens sichergestellt
werden müssen, dass andere, reichere Strukturen dies übernehmen. Einige Reisen sind gezahlt worden, vor allem von Friends of The Earth und
Jubilee 2000, aber es waren dennoch viel zu wenige Vertreter aus den Ländern anwesend, die in erster Linie die Opfer der
Strukturanpassungspläne sind.
Zum dritten konnten die Gewerkschaften große Zurückhaltung im Hinblick auf
eine Beteiligung an den Mobilisierungen nach Prag üben, weil der Charakter der Mobilisierung unklar war.
Diese Schwäche auf tschechischer Seite, die zudem von einer sehr beschränkten
Mobilisierung aus anderen osteuropäischen Ländern begeleitet war (die Ungarn waren mit einem Block von 300 Demonstrierenden am
zahlreichsten vertreten), bedeutet allerdings nicht, dass die Demonstration keine Nachwirkungen in der Tschechischen Republik haben wird. Prag war nur
eine Etappe in einer heute weltweiten Mobilisierung, und die Anerkennung der Rolle der Demonstrierenden durch die führenden Vertreter von IWF und
Weltbank wird in einigen Wochen oder Monaten zu einer positiveren Bewertung dieser Mobilisierung führen, als das aktuelle Echo in der
tschechischen Presse vermuten lässt.
Es wurden erheblich mehr tschechische Jugendliche (über 750) verhaftet als ausländische
(130), und auch die Misshandlungen auf den Polizeikommissariaten wird ein bewusstseinsfördernder Faktor sein. Prag kann deshalb durchaus zum
Ausgangspunkt für engere Beziehungen mit Netzwerken von AktivistInnen aus Osteuropa werden, aber dazu wird es notwendig sein, die Kontakte und
den Austausch kontinuierlich zu pflegen.
Die zweite Schwäche der Prager Mobilisierung bestand in der mangelnden Verbindung zu
sozialen Kräften, vor allem den Gewerkschaften.
Das hängt ebenfalls mit der Situation in der Tschechischen Republik zusammen, aber auch mit
der Haltung westeuropäischer Gewerkschaften. Anders als die US-amerikanischen Gewerkschaften ist der Europäische Gewerkschaftsbund nicht
Teil der Opposition gegen die "liberale Globalisierung". Einige sehen darin nur einen Rückstand, andere sehen den Grund dafür in
seiner zweideutigen Haltung gegenüber der Globalisierung, die angeblich unvermeidlich sei; das Problem bestehe allein darin, Europa einen
größeren Stück des Kuchens zu sichern. Auch die französische Beteiligung war mit ca. 300 Demonstrierenden relativ schwach,
weshalb die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in Prag nicht die positive Dynamik auslösen konnten wie in Millau oder Genf im vergangenen
Juni.
Die Mobilisierungen in Nizza im kommenden Dezember werden vor dem Weltsozialforum in
Porto Alegre und den Demonstrationen in Davos Gelegenheit bieten, Gewerkschaften und soziale Bewegungen, Jugendliche und die Bewegung
gegen die "liberale Globalisierung" in der gemeinsamen Aktion enger zusammenzuführen.
Christophe Aguiton (Paris, 7.10.2000)
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