Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 09.11.2000, Seite 1

Berliner Republik

Leitkultur und Anständigkeit

Am 9.November präsentiert sich der "große Konsens" gegen rechte Gewalt. Angesichts des breiten Aufruferkreises, der von Gregor Gysi bis zum CDU-Populisten Friedrich Merz, vom Arbeitgeberpräsidenten Dieter Hundt bis zum DGB-Chef Dieter Schulte reicht, braucht es niemanden zu wundern, dass selbst die leisesten Erklärungsansätze für den Rechtsextremismus im knapp gehaltenen Aufruf keinen Niederschlag finden.
Die CDU, die sich sonst vor gemeinsamen Initiativen mit der PDS hütet, hat kein Problem damit, einerseits für ein "menschliches, weltoffenes und tolerantes Deutschland" zu werben, und gleichzeitig bei jeder Gelegenheit von einer "deutschen Leitkultur" als Maßstab für künftige Einwanderung zu reden. Der neue Generalsekretär der Partei, Laurenz Meyer, bekennt sich sogar öffentlich zu seinem "Stolz, Deutscher zu sein".
Auf was? Etwa auf die deutschen Ballermänner, von denen tausende in den warmen Monaten auf der Ferieninsel Mallorca nur noch ein Ziel haben: so viel zu trinken, wie die Leber aushält? Meinen er und seine Parteifreunde mit "Leitkultur" deutsche Hundebesitzer, die zu zehntausenden auf die Straße gehen, wenn es um die "Würde ihrer Kampfhunde" geht und die nicht einmal davor zurückschrecken, einigen ihrer Tiere Judensterne anzuheften?
Weitaus weniger Menschen beteiligen sich in Deutschland an Demonstrationen und Kundgebungen gegen Rechtsextremismus und seinen Ursachen. Schlimmer noch: Die Vorschläge zur Abschaffung des Rechts auf politisches Asyl finden nicht nur Zustimmung bei einem Teil der Unionsparteien und der Regierungskoalition, auch das Meinungsklima in der Gesellschaft hat sich seit Anfang der 90er Jahre geändert. Umfragen bestätigen die Zunahme negativer Einstellungen gegenüber Migranten und Asylbewerbern.
Der Begriff "deutscher Leitkultur" fängt dieses Klima, das der Freiburger Politikwissenschaftler Dieter Oberndörfer als "moralischen Tiefpunkt der neuen Berliner Republik" bezeichnet, ein und wertet es zu einer überlegenen völkischen Nationalideologie auf.
Ein vordergründig geschickter wahltaktischer Schachzug der CDU, der nicht nur die Stammtische erreicht: Auch Hans-Olaf Henkel, Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie, der den Vorstoß der CDU gegen ein Einwanderungsgesetz kritisiert hatte, begrüßt die Debatte um die "deutsche Leitkultur": Die Regelungen zur Zuwanderung müssten den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts gerecht werden. Dazu gehöre "Verständnis für die Geschichte, Tradition und Kultur Deutschlands".
Der Kulturbegriff der "Leitkultur"-Protagonisten ist völlig statisch — wenn sie von "Integration" sprechen, meinen sie "Anpassung". Ihrer Ansicht nach handelt es sich bei der Kultur um ein Phänomen, dass sich kaum ändert. Dabei hat erst kürzlich bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels die algerische Schriftstellerin Assia Diebar darauf aufmerksam gemacht, dass Kultur eben nicht etwas Abgeschlossenes ist, sondern sich nur durch Austausch, Dialog und Auseinandersetzung von außen entwickeln kann.
Bei kritischen Nachfragen ziehen sich viele Verfechter der "deutschen Leitkultur" auf die Notwendigkeit einer Akzeptanz der geltenden Rechtsnormen zurück. "Auch der Ausländer, der vielleicht morgen abgeschoben wird, soll sich heute noch auf unseren Straßen sicher fühlen", fasst Bayerns Innenminister Beckstein sein Rechtsbewußtsein zusammen.
Einem ähnlichen Rechtspositivismus huldigt die SPD. Während sich NRW- Ministerpräsident Clement an den vergangenen Wochenenden in Dortmund und Düsseldorf anlässlich von NPD-Aufmärschen medienwirksam als "Freund der Fremden" inszenierte, ließ sein Innenminister Behrens zwei Sprecher des kurdischen Wanderkirchenasyls trotz massiver Proteste in die Türkei abschieben.
Mehmet Kilic, einer der beiden Kurden, ist bereits von türkischen Sicherheitskräften festgenommen und misshandelt worden. Das weitere Schicksal der Abgeschobenen in der Türkei, deren Regierung gerade ihre unbequem gewordene Menschenrechtsbeauftragte entlassen und durch einen Vertreter der rechtsextremen Regierungspartei MHP ersetzt hat, ist ungewiss.
Wo sich die SPD als politischer Akteur tummelt, darf die PDS nicht fehlen. So auch auf der Demonstration am 9.November. Dabei hätte sie gerade zu diesem Anlass öffentlichkeitswirksam den staatlichen Rassismus und damit den Widerspruch zwischen Anspruch und Realität einiger aufrufender Parteien und Organisationen zur Sprache bringen können. Aber die Gefahr ist zu groß, selbst ins Kreuzfeuer der Kritik zu geraten.
"Abschiebung ist Folter — auch unter Holter", hieß es auf einem Transparent auf dem Cottbuser Parteitag Mitte Oktober in Anspielung auf den stellvertretenden Minsterpräsidenten der PDS in Mecklenburg-Vorpommern.
Viele PDSler haben den inhaltsleeren Aufruf für den 9.November mitunterzeichnet, einschließlich der neuen Parteivorsitzenden Gabriele Zimmer, die mit ihrer auf dem Parteitag bekundeten "Liebe" zu Deutschland bei den kritischen Genossinnen und Genossen der PDS ein mittelschweres Erdbeben ausgelöst hat. Die innenpolitische Sprecherin Ulla Jelpke warnt ausdrücklich vor einer "Deutschtümelei", die ein falsches Signal sei. Viele Stimmen artikulieren zumindest ein Unbehagen wegen der "Liebe zu Deutschland", doch die Parteispitzen stärken ihrer Vorsitzenden den Rücken.
Dieter Dehm, stellvertretender Parteivorsitzender der PDS, ist sogar der Ansicht, dass Zimmer voll ins Schwarze getroffen hat. "Wir lassen uns nicht von Bismarck, Hitler und Adenauer die Schelle der vaterlandslosen Gesellen umhängen", unterstreicht Dehm, "wer sagt, er liebe Deutschland, der liebt doch nicht gleichzeitig die Herrschenden". Das wusste sogar der rechte Sozialdemokrat, Ex-Bundeskanzler und ehemalige Wehrmachtsoffizier Helmut Schmidt in den 70er Jahren besser. "Ich liebe nicht den Staat, ich liebe meine Frau", sagte er in Anlehnung an eine Aussage seines Parteigenossen und Bundespräsidenten Gustav Heinemann.
Aber die Zeiten haben sich geändert. Heute wird der deutsche Staat selbst von Linken akzeptiert, obwohl seine nationalsozialistische Vergangenheit alles andere als bewältigt ist, wie man am zehn Jahre währenden Aufschwung des Rechtsextremismus sieht.
Die Demonstration am 9.November ist um ein Bild des "Anstands" bemüht, dass sich vor allem am Ansehen Deutschlands im Ausland orientiert. Um die Interessen des Wirtschaftsstandorts zu sichern und um bei der internationalen Konkurrenz um hochqualifizierte Fachkräfte der Informationstechnologie im Rennen zu bleiben. Davon wird weder ein Neonazi beeindruckt sein, noch eine der Grundlagen des Rechtsextremismus angegriffen.

Gerhard Klas

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