Sozialistische Zeitung |
Vor achtzig Jahren, am 19.Oktober 1920 starb der amerikanische Journalist John Reed, der trotz seines jungen Alters von 33
Jahren zum Idol einer Generation von sozialistischen Intellektuellen in den USA wurde. Auch heute genießt vor allem seine Reportage über die
russische Oktoberrevolution, "Zehn Tage, die die Welt erschütterten", große Anerkennung. Eine Jury der journalistischen
Fakultät der New Yorker Universität nominierte das Buch in diesem Jahr auf Platz 7 der hundert bedeutendsten journalistischen Werke des
20.Jahrhunderts in den USA.
Das ist äußerst bemerkenswert, denn Reed machte aus seinen Sympathien für die
Bolschewiki keinen Hehl und widerspricht damit den heute gängigen Vorstellungen von "journalistischer Objektivität". Doch in
der Zeit von September 1917 bis Februar 1918, die er sich in Russland bzw. der jungen Sowjetrepublik aufhielt, interviewte und sprach er mit den Vertretern
sämtlicher politischer Parteien.
In Zehn Tage, deren Vorwort zur deutschen Zweitausgabe 1927 von dem bekannten Reporter Egon
Erwin Kisch geschrieben wurde, zeichnet Reed die Streitgespräche und Argumentationslinien der politischen Kontrahenten nach, beschreibt die
Machenschaften hinter den Absichterklärungen und versucht, die persönlichen Motive der Akteure auszuleuchten.
Der Vorwurf einseitiger Berichterstattung wäre also fehl am Platz, eher könnte man von
einem klaren Interesse sprechen, das ihn bei seiner Arbeit vorantrieb: der von Greuelpropaganda über die gottlosen und vaterlandslosen Gesellen
überschütteten US-amerikanischen Öffentlichkeit zu vermitteln, dass die Bolschewiki keine "zerstörende Kraft", sondern
die "einzigen in Russland" waren, "die ein konstruktives Programm aufzuweisen hatten".
Schon vor seinem Aufenthalt in der Sowjetunion hat sich Reed, der einige Jahre zuvor als Student an
der Harvard-Universität dort den ersten sozialistischen Club gründete, einen Namen als einer der gefragtesten Auslandsreporter in den USA
gemacht. Als Berichterstatter für das Journal Metropolitan, schreibt er Reportagen über die Ereignisse während des Ersten Weltkriegs in
Deutschland, Serbien, Rumänien, Bulgarien und Russland. Die Redaktion des Metropolitan lehnt einige seiner Beiträge wegen Sympathien
für linke politische Kräfte ab. Er publiziert fortan vermehrt für die sozialistische Zeitung "The Masses", in deren Redaktion er
bald aufgenommen wird.
Im April 1917, mit dem Kriegseintritt der USA auf Seiten der Entente, erklärt Reed, dies sei nicht
"sein Krieg und ich werde ihn nicht unterstützen". Von diesem Zeitpunkt an zieht US-Präsident Woodrow Wilson die
Repressionsschraube an und führt mit dem "Spionage- und Aufruhrgesetz" eine De-facto-Pressezensur ein, dem schon im Juli 1917
"The Masses" zum Opfer fällt. Doch in den Prozessen gegen Reed und viele seiner Kollegen kann die Anklage die Jury nicht
überzeugen. Sie enden oftmals mit einem Freispruch.
Nach der Oktoberrevolution spitzt sich die Situation in den USA abermals zu. Reed, den Leo Trotzki
für den Posten eines sowjetischen Konsuls in New York vorschlägt, führt der militärische Geheimdienst dank der Denunziation
einiger Kollegen schon im Februar 1918 als "Verdächtigen" in seinen Dokumenten. Reeds Briefe werden fortan abgefangen und seine
Rückreise in die USA verzögert sich um mehrere Monate wegen Visaproblemen bei der Durchreise in Dänemark.
Zurück in den USA wird Reed mehrmals wegen "Aufstachelung zum Aufruhr"
festgenommen und zu erheblichen Geldstrafen verurteilt. Am 17.Juni 1919 stellt das US-Justizministerium den berüchtigten Antikommunisten Edgar
Hoover ein, der einen Plan zur Deportation von Ausländern und Radikalen umsetzen soll. Das hält Reed und viele seiner Gesinnungsgenossen
nicht davon ab, die Kommunistische Partei der USA zu gründen.
Im September 1919 häufen sich die Arbeitskämpfe und Unruhen. Reed steht unter
kontinuierlicher Überwachung durch die New Yorker Polizei und beschließt, aus den USA zu flüchten. Mit falschen Papieren ausgestattet,
heuert er als Heizer auf einem skandinavischen Schiff an und überquert den Atlantik.
Knapp ein halbes Jahr später verschwindet die gesamte kommunistische Führungsriege
der USA bei einer Massenfestnahme von ca. 5000 Verdächtigen in den Untersuchungsgefängnissen.
Auch Reed wird in Abwesenheit beschuldigt, einen "gewaltsamen Umsturz der
Regierung" geplant zu haben. Sofort versucht er wieder in die USA zu gelangen. Aber seine Reise endet bereits in Finnland. Dort wird er wegen
angeblichen Schmuggels mehrere Monate festgehalten und die US-Botschaft in Helsinki schickt währenddessen Kopien sämtlichen
Schriftmaterials von Reed nach Washington. Doch ein Bundesgericht in Boston durchkreuzt die antikommunistische Hetzkampagne von Hoover. Allein die
Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei sei noch kein hinreichender Inhaftierungsgrund.
Der gesundheitlich angeschlagene Reed erhält die Erlaubnis, Finnland zu verlassen und kehrt
nach Petrograd zurück. Er nimmt am II.Kongress der Kommunistischen Internationale teil, wo er sich für den Kampf gegen rassistische Vorurteile
und eine Politik für die Aufnahme von schwarzen Amerikanern in die US-Gewerkschaften einsetzt. Bei einer Reise nach Aserbaidschan infiziert er sich
mit Typhus und stirbt im Oktober 1920 in Moskau. Dort wird er neben anderen Revolutionären an der Kremlmauer beerdigt.
Während der Stalinära ereilt Reed posthum dasselbe Schicksal wie die meisten
Revolutionäre der ersten Stunde. Der stalinsche Geheimdienst beschlagnahmt ihre Schriften, die noch Lebenden werden verfolgt, inhaftiert und viele
von ihnen später ermordet. Auch "Zehn Tage" gehört zu den konfiszierten Büchern, denn wie in allen seriösen
Publikationen über die Oktoberrevolution findet Stalin, der zu dieser Zeit nur eine untergeordnete Rolle spielte, keine Erwähnung. Dabei hatte
Lenin in seinem Vorwort zur 1923 erschienenen russischen Ausgabe gefordert, dass das Buch "in Millionen von Exemplaren verbreitet und in alle
Sprachen übersetzt" werden sollte. Erst nach dem XX.Parteitag der KPdSU 1956 gibt es wieder eine Neuauflage allerdings mit
diffamierenden Anmerkungen über Trotzki, Sinowjew und andere Revolutionäre.
Reed, der "Geschichte durch tausend Einzelheiten enthüllt", hat mit "Zehn
Tage" sein reifstes Werk über eines der bedeutendsten Ereignisse des 20.Jahrhunderts geschrieben. "Im Kampf waren meine Sympathien
nicht neutral. Aber in meiner Schilderung der Geschichte dieser großen Tage habe ich versucht, die Ereignisse mit den Augen eines gewissenhaften
Reporters zu sehen, der nichts anderes will als die Wahrheit schreiben", so Reed selbst über sein Buch.
Gerhard Klas
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