Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.22 vom 26.10.2000, Seite 15

Revolutionäre US-Justiz

Es war nur eine kleine Meldung — zu Unrecht, denn sie eröffnet große Perspektiven: In den USA hat ein Gericht den bosnischen Serben Radovan Karadzic wegen Völkerrechtsverbrechen zu der Zahlung von 4,5 Milliarden Dollar verurteilt. Rechtsgrundlage: ein 221 Jahre altes Gesetz. Karadzic war während des Prozesses nicht anwesend, und das Gericht hat auch nicht auf dem Balkan getagt. Also ein Urteil in Abwesenheit des Angeklagten, der auch nicht einmal US-amerikanischer Staatsbürger ist.
Ein wahrhaft revolutionäres Urteil, ganz aus dem Geist der Epoche, in der das Gesetz erlassen wurde: 1779. Man mag sich fragen, wie oft und wann zuletzt das Gesetz angewandt wurde, wann und warum es vergessen wurde, warum gerade jetzt ein Richter sich an dieses Gesetz erinnert, ob die US-amerikanische Justiz über 200 Jahre lang geschlafen hat.
Nun, wir leben im beginnenden 21.Jahrhundert, und jetzt sind die Vereinigten Staaten offenbar imstande, die Menschenrechte, damals visionär ersonnen, weltweit mit Stealth-Bombern, Uranmunition und Splitterbomben durchzusetzen. Dass auch das Strafrecht seiner Zeit schon so weit voraus war, sollte also nicht überraschen und nunmehr produktiv aufgenommen werden.
Nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip können nationale Gerichte schwere Völkerrechtsverbrechen aburteilen. Allerdings muss sich der Delinquent im territorialen Einzugsbereich ihrer Rechtsprechung befinden. Dieses Prinzip ist im §6 des deutschen Strafgesetzbuchs verankert und wird auch im US-amerikanischen Strafrecht anerkannt.
Das wiederentdeckte Gesetz von 1779 erleichtert die ganze Prozedur jedoch enorm. Die USA brauchen die Verdächtigen nicht mehr mit umständlichen Methoden zu entführen wie im April 1990 den mexikanischen Arzt Dr.Machain aus Mexiko, oder sogar ein Land zu überfallen wie 1989 Panama, um den aus dem Ruder gelaufenen ehemaligen Verbündeten Manuel Noriega zu kidnappen; Israel hätte 1988 nicht den Atomwissenschaftler Mordechai Vanunu aus Rom entführen müssen, etc.
Wenn man genauer hinsieht, erkennt man freilich, dass es den Regierungen in solchen Fällen eigentlich nicht um den Prozess geht — der dann ohnehin meist mit denkbar geringem rechtsstaatlichem Aufwand geführt wird —, sondern um die Präsentation des jeweiligen Teufels im eigenen Gefängnis.
Dieses Gesetz lebt von der Kraft der Symbolik — hier liegt seine Mission und Zukunft. Wenn man Putin, Gadhafi, Khatami, Kim Jong-Il oder Castro nicht vor den Internationalen Gerichtshof stellen kann, dann eben vor irgendein nationales Gericht. Denn jener ist noch lange nicht arbeitsfähig und wird gerade von den USA wegen der möglichen Rückwirkungen auf ihr eigenes Militär und ihre eigenen Politiker kategorisch abgelehnt.
Wie sagte doch der amerikanische Chefankläger 1946 in Nürnberg? "Wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher zu reichen bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen." Wer wollte das schon von der US- Administration verlangen, denn sie wäre dran: Angriff auf Tripolis, Golfkrieg, Jugoslawienkrieg, Bombardements im Sudan und in Afghanistan.
Man sollte den USA nur Mut bei der Anwendung des wiederentdeckten Gesetzes wünschen. Pinochet, Baby Doc, Mobutu, Kieu Samphan etc. warten immer noch auf den Becher.
Und was ist mit Slobodan Milosevic? Die selben USA, die den Internationalen Strafgerichtshof fürchten, stehen hinter dem Internationalen Jugoslawien-Tribunal, das über Milosevic richten soll. Dieses Tribunal ist jedoch nicht ermächtigt, gegen abwesende Beschuldigte zu verhandeln.
Ein Prozess nach dem Gesetz von 1779 aber könnte vielleicht einen Staatsanwalt auf den Gedanken bringen, auch den Bombenkrieg der NATO auf Völkerrechtsverbrechen und den Anteil unserer Elite Schröder, Fischer und Scharping daran zu untersuchen. Und dann sollten wir das Gesetz im Deutschen Bundestag einbringen, um auch Clinton & Co. bei ihrer Menschenrechtsarbeit mit unserer Justiz begleiten zu können.

Norman Paech

Aus: Ossietzky, Nr.20, 7.10.2000.

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