Sozialistische Zeitung |
Ein Europäischer Bundesstaat
Ist das vorrangige Ziel der europäischen Kernländer die Schaffung eines europäischen Bundesstaats, der die Völker
Zentral- und Osteuropas einbeziehen würde?
Will man die künftige Entwicklung in Europa beurteilen, muss man wissen, welche Strategie die
Kernstaaten der EU im Hinblick auf einen EU-Bundesstaat verfolgen. Einige auf der Linken haben argumentiert, letzterer sei in der Tat ihr Ziel, das abgelehnt
werden müsse; sie fühlen sich in ihrer Auffassung bestärkt durch die Schritte zu einer unabhängigen europäischen Streitkraft
(Eurocorps).
Immanuel Wallerstein schreibt z.B.: "In den 90er Jahren vollbrachte Westeuropa mit der
Schaffung des Euro den entscheidenden Schritt vorwärts zu seiner Einigung; es legte damit die notwendigen finanziellen Grundlagen, um die
militarische Abhängigkeit von den USA abzustreifen. Dies wird im kommenden Jahrzehnt zweifellos zur Schaffung einer wirklichen europäischen
Armee und damit zur militärischen Abkopplung von den USA führen…
François Vercammen von der IV.Internationale argumentiert ähnlich: Die
Einheitswährung werde im Kontext einer militärischen Autonomie zur Stärkung des EU-Staatsapparats führen, der eine
"Großmacht Europa vom Atlantik bis zu den Grenzen Russlands" kontrollieren werde.
Wir glauben, dass dies eine vereinfachte Sichtweise der möglichen Optionen darstellt, die das
europäische Kapital in den 90ern zur Verfügung hatte. Diese Optionen wurden von Peter Gowan dargestellt.
Die erste Option war die von Gorbatschow favorisierte: das "gemeinsame Haus Europa".
Es hätte den Aufbau einer kollektiven europäischen Sicherheitszone impliziert, die Russland in einen gesamteuropäischen Kontext
eingebunden hätte; die EU wäre ein Teil davon gewesen. Die kollektive Sicherheitszone hätte unter der Führung von Deutschland,
Frankreich und Russland gestanden; ihr Motor wäre die rasche wirtschaftliche Entwicklung Osteuropas gewesen. Diese Option ist aus vielerlei
Gründen gescheitert, hauptsächlich jedoch weil die USA dagegen waren, weil europäische Unternehmer die US-amerikanische Version
des Neoliberalismus und der Globalisierung unterstützen, und weil die UdSSR zusammengebrochen ist.
Eine zweite Option implizierte die Schaffung einer europäischen politischen Einheit in
Westeuropa, die ihren Einfluss nach Osteuropa ausdehnt und im Osten in Russland ein Gegengewicht findet; dabei wären die osteuropäischen
Wirtschaften den vorherrschenden Kapitalinteressen in Westeuropa untergeordnet worden. Dieser Plan wurde in unterschiedlicher Weise von Kohl und
Mitterrand Anfang der 90er Jahre vorangetrieben. Aber der Plan eines EU-russischen Gleichgewichts auf dem Kontinent forderte die US-Hegemonie
über Westeuropa heraus, denn er hätte den Aufbau einer tatsächlich autonomen Außen- und Sicherheitspolitik der EU und einer
unabhängigen Armee (Eurocorps) bedeutet, sowie die Aufwertung der WEU auf Kosten der NATO. Wir wissen, dass diese Option in den
nachfolgenden Debatten und Konflikten, nicht zuletzt im Krieg gegen Serbien, geschlagen wurde.
Die dritte Option ist die, die gegenwärtig entwickelt wird. Sie sichert die politische und
militärische Dominanz der USA über Europa, ihr Hauptinstrument ist die umgestaltete NATO. Diese Option hält Europa gespalten,
schließt Russland aus und ermöglicht den USA über eine Vielzahl von Hebeln (Ausweitung der NATO, Partnerschaften für den
Frieden, usw.), die Beziehungen zwischen Russland und den EU-Staaten weiter zu beeinflussen. Die europäischen Unternehmen können darin
ihren Kurs der Globalisierung unter der Vormundschaft der USA fortsetzen.
Für Osteuropa bedeutet dies einen neoliberalen Kurs entlang der Linien, die man von der
Strategie des IWF und der Weltbank für Lateinamerika seit den 80er Jahren kennt und die zu Deindustrialisierung. Verarmung, Abhängigkeit und
zu einem Verhältnis zum EU-Kapital führt, das die Länder des Ostens ganz oder halb an den Rand drückt.
Verschiedene Anläufe, im Strudel des Kosovo-Kriegs der WEU, Eurocorps und der Initiative
für Sicherheit und Verteidigung neues Leben einzuhauchen, bedeuten keinen Versuch, zur Option eines unabhängigen EU-Staats
zurückzukehren. Eher stellen sie den Versuch dar, den Kernstaaten Westeuropas einige Hebel in die Hand zu geben, um ihre Position in den
schwierigen und manchmal gefährlichen Manövern beim Aushandeln ihrer Beziehungen zwischen den USA, Russland und den ost- und
südosteuropäischen Staaten, in denen sie ihren Einfluss ausweiten wollen, zu stärken. Die Rede des deutschen Außenministers,
Joseph Fischer, in der Humboldt-Universität im Mai dieses Jahres lieferte ein ziemliches wirklichkeitsgetreues Abbild der aktuellen EU-Strategie. Er
sagte:
"Die bisherige Vorstellung eines europäischen Bundesstaates, der als neuer
Souverän die alten Nationalstaaten und ihre Demokratien ablöst, erweist sich als ein synthetisches Konstrukt jenseits der gewachsenen
europäischen Realitäten."
Das ist eine weites Feld und eines, das im vorliegenden Papier nicht im Mittelpunkt unserer
Überlegungen steht, aber wir wollen doch unsere Grundthesen hier darlegen. Die sind, dass Europa eine Ansammlung von Nationalstaaten bleiben
wird, wirtschaftlich vereinigt und durch ein Handelsregime mit den dazugehörigen Institutionen, Handelsgesetzen, einem Binnenmarkt und einer
Währungsunion geschützt, aber politisch zersplittert. Der Binnenmarkt und die Währungsunion waren die Antwort auf die
Herausforderungen der USA und Japans in den 80er und 90er Jahren; diese Schritte in Richtung auf eine größere ökonomische Integration
mit den daraus folgenden Vorteilen der Größenordnung und des Schutzes nach außen werden in Zukunft noch zunehmen. An sich stellen
sie aber noch keinen wesentlichen Schritt in Richtung auf die Schaffung eines europäischen Staates dar. Die EU ist im Kern ein Rahmen zur Regulierung
der Kapitalakkumulation. Die politische und militärische Hegemonie der USA wird ein Grundmerkmal europäischer Politik bleiben, wenngleich
ihre Strukturen und Ziele nicht dieselben sein werden wie im Kalten Krieg.
Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie
Was war das grundlegende Verhältnis zwischen den Kernstaaten der EU und den Staaten Zentral- und Osteuropas und wie hat es sich in den
90er Jahren entwickelt?
Das grundlegende Verhältnis zwischen den Kernstaaten der EU und den Staaten Zentral- und
Osteuropas ist das zwischen Zentrum, Halbperiperie und Peripherie (dieses Konzept wurde von Weltsystemanalysen entwickelt). Das Verhältnis wurde
durch den Zusammenbruch der "kommunistischen" Regime Ende der 80er Jahre noch ausgeprägter, es hat sich in Polen, Ungarn und
Jugoslawien aber schon seit den 70er Jahren herausgebildet. Die Schlüsselrolle kommt dabei der Verschuldung zu sie nimmt in der Herstellung
von Zentrum-/Peripherie-Verhältnissen überhaupt eine Schlüsselrolle ein.
Gemäß Weltsystemanalysen liefern Zentrum, Halbperipherie und Peripherie den Rahmen
der Weltwirtschaft. In diesem Rahmen stellen konkurrierende souveräne Staaten den Raum dar, in dem Eigentumsrechte durchgesetzt,
Widersprüche (z.B. durch die Bereitstellung von öffentlichen Verkehrs- und Bildungssystemen) abgefedert und Schwankungen in den
Machtverhältnissen zwischen den Staaten ausgeglichen werden. In einem solchen System sichert eine hegemoniale oder dominierende Macht, die
über eine wirtschaftliche und militärische Vormachtstellung verfügt, eine gewisse Ordnung bzw. stellt diese her.
Die industriell entwickelten und wirtschaftlich mächtigen Kernstaaten in diesem System nutzen
ihre jeweilige wirtschaftliche und politisch bzw. militärische Vormachtstellung, um gewisse typische Beziehungen zur Peripherie oder Halbperipherie
herzustellen. Peter Gowan beschreibt in seiner Darstellung der internationalen Herrschaft des US-Kapitals, die er das "Dollar-Wallstreet-Regime"
nennt, die dem Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie zugrundeliegende Triebfeder als "Ausnutzung von Macht über die
intenationale politische Ökonomie durch die USA und die EU mit dem Ziel, aus der Umstrukturierung der Gesellschaften außerhalb der
Kernländer jeden erdenklichen Vorteil zu ziehen, oder anders gesagt, möglichst viele Probleme aus den Kernländern auszulagern".
Im Fall der Staaten Zentral- und Osteuropas haben beide, die EU wie die USA, sich der Schuldenfalle
bedient, um den Ländern Maßnahmen im Interesse der Kernländer aufzuzwingen und zwar lange bevor diese Gesellschaften
systematisch in kapitalistische umgewandelt wurden.
Für Ungarn hat der linke Ökonom Lászlo Andor diesen Prozess beschrieben. Er
beschreibt wie Auslandsanleihen, die in den 70er Jahren erleichtert wurden, "zwischen 1976 und 1978 zum größten Investitionsboom in
der ungarischen Geschichte" geführt haben. Der zweite Ölpreisschock und die Anhebung der Zinssätze führten Ende 1981 zu
einer Liquiditätskrise und Ungarn trat 1982 dem IWF und der Weltbank bei. Seitdem und bis zum Zusammenbruch des Systems Ende der 80er Jahre
verhängten IWF und Weltbank ein Sparprogramm und setzten die Abschaffung der staatlichen Subventionen, ein neues Steuersystem und eine massive
Liberalisierung des Außenhandels durch das, was der damalige Premierminister Miklos Nemeth als "Marktwirtschaft ohne
Attribute" beschrieben hat. Laut Andor hat "der Verlauf der Schuldenkrise in Ungarn die Erosion der kommunistischen Einparteienherrschaft
beschleunigt und den Weg für eine grundlegende politische Transformation 1989 bereitet". Weder Ungarn noch Polen konnten der Schuldenfalle
entkommen.
Die Beziehungen von Kontrolle und Abhängigkeit, die mit einigen zentral- und
osteuropäischen Staaten schon in den 80er Jahren aufgebaut wurden, haben sich in den 90er Jahren infolge des gesellschaftlichen Wandels in Zentral-
und Osteuropa und der strategischen Entscheidungen des EU-Kapitals in dieser Zeit noch verstärkt. Wir behaupten, dass dieses Muster ungleicher
Beziehungen nach der Osterweiterung bleiben wird. In den meisten Fällen wird sie diese Beziehungen nicht überwinden oder aufbrechen,
sondern eher verstärken. Anders gesagt wird die Osterweiterung hauptsächlich von grundlegenden ökonomischen Faktoren bestimmt
werden und im allgemeinen keine "Eigendynamik" haben. Es ist deshalb wichtig zu schauen, um welche Beziehungsmuster es sich handelt.
Beziehungsmuster
Die grundlegenden Beziehungsmuster im Verhältnis zwischen der EU und den Ländern
Zentral- und Osteuropas sind:
Die Abhängigkeit im Handel und im Export.
Infolge der Verschuldung, des Zusammenbruchs des RGW-Markts und der Zerstörung ihrer
industriellen Basis durch die Schocktherapie der frühen 90er Jahre sind die Länder Zentral- und Osteuropas extrem von Exporten in und
finanziellem Zufluss aus den Kernstaaten der EU abhängig. Diese Abhängigkeit wurde Anfang der 90er Jahre nach dem Zusammenbruch des RGW
durchgesetzt.
1993 flossen 63% der Exporte Ungarns und Tschechiens und 69% der Exporte Polens in die EU. Nur
noch 20% der polnischen Exporte flossen in jenem Jahr in die ehemaligen RGW-Ländern. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner. 1997 wickelte
Polen 42% seiner Exporte und 51% seiner Importe mit Deutschland ab. Der deutsche Handel konzentriert sich zu 73% auf Europa, nur 11% geht auf den
amerikanischen Kontinent und 11% in die Region des Pazifik. 43% aller Exporte der EU in die Länder Zentral- und Osteuropas kamen 1996 aus
Deutschland. 1999 flossen zwischen 36% und 42% aller Exporte aus Ungarn, Polen und der Tschechischen Republik nach Deutschland.
Die Ausfuhren aus den Ländern Zentral- und Osteuropas, insbesondere aus den Visegrad-
Staaten sind deshalb extrem von der EU abhängig, aber der Handel ist ungleich. Die 90er Jahre hindurch hatten die Länder Zentral- und
Osteuropas ein großes und wachsendes Handelsdefizit mit der EU.
Das Handelsdefizit ging mit einer wachsenden Verschuldung einher, die in der gesamten Region
Zentral- und Osteuropas zwischen 1989 und 1994 um 62,4% stieg. Es ist auch wichtig zu sehen, dass das massive Handelsbilanzdefizit durch den Import von
Konsumgütern, nicht von Investitionsgütern verursacht wurde.
Ihre Abhängigkeit vom Handel und ihr Bedarf an Geldströmen, um das Defizit und die
Schulden zu finanzieren, machen die Länder Zentral- und Osteuropas extrem anfällig nicht nur für Entwicklungen auf den
Finanzmärkten und wirtschaftliche Rezessionen im Westen (die tschechische Rezession 1997 war zum Teil eine Folge des Rückgangs der
deutschen Wirtschaft), sondern auch für den Druck der EU, die Wirtschafts- und Sozialsysteme dieser Länder umzukrempeln, mit Folgen vor allem
für Wechselkurse, Staatshaushalte und für die Privatisierung der Staatsbetriebe.
Direktinvestitionen
Die Dominanz der EU über die neue internationale Arbeitsteilung in und mit Zentral- und Osteuropa, die Dominanz der westlichen
Multinationalen Konzerne und die Abhängigkeit von ausländischen Direktinvestitionen. Beide sind nicht angemessen und haben negative
Folgen für die heimische Wirtschaft.
In Anbetracht des Mangels an einheimischem Kapital und den engen Grenzen, die staatlichen
Investitionen in den Ländern Zentral- und Osteuropas gesetzt wurden, nahm man an, Direktinvestitionen würden eine große Rolle
für die Wiederbelebung ihrer Wirtschaften spielen. Ein Jahrzehnt später müssen wir uns fragen, was die Rolle und Bedeutung
ausländischer Direktinvestitionen tatsächlich gewesen ist.
Zunächst einmal: In welchem Umfang sind ausländische Direktinvestitionen
getätigt worden?
1993 schätzte die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, in den
kommenden zehn Jahren würden 175 Milliarden Dollar Investitionen jährlich nötig sein, um in Polen, Ungarn, der Tschechischen
Republik, Bulgarien, Rumänien und Slowenien ein Wachstum des Bruttosozialprodukts von 47% abzustützen. 180 Milliarden Dollar
würden jährlich nötig sein, um im selben Zeitraum EU-Niveau in der Produktivität zu erreichen.
In den ersten vier Jahren flossen aber nur 3,5% der benötigten Direktinvestitionen in diese sechs
Ländern (plus Estland), um das Wachstum des Bruttosozialprodukts zu stützen, und nur 1,4% der benötigten Investitionen, um das
Produktivitätsniveau der EU zu erreichen. Das bezieht sich auf Bruttoinvestitionen. Die Nettoinvestitionen in diesem Zeitraum (4,4 Milliarden Dollar)
betrugen nur 1,1% dessen, was die Europäische Entwicklungsbank für notwendig erachtete.
Zum Vergleich: ausländische Direktinvestitionen in Dänemark, Irland und die
Niederlande beliefen sich in dieser Zeit auf 136 Milliarden Dollar, zehnmal soviel wie in die genannten sieben Länder floss. 1997 betrug die
Gesamtsumme an ausländischen Direktinvestitionen in die zehn EU-Anwärterstaaten 11,5 Milliarden Dollar, 1998 betrug sie 16,5 Milliarden
Dollar. Das ist immer noch weniger als 1994 an ausländischen Direktinvestitionen allein nach Irland floss (nämlich 17 Milliarden Dollar).
Der Größenordnung nach waren die ausländischen Direktinvestitionen also eher
bescheiden. Sie wurden aber auch sehr ungleich verteilt.
Die meisten Direktinvestitionen flossen nach Ungarn, Polen und in die Tschechische Republik
1994 konzentrierten diese Länder 59% der Investitionen auf sich. Problematisch ist auch der Charakter der Investitionen und ihre
Auswirkungen auf die Wirtschaften der betroffenen Länder.
Viele Direktinvestitionen dienten der Marktforschung, nicht der Produktion. Anfang der 90er Jahre
flossen im Vergleich zu Ungarn wenig Direktinvestitionen nach Polen, doch in dem Maße, wie die polnische Wirtschaft in den späten 90er Jahren
erstarkte, holten ausländische Direktinvestitionen nach. Der polnische Markt (der immerhin 1996 eine Bevölkerung von 39 Millionen Menschen
hatte) wurde für ausländische Investoren attraktiv. Vor allem die Erschließung neuer Märkte in Zentral- und Osteuropa zog einen
großen Teil der Direktinvestitionen an, in erster Linie die rasch steigenden Märkte für nichtdauerhafte Konsumgüter wie Tabak
(BAT, Philip Morris), Reinigungsmittel (Henkel, Procter and Gamble, Unilever), Speisen und Getränke (Nestle, BSN, Parmalat, Pepsico). Die Strategie
der ausländischen Direktinvestoren in Zentral- und Osteuropa konzentriert sich auf die Suche nach neuen Märkten.
Ausländische Investitionen und ein großer Teil der EU-Expansion werden aber auch von
der Aussicht auf Produktion mit niedrig bezahlten und gut ausgebildeten Arbeitskräften angezogen. Vor allem multinationale Konzerne sind in
Industrien eingedrungen, die durch den Zusammenbruch des RGW und ausländische Konkurrenz zerstört wurden. EU-Konzerne bauten
verlängerte Werkbänke in der Textilindustrie auf deren Produktion stellte 1995 80% des polnischen und 50% des tschechischen
Textilexports dar. Die Subunternehmer ruinieren die einheimische Industrie und haben dabei nur eine zeitlich begrenzte Perspektive, weil westliche Konzerne
noch billigere Arbeitskräfte in der Ukraine und in Rumänien suchen. Westliche Multis fanden aber auch die niedrigen Löhne in der
Schwer- und Maschinenbauindustrie attraktiv, z.B. im Fahrzeugbau (General Motors, Volkswagen, Fiat, Suzuki), im Kraftwerksbau (Siemens, ABB), in der
Chemieindustrie (Rhône-Poulenc).
Drei Viertel der Auslandsinvestitionen der EU-Multis in Ungarn und Bulgarien gehen in Niedriglohn-
Produktion, die für den Wiederexport in die EU bestimmt ist; in der Tschechischen Republik, Polen, der Slowakei, Slowenien und in über der
Hälfte der baltischen Staaten sind es zwei Drittel. Deutschland ist mit 23% aller ausländischen Direktinvestitionen in Zentral- und Osteuropa
sowie Russland der größte Investor in der Region.
Halbperipherie
Die Hauptfrage bei der Betrachtung der ausländischen Investitionen in Zentral- und Osteuropa ist, ob sie eine nachhaltige Entwicklung
befördert oder ob der Region in der sich herausbildenden neuen internationalen Arbeitsteilung damit der Platz einer Halbperipherie zugewiesen wird.
Ob ausländische Direktinvestitionen der wirtschaftlichen Entwicklung förderlich sind,
hängt weitgehend von den Prioritäten ab, die die multinationalen Konzerne setzen. Anna Pollert hat gezeigt, dass Kapitalinvestitionen realen
Nutzen für die Modernisierung bringen können z.B. hat es in Tschechien einen erheblichen Zuwachs im Aufbau von Netzen, der
Digitalisierung und der Schulung von Management im Bereich der Telekommunikation gegeben. Dennoch kommt sie zu der Schlussfolgerung, dass "die
multinationalen Konzerne nur gemäß ihrem Interesse an globalen Operationen investieren, der Nutzen für die lokale Ökonomie ist
Gegenstand ständiger Reibereien zwischen den Investoren auf der einen, Regierungen und Gewerkschaften auf der anderen Seite".
Die Vorzeigestaaten für die westliche Strategie sind Ungarn und Polen. Zwischen 1990 und
1997 hat Ungarn über die Hälfte aller ausländischen Kapitalinvestitionen in die Länder Zentral- und Osteuropas aufgesaugt; die
Firmen, die im Export am erfolgreichsten sind, sind in ausländischem Besitz. Der Anteil von Produkten mit hohem Mehrwert an den Exporten in die EU
ist zwischen 1989 und 1997 um 30% gestiegen. Der Anteil von Maschinen und Transportmitteln stieg in diesem Zeitraum von 12% auf 50%.
Die Auswirkungen auf den Rest der ungarischen Wirtschaft, die nicht in ausländischem Besitz
ist, ist unklar. Es ist möglich, dass einige Länder Zentral- und Osteuropas, besonders diejenigen, die an die EU grenzen und zur "ersten
Welle" der Erweiterungsstaaten gehören, eine eigenständige Kapitalakkumulation erfahren und dem Schicksal, zur Peripherie degradiert zu
werden, entkommen. Das allgemeine Muster, das wir oben beschrieben haben, wird jedoch wahrscheinlich zum Muster für die meisten Länder
Zentral- und Osteuropas werden.
Fazit: Die EU-zentrierte Arbeitsteilung, die durch dieses Investitionsmuster geschaffen wird, macht es
den Ländern Zentral- und Osteuropas schwer, wenn nicht unmöglich, eine eigenständige Kapazität als industrielle Produzenten
aufrechtzuerhalten. Das Muster, das hier in den 90er Jahren geschaffen wurde, ist das einer arbeitsintensiven Produktion mit niedrigem Mehrwert, die für
den Export in die EU bestimmt ist und von den westeuropäischen multinationalen Konzernen kontrolliert wird.
Das Muster dieses Verhältnisses ist uns aus anderen Beziehungen zwischen Zentrum und
Peripherie bekannt, z.B. zwischen den USA und Lateinamerika oder Südostasien. Dazu gehören:
die Kontrolle über die Produktmärkte; die Konzentration und Zentralisation von
Kapital in den Händen der multinationalen Konzerne; der Zwang zur schrankenlosen Konkurrenz; die Kontrolle über die Regionen mit dem
dynamischsten Marktwachstum; Maßnahmen, die die Staaten Zentral- und Osteuropas daran hindern, nationale Strategien für die
Restrukturierung ihrer Industrie zu entwickeln; gleichzeitig Maßnahmen, die sie zwingen, ihre Handelsstrukturen zu öffnen;
der Aufkauf örtlicher Unternehmen und die Erzwingung der Privatisierung von
Staatsbetrieben (1994 gab es in Ungarn z.B. schon 4000 Betriebe, die ganz oder teilweise in ausländischer Hand waren).
Die Finanzsysteme
Die Dominanz der EU über die Strukturen des Rechts- und Finanzsystems der Ländern Zentral- und Osteuropas.
Dieser Aspekt fällt Beobachtern des Erweiterungsprozesses am leichtesten auf. Er vollzieht sich
unter dem Label der Harmonisierung der Wirtschaften dieser Länder mit den Regeln des EU-Binnenmarkts. Hinter der Fassade der
Assoziierungsabkommen mit der EU verbirgt sich die Wirklichkeit der Öffnung und Umstrukturierung nach den Interessen des EU-Kapitals mit
Berichten über erzielte Fortschritte, Prozessen des Prüfens und Beobachtens, wieweit die Länder den "acquis communautaire"
(den EU-Standard) respektieren und erfüllen. Dazu gehört:
dass die Nichtkernländer gezwungen werden, ihre Rechts- und Finanzsysteme zu
ändern, für das internationale Finanzkapital zu öffnen, ausländische Kontrollen und Spekulation zuzulassen;
dass sie ihre Währung sofort konvertibel machen müssen;
dass sie legale Institutionen und ein Rechtssystem aufbauen, das die dauerhafte Dominanz des
Kapitals aus den Kernländern sichert.
All diese Merkmale findet man in den Ländern Zentral- und Osteuropas seit dem Zusammenbruch
der "kommunistischen" Regime Ende der 80er Jahre. Das EU-Kapital hat eine dominante Rolle im Produktions- und Exportsektor
übernommen, das US-Kapital eine führende Rolle bei der Umstrukturierung der Finanzsysteme.
Es muss nicht betont werden, dass der Prozess sich rücksichtslos über das Leben der
Werktätigen hinwegsetzt und Massenarmut, die Zerstörung sozialer Beziehungen und viel Elend hervorbringt. Dem neuen Beziehungsgeflecht
wurde jedoch durch den scheinbar neutralen und wohltätigen Prozess der EU-Erweiterung ideologische Legitimität gegeben.
Integration und Anpassung
Die Einbeziehung der aufstrebenden kapitalistischen Klassen in den Ländern Zentral- und Osteuropas in die Institutionen, die vom euro-
atlantischen Kapital für die Region geschaffen wurden, und das Fehlen jedes internationalen Zusammenschlusses von Gewerkschaften oder
sozialdemokratischen Parteien, der in der Lage wäre, der Entwicklung etwas entgegenzusetzen.
Auf diesem Feld gibt es bislang noch nicht viele Untersuchungen. Im Allgemeinen haben die
aufstrebenden kapitalistischen Klassen in den Ländern Zentral- und Osteuropas sowie in Russland die neuen Regulierungsinstitutionen, die ihnen von
den USA und der EU vorgesetzt wurden, bereitwillig wenn nicht enthusiastisch angenommen. Peter Gowan schreibt dazu:
"Überall gab es eine starke Tendenz, dass die neuen Eliten der kapitalistischen Klasse sehr
positiv auf die Impulse der USA in Richtung Finanzkapital reagiert haben. Sie haben sich aus dem direkten Engagement im industriellen Sektor gelöst
und sind in Finanzdienstleistungen und den Rentenmarkt geströmt. Sie haben andere Wirtschaftsaktivitäten dem Finanzsektor untergeordnet und
konnten nichtmonetären Besitz in Finanzanlagen umwandeln, die sie dann sicher ins Ausland bringen konnten."
Einige Regierungen haben sich dem neuen Regime teilweise widersetzt. In der Frühzeit leistete
die ungarische Regierung einen stummen Widerstand; die "nationalistischere" slowakische Regierung hat versucht, ihre industrielle Basis und
Eigentumsstruktur vor den räuberischen Westkonzernen zu schützen. Ähnliche Versuche gab es in Bulgarien und Rumänien; meist
ist der Widerstand jedoch zusammengebrochen.
Die Schwäche der Arbeiterbewegung, den Folgen der Schocktherapie und der Kapitalisierung
etwas entgegenzusetzen, ist für einige Länder gut belegt. Es gibt ausgezeichnete empirische Studien in englischer Sprache über Russland
und die Ukraine (von David Mandel und Simon Clarke) und über die Tschechische Republik (von Anna Pollert). Es ist eine Geschichte der
Schwäche, der Zersplitterung und des Niedergangs. Örtliche Unternehmerverbände sind ebenfalls schwach, aber die multinationalen
Konzerne brauchen sie nicht. In einer Studie über die Beziehungen in der Arbeitswelt in Zentral- und Osteuropa im Jahrzehnt nach den
"Revolutionen" von 1989 umreißt Pollert die Situation folgendermaßen:
"Die Versuche der Arbeiterschaft, ihre Beschäftigungsbedingungen unter den neuen,
kapitalistischen und vom freien Markt diktierten Verhältnissen zu beeinflussen, waren ein mühseliges Unterfangen. Internationale
Gewerkschaften und drittelparitätische Institutionen wie der Internationale Bund Freier Gewerkschaften und die ILO haben die Arbeiter ermuntert, sich
zu organisieren und Gehör zu verschaffen.
Die EU, die ja damit beschäftigt ist, die demokratischen Verfahren in den Ländern Zentral-
und Osteuropas zu harmonisieren, wird eine Überregulierung der Beschäftigung nicht unterstützen, weil sie Geschäftsinteressen
entgegenstehen könnte. Und IWF und Weltbank drängen auf eine Deregulierung der angeblichen Hindernisse für die freie Entfaltung des
Marktes."
Die Erfahrungen mit Widerstandsaktionen der Arbeiter waren auch gemischt: Streikaktionen an der
Basis wurden nicht begleitet von einem nachhaltigen Aufbau gewerkschaftlicher Macht.
Die Schwäche der Arbeiterbewegung in Russland und in den zentral- und
osteuropäischen Ländern zeichnet sich aus durch das Fehlen eines internationalen Zusammenschlusses von Gewerkschaften und
sozialdemokratischen Parteien, die dieser Entwicklung etwas entgegensetzen könnten. EU- und US-Gewerkschaften sind natürlich mit den
Gewerkschaften in Zentral- und Osteuropa und Russland verbunden. Doch ihr Handeln war und ist vorrangig darauf orientiert, die westeuropäischen
Gewerkschaftsstrukturen überzustülpen und Formen der Drittelparität zu befördern. Im wesentlichen geschieht dies auf offizieller
Ebene; in keinem Fall wurden dabei umfassendere politische Fragen nach den notwendigen Strategien gegen Neoliberalismus und die Abdrängung der
Länder Zentral- und Osteuropas an die Peripherie angegangen.
An der Basis gibt es bei vielen Arbeitern in der EU, besonders in Deutschland, Ängste vor
Sozialdumping und vor den Auswirkungen der Osterweiterung auf die Löhne. Die Folgen der deutschen Einheit waren eine Absenkung des
gewerkschaftlichen Organisationsgrads und eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen obwohl das regulierte westdeutsche System der
Arbeitsbeziehungen formal nach Osten transferiert wurde. Der Druck der Westkonkurrenz führte zu einer Deindustrialisierung in Ostdeutschland, die
die Arbeiterklasse geschwächt hat.
Manche auf der Linken hofften, ein Wiederaufschwung des sozialdemokratischen Keynesianismus unter
der Führung von Oskar Lafontaine werde europaweit einen Wirtschaftsaufschwung in Gang setzen, der auch der schwachen und verwundbaren zentral-
und osteuropäischen Wirtschaft auf die Beine helfen würde. Doch dies trat nicht ein.
Sozialdemokratische und postkommunistische Parteien, die in diesen Ländern an der Regierung
sind, haben einige Versuche unternommen, die sozialen Ausgaben auszuweiten (so die SLD in Polen), andere wiederum haben drakonische
Austeritätsprogramme aufgelegt mit scharfen Schnitten in die Sozialhaushalte (so die HSP in Ungarn). Die Zwänge, denen diese Parteien
unterliegen, vor allem, wenn sie an der Regierung sind, liegen auf der Hand: Sie kommen nicht nur von der EU, dem IWF und der Weltbank, sondern auch von
den Koalitionspartnern (die Liberalen in Ungarn, die Bauernpartei in Polen).
Die Frage nach dem Widerstand wird jedoch nicht angemessen aufgeworfen, wenn dies nur aus der
Perspektive nationalstaatlichen Handelns oder gewerkschaftlicher bzw. parteipolitischer Organisation geschieht. Die ist zwar für jede Strategie von
Bedeutung, zentral ist aber ihr Zusammenspiel mit den Klassenkonflikten und dem gesellschaftlichen Widerstand. […]
Die Rolle der USA
Was war die Rolle der USA in diesem Prozess und wie hat sie die Beziehungen zwischen den Kernländern der EU und den Ländern
Zentral- und Osteuropas beeinflusst?
Das ist eine sehr große Frage, die wir hier nur in geraffter Form behandeln können. Die
USA haben für die Beziehungen zwischen der EU und den Ländern Zentral- und Osteuropas eine Schlüsselrolle gespielt und werden dies
weiter tun. In zweierlei Hinsicht: zum einen bezogen auf ihre globale Strategie gegenüber Europa, zum anderen wegen ihrer dominierenden Rolle in der
Transformation der Gesellschaftssysteme in Zentral- und Osteuropa.
Die globale Strategie der USA gegenüber Europa kann wie folgt zusammengefasst werden:
1. die USA wollen die dominierende Militärmacht in Europa bleiben mit starkem politischen
Einfluss auf die EU-Staaten;
2. sie wollen ihre dominierende Stellung in den auswärtigen Angelegenheiten Europas behalten
durch Aufrechterhaltung der politischen Struktur der NATO;
3. sie wollen die Macht haben, die Beziehungen zwischen der EU und Russland, besonders aber die
Beziehungen zwischen Deutschland und Russland zu beeinflussen;
4. sie wollen eine machtvolle ökonomische US-Präsenz in Europa aufrechterhalten
(über US-Multis und eine starke US-Präsenz in den neuen Wachstumssektoren).
Die Fähigkeit der USA, die Beziehungen zwischen der EU und ihren südöstlichen
Nachbarn zu beeinflussen, wurde im Kosovokrieg machtvoll vorgeführt. Die politische und militärische Integration der Länder Zentral-
und Osteuropas in die NATO wird ein wichtiges Instrument in den Händen der USA bei der Bestimmung der künftigen Beziehungen nicht nur zu
Russland, sondern auch zur Ukraine und den Staaten des ölreichen Kaspischen Meeres (Georgien, Aserbaidschan) sein.
Die USA haben auch eine führende Rolle bei der Bestimmung des Charakters der
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation in den Staaten Zentral- und Osteuropas gespielt. Die wichtigsten Elemente ihrer Strategie, die nach wie
vor den Entwicklungsweg der zentral- und osteuropäischen Länder prägen, waren:
1. die Auflösung des RGW, wodurch die wirtschaftlichen und Handelsbeziehungen zwischen
den Ländern Zentral- und Osteuropas sowie zwischen diesen und Russland zerstört wurden und die Durchsetzung getrennter bilateraler
Beziehungen zwischen diesen Ländern und der EU;
2. die Schocktherapie die schnelle Privatisierung von Staatseigentum, die Erzwingung einer
Kontrolle über Haushalte und Finanzen durch IWF und Weltbank, die Öffnung der Handelsbeziehungen für westliche Konkurrenz, die
Öffnung von Sektoren der Industrie und des Finanzwesen für Eigentum und Kontrolle durch EU- bzw. US-Kapital mit der Folge der
Deindustrialisierung und des massiven Niedergangs des Bruttosozialprodukts;
3. die Überstülpung einer bestimmten Form kapitalistischer Institutionen über die
Staaten (offener internationaler Handel, Konvertierbarkeit der Währung, Offenheit für ausländische Investitionen, Mitgliedschaft in und
Unterwerfung unter zentrale kapitalistische Institutionen wie den IWF, das GATT usw.);
4. die Umlenkung der Wirtschaften der Länder Zentral- und Osteuropas auf exportorientiertes
Wachstum, das auf die EU orintiert ist;
5. das Winken mit einer eventuellen EU-Mitgliedschaft als Belohnung für die Unterwerfung.
Die Auflösung des RGW und die Herstellung von getrennten Beziehungen mit jedem einzelnen
zentral- und osteuropäischen Staat stellte den verheerendsten Schlag gegen die Ökonomien dieser Region dar. Sie schwächten die
einzelnen Staaten massiv in ihren Verhandlungen mit der EU und führten zu einem Niedergang historischen Ausmaßes, von dem nur Polen und
Ungarn begonnen haben, sich zu erholen.
Die Frage nach den Alternativen
Zur Frage der zwischenstaatlichen Beziehungen und Sicherheitskonzepte hat die europäische Linke seit dem Zusammenbruch Osteuropas
seriöse Analysen und politische Alternativen vorgelegt. Ernsthaften Diskussionsbedarf gibt es weiterhin über die UNO-Intervention und die
Rolle der OSZE im Sicherheitskonzept eines künftigen Europa. Bei den Fragen, die die Erweiterung und künftige Entwicklung der EU betreffen,
ist die Linke in ihren Analysen sehr viel schwächer. Viele der nachfolgenden Überlegungen sind deshalb unfertig und nicht frei von Spekulation.
In der sich auf die Arbeiterbewegung beziehenden Linken in der EU wie auch in Zentral- und Osteuropa gibt es zwei grundsätzliche
Herangehensweisen an die Frage der Erweiterung. Die einen sehen darin ein kapitalistisches Abenteuer und sind dagegen (rufen zum Nein bei
Volksabstimmungen auf). Eine Variante dieser Haltung ist die, das Problem als ein randständiges abzutun und mit dem Klassenkampf im eigenen Land
weitermachen. Die anderen sind für die Erweiterung, kämpfen dabei aber für zwei miteinander zusammenhängende Ziele:
a) die Durchsetzung besserer Bedingungen für die Länder Zentral- und Osteuropas
z.B. die volle formelle Gleichstellung in Fragen wie das Agrarprogramm der Gemeinschaft, die Freizügigkeit für die Arbeitskraft usw.);
b) der Kampf für eine andere Europäische Union Kritik der EU-Institutionen (z.B.
der Europäischen Zentralbank), Forderung nach mehr Demokratie usw. mit anderen Worten: eine Kampagne zur Transformation der EU.
Der Prozess der Osterweiterung kann, gleich welche Probleme er bringt, zu einem wirklichen
Katalysator für eine europaweite Kampagne zur Veränderung der EU werden. Wir können die Frage der Osterweiterung nicht von den
umfassenderen Problemen in der EU heute trennen.
Erweiterung auf Grundlage der Gleichheit
Wir stehen für den zweiten Ansatz. Wir argumentieren für "Erweiterung auf der Grundlage der Gleichheit". Das kann
natürlich unterschiedliches bedeuten. Es gibt eine formelle und eine reale Gleichheit. Auf der formalen Ebene haben wir schon angesprochen, dass die
Kernländer der EU den Länder Zentral- und Osteuropas gewisse formale Gleichstellungen verwehren können (bezüglich der
Arbeitsmigration, des Exports von Agrargütern, des gleichen Stimmrechts in diversen EU-Gremien). Wir sollten die Fähigkeit der EU, diese
formalen Rechte zuzugestehen, nicht unterschätzen ernsthafte Analysen über die Kosten der freien Arbeitsmobilität, des vollen
Ausgleichs in der Agrar- und Strukturpolitik, usw. zeigen, dass sie nicht so unmöglich hoch liegen, wie einige politisch motivierte Zahlen nahelegen.
Eine Anhebung des EU-Haushalts um 12% des BSP ist nicht unmöglich.
Aber es ist auch sehr gut möglich, dass den Ländern Zentral- und Osteuropas für
eine längere Übergangsperiode nicht die gleichen formellen Rechte verliehen werden. Dies ist mindestens implizit in sozialdemokratischen
Kritiken an der Agenda 2000 enthalten. In eine ähnliche Richtung geht die Forderung, gleicher Zugang dürfe nicht auf Kosten der ärmsten
Regionen der bestehenden EU gehen. Hier wird die Sorte Kriterium kritisiert: "Wenn du soundsoviel Prozent unter dem EU-Durchschnitt liegst,
bekommst du das Geld" denn in diesen Fällen führt der Beitritt ärmerer Länder notwendig zur Absenkung der
bestehenden regionalen Strukturhilfen, weil der Einkommensdurchschnitt sinkt.
Die formalen Rechte gehen nicht allein die Staaten und Regierungen etwas an, sondern unmittelbar
auch die Arbeiterbewegung. Das beste Beispiel ist hierfür die Sozialgesetzgebung der EU. Sie berührt so unterschiedliche Gebiete wie die
Gleichstellung von Männern und Frauen, die Koordination der Systeme der sozialen Sicherheit, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, die
Arbeitsgesetzgebung zu Massenentlassungen, Unternehmensinsolvenz, Arbeitszeiten, Europäische Betriebsräte, Erziehungsgeld und
Teilzeitarbeit. Die EU-Gesetze in diesen Bereichen gehören zum "acquis communautaire", aber die soziale Dimension wird in der Politik
der EU-Kommission und bei der Vorbereitung der Osterweiterung extrem niedrig gehängt. Die Ressourcen, die die Kommission dafür zur
Verfügung stellt, sind niedriger als die für Handel oder Haushalt. Ohne eine Einmischung der Arbeiterbewegung werden die formalen Rechte
ziemlich wenig bedeuten.
Aber die Forderung nach voller rechtlicher Gleichstellung reicht nicht. Sie stellt lediglich eine
Mindestvoraussetzung für den Erweiterungsprozess dar. Die Linke möchte aber mehr, denn diese Forderung liefe darauf hinaus, die EU im Prozess
ihrer Erweiterung zu belassen, wie sie ist, und nur zu verhindern, dass sie ungleicher wird. Wir haben die bestehenden Strukturen der EU aber niemals als
zureichend empfunden.
Die nächste Stufe bestünde also darin festzustellen, welche tieferen Veränderungen
wir für die EU für nötig halten im allgemeinen wie auch bedingt durch den Erweiterungsprozess. Hier werden die Aussagen sehr
spekulativ. Wir wollen aber einige Fragen aufwerfen, von denen wir meinen, dass die Linke sie stellen muss.
1. Demokratie
Die Erweiterung wirft die Frage auf, wie in der EU Entscheidungen getroffen werden: die Ausweitung des Mehrheitsvotums, der Charakter der
Kommission, die Arbeitsweise des Europaparlaments. Ein Schlüsselproblem ist die alte Frage nach dem "Demokratiedefizit". Wir
würden eine maximale Ausweitung der Rechte des Parlaments auf Kosten der Kommission und des Ministerrats befürworten, die
Rechenschaftspflicht der Kommission gegenüber dem Parlament und reale Macht für das letztere. Wir würden auch parlamentarische
Kontrolle über die Zentralbank verlangen.
2. Wirtschaftliche und andere Ziele.
Wir würden Forderungen aufstellen, die den Schwerpunkt der EU-Politik weg von der Preisstabilität als ihr einzig mögliches
wirtschaftspolitisches Ziel hin auf zentrale Forderungen wie Vollbeschäftigung (bei reduzierter Wochenarbeitszeit), ökologische Nachhaltigkeit,
Verringerung der Armut und Ungleichheit zwischen Regionen und Individuen verlagert. Wichtiger als eine Wunschliste ist dabei die Schaffung von
Instrumenten, damit solche Ziele demokratisch auf europäischer Ebene bestimmt werden können.
3. Der Haushalt.
Die Verringerung der Ungleichheit und Armut in Europa erfordert einen viel größeren EU-Haushalt mit bedeutenden steuerlichen
Transfers. Die Arbeiterbewegung kann in ganz Europa von einem größeren EU-Haushalt und einem stärkeren Element der Umverteilung
nur profitieren. Wie bei einem nationalen Haushalt und Regierungsausgaben auf nationaler Ebene sollten wir dies unterstützen, dabei aber fordern, dass
die Steuern zur Finanzierung eines solchen Haushalts vom Kapital und von den Reichen getragen werden, nicht von der Arbeiterschaft. Seine Finanzierung
aus der Mehrwertsteuer ist ein Rückschritt; wir sollten die Einführung einer europaweiten Unternehmen- und Einkommensteuer fordern.
Wir wären für eine Anhebung des EU-Haushalts, auch wenn dies dazu dienen sollte,
auftretende Probleme mit dem Euro zu bewältigen (z.B. Steuertransfers als Antwort auf eine drohende Rezession in bestimmten Ländern, sofern die
Gefahr der Abwertung gebannt ist) aber dies ist möglicherweise strittig.
4. Die EU und andere Länder.
Hier geht es vor allem um die Beziehungen zwischen den Beitrittsländern und dem Rest Osteuropas. Der Erweiterungsprozess könnte
den beitretenden Ländern stärkere Entwicklungsmöglichkeiten bieten, ohne Extrakosten für die EU, wenn den Ländern
Zentral- und Osteuropas Abweichungen von gewissen Regelungen des Binnenmarkts gestattet würden: z.B. staatliche Beihilfen für die Industrie,
Abweichungen bei der Wettbewerbspolitik, den Finanzdienstleistungen. Um die Kontrolle ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik durch die führenden
kapitalistischen Mächte zu beschränken, sollten wir fordern, dass alle Staaten das Recht haben müssen, darüber zu entscheiden, wie
sie ihre Finanzsysteme ausgestalten wollen, welche Kontrollen sie über Kapitalkonten ausüben wollen, usw.
Langfristig sollte die Linke lieber den Abriss der protektionistischen Mauer um die EU fordern, statt
Ausnahmeregelungen für Handelshemmnisse und die Freizügigkeit der Menschen in bestimmten Fällen. Das wirft dann die dornige Frage
auf, wie die Linke es mit Protektionismus und Freihandel hält. Die Linke hat in den letzten Jahren dem Protektionismus viele Konzessionen gemacht
das ist wirtschaftlich wie politisch eine Sackgasse. Im vorliegenden Fall brauchen wir aber gar nicht für den Freihandel an sich zu
argumentieren, nur dafür, dass die EU ihre Handelsbarrieren gegenüber Russland, der Ukraine und anderswo abbaut. Wir würden von
diesen Ländern keine Gegenleistung verlangen.
5. Kapitalkontrolle
Der bestehende Deregulierungsdruck, den die EU ausübt, und sein Einsatz zur Durchsetzung von Marktdisziplin im europäischen
Binnenmarkt, müssen umgekehrt werden. Von den Institutionen der EU muss verlangt werden, dass sie die Freiheit des Kapitalverkehrs
überprüfen, das "soziale Modell" der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit gegen Deregulierungsdruck nach US-Muster
verteidigen und es ausweiten. Ein wesentlicher Punkt wäre seine Ausdehnung nach Osten. Dies würde eine expansionistische Steuerpolitik
erfordern, soll es nicht zu hoher Arbeitslosigkeit kommen.
Das alles sind natürlich keine sozialistischen Forderungen. Sie ähneln eher traditionell
sozialdemokratischen, keynesianischen Forderungen, ausgedehnt auf die europäische Ebene. Ihre praktischen Chancen, langfristig erfolgreich zum
Einsatz zu kommen, sind gering, weil der Druck des EU-Kapitals, den hohen Steuern und starkem Regulierungszwang, die ein solcher Entwicklungsweg
beinhaltet, zu entgehen, enorm wäre; auch die Beibehaltung undemokratischer Entscheidungsstrukturen in der EU sind für das EU-Kapital von
großem Vorteil. Sozialistische Forderungen wären eher auf mobilisierende Forderungen gerichtet, um die herum Kampagnen aufgebaut werden
können.
Dies alles wirft die Frage auf, welche Haltung die Linke zum aktuellen Beitrittsgesuch von Ländern Zentral- und Osteuropas haben soll. Ein
erster Schritt wäre die Forderung nach formaler Gleichstellung der neuen Mitglieder in der EU und Forderungen, die auf eine auch reale Gleichstellung
abzielen.
Damit bleibt immer noch die Frage offen, was zu tun ist, wenn den Forderungen nicht stattgegeben wird
und die Länder dennoch in die EU wollen. Wir meinen, es wäre keine gute Idee, von der Linken in diesen Ländern zu verlangen, sie sollen
gegen den Beitritt agieren. Eine solche Kampagne würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach in die Isolierung führen, sie würden damit eher
in die Nähe der nationalistischen Rechten rücken, denn in die fortschrittlicher Kräfte.
Unter diesen Umständen sollten wir das Recht der betreffenden Länder verteidigen, der
EU beizutreten, wenn sie dies wünschen, gleichzeitig versuchen mit ihnen dahingehend zu agieren, dass eine EU geschaffen wird, an der sie auf
gleichberechtigter Basis teilnehmen können.
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