Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 09.11.2000, Seite 7

Das neue Signal aus den USA

Die Kandidatur Naders drückt einen Aufschwung der Klassenkämpfe aus

Die US-Präsidentschaftswahlen fanden am 7.November (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe der SoZ) statt. Das hervorstechende Merkmal dieser Wahl war die Kandidatur des bekannten Konsumentenanwalt Ralph Nader, der für die Green Party kandidierte. Nader ist seit hundert Jahren der erste Präsidentschaftskandidat, der außerhalb des etablierten Zweiparteiensystems mit einer kapitalismuskritischen Haltung einen hohen Stimmenanteil gewinnt. Seine Anhängerschaft wurzelt in den jungen Leute, die in den Universitäten, Betrieben und anläßlich solcher Tagungen wie die der WTO in Seattle, des IWF und der Weltbank in Washington ihren Protest gegen die Diktatur der multinationalen Konzerne zum Ausdruck bringen. Zu Zeiten des Vietnamkriegs hat sich der Protest auf der Straße noch nicht in einer alternativen Wahlorientierung niedergeschlagen — da wählte man trotz allem dennoch demokratisch. Mit Nader hat sich das geändert. Der nachstehende Artikel wurde vor der Wahl geschrieben.
Die Meinungsumfragen geben Nader nur 3% der Stimmen derer, die wahrscheinlich zur Wahl gehen würden; unter den wahrscheinlichen Nichtwählern und den Erstwählern wird eine deutlich größere Unterstützung ausgemacht. Zu den Erstwählern gehören hauptsächlich Studierende auf den Colleges und junge Lohnabhängige unter 30, die die Nase voll haben von den "RepubliCrats", wie Nader die beiden großen Parteien zusammenfasst.
Viele Linke und die meisten Liberalen sorgen sich, dass Naders Erfolg dem "kleineren Übel", Al Gore, die Präsidentschaft kosten könnte. Naders Stimmen könnten zu einer harten rechten Regierung führen, die für die Arbeitenden eine Katastrophe wäre. Stimmt mit dem Kopf, nicht mit dem Herzen — so lautet ihre Botschaft.
Diese Sorge wäre berechtigt, ginge man davon aus, dass Politik mit Wahlen anfängt und dass das, was Regierungen tun, auf dem basiert, was die Parteien während des Wahlkampfs sagen. Doch genau das Gegenteil ist wahr.
Die meisten Menschen in den USA, die wählen können, denken nicht so. Sie denken, dass es keine Rolle spielt, ob man zur Wahl geht oder nicht. Die "Generation X" ist der Politik des Status quo am meisten entfremdet. Sie ist es, die vor einem Jahr in Seattle protestiert hat und jetzt zu den Kundgebungen für Nader geht.
Naders Wahlkampfveranstaltungen sind phänomenal: es sind große Versammlungen für den sozialen Wandel. Auf vielen Veranstaltungen, die von ehrenamtlich Tätigen organisiert wurden, wurde Nader wie ein Rock- oder Hiphop- Star gefeiert. Dabei wurden die Teilnehmenden um Spenden von mindestens 20 Dollar ersucht. In New York waren am 13.Oktober 15.000 Menschen auf einer Wahlkampfveranstaltung im Madison Square Garden. 10.000—12.000 bejubelten Nader in Portland, Minneapolis, Seattle und Boston.
Etwa 10.000 kamen am 10.Oktober in den Pavillon der Universität von Illinois in Chicago, um Nader zu hören. "Das Publikum war überwiegend jung, weiß und begeistert", berichtete ein Augenzeuge. "Nader lieferte einen sehr linke, kämpferische Attacke gegen die Konzerne und benutzte sogar mehrfach den Begriff Kapitalismus. Er griff auch die Todesstrafe und den Rassismus in der Umweltpolitik an. Seine Rede wäre eines Eugene Debs zu seinen besten Tagen würdig gewesen." (Eugene V. Debs war Anfang des 20.Jahrhunderts mehrfach Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei.)
Mit anderen Worten, es finden zwei Präsidentschaftswahlkampagnen statt. Die eine umfasst die beiden großen bürgerlichen Parteien, sie spiegelt sich in den Medien und in der Wall Street. Die andere richtet sich an die "wahrscheinlichen Nichtwähler", d.h. vorwiegend an neu radikalisierte junge Leute (überwiegend Weiße), die von Naders Anti-Konzern-Botschaft inspiriert werden. Diese Kampagne wird von den großen kommerziellen Medien kaum berücksichtigt, aber sie ist neu und möglicherweise bedeutender.
Traditionelle Anhänger Naders, die ihn vor allem wegen seines Engagements als Konsumentenanwalt loben, kritisieren seine Wahlkampagne heftig. Dies wirft erneut die Frage auf, wie sinnhaft es ist, das "kleinere Übel" als Strategie zur Verteidigung der abhängig Beschäftigten zu unterstützen, wenn es auf Massenebene keine Alternative zu den kapitalistischen Parteien gibt.
Das Hauptproblem mit diesem Argument ist der falsche Glaube, soziale Veränderungen fingen erst mit Wahlpolitik an. Das war noch nie so. Auf der anderen Seite gibt es keine Partei der Arbeiterklasse, die heute siegen könnte; eine der beiden großen bürgerlichen Parteien wird gewählt werden. Deshalb wäre es richtiger zu sagen, es gibt ein "kleineres Übel" im Rahmen der bürgerlichen Politik.
Die Frage ist aber: Kümmert uns das?
Es gibt Wahlkreise, in denen das Wählerpotenzial mehrheitlich noch rechts von Bush steht. Die Republikanische Partei ist mehr und mehr eine Partei von überwiegend Weißen, christlichen Fundamentalisten, Bossen des Großkapitals und weißen Arbeitern, die gegen "Sonderrechte" für Minderheiten, Frauen und Schwule eintreten.
Der harte Kern der Demokratischen Partei besteht aus Gewerkschaftern, Führungspersönlichkeiten der Bürgerrechts- und Frauenbewegung, Afroamerikanern, Latinos und asiatischen Amerikanern. Sie neigen dazu, liberaler zu sein.
Aber beide Parteien sind arbeiterfeindlich und proimperialistisch. In der Außenpolitik ist die Politik von Gore und Bush ähnlich (beide unterstützen z.B. das israelische Regime entschieden gegen die Palästinenser).
Zwischen den beiden Parteien geht es um relative, aber reale Differenzen darüber, wie die Kapitalisten über die Arbeitenden herrschen sollen. Was die Parteien an der Regierung tun, wird nicht von ihren Wahlplattformen bestimmt oder vom Inhalt ihrer Reden, sondern vom gesellschaftlichen Druck, dem sie jeweils ausgesetzt sind; und ob sie alles durchsetzen können, was sie wollen, wird auch durch das Ausmaß des Widerstands der Arbeiterklasse und der sozialen Bewegungen bestimmt.
Unabhängige Arbeiterpolitik beginnt nicht mit Wahlen. Sie beginnt auf der Straße, mit außerparlamentarischen Aktionen, mit öffentlichen Massenkampagnen. Die Proteste gegen die kapitalistische Globalisierung in Seattle, Washington, Melbourne und Prag sind Beispiele wirklicher Politik.
Alle wesentlichen Änderungen in der US-Geschichte haben außerhalb des Wahlgeschehens begonnen. Sie wurden den kapitalistischen Herrschern und ihren Parteien aufgezwungen. Zu den jüngsten Beispielen gehören die Massenkämpfe, die zum Ende der gesetzlichen Rassentrennung in den 60er Jahren und zum Rückzug des US-Militärs aus Vietnam Anfang der 70er Jahre führten. Die Gerichte und andere kapitalistische Institutionen initiieren selten einen Wandel. Sie reagieren nur darauf, was die abhängig Beschäftigten und andere tun.
Die Hauptbedeutung der Nader-Kampagne liegt darin, dass sie nicht in erster Linie eine Wahlkampagne ist. Nader erklärt, dass seine Kampagne für Demokratie und gegen das "Duopol" der beiden Parteien auch nach den Wahlen weiter gehen wird. Das Ziel ist, eine Alternative 365 Tage im Jahr aufzubauen, eine breite Bürgerbewegung für einen grundlegenden Wandel.
Der Fehler mancher Linker, die die Furcht vor den Rechten benutzen, um ihre Unterstützung für das "kleinere Übel" zu rechtfertigen, liegt darin, dass sie die politische Dynamik der Präsidentschaftskampagne Naders und ähnlicher Kampagnen der Green Party auf staatlicher und lokaler Ebene nicht erkennen. Wenn Nader 5—10% der Stimmen auf nationaler Ebene oder in vielen Bundesstaaten bekommt, kann das enormen Einfluss auf die Politik haben. Zehntausenden könnte das Kraft geben, sich für ihre Interessen einzusetzen.
In diesem Sinne hat die Nader-Kampagne bereits gewonnen. Sie hat angefangen, das politische Bewusstsein zu heben und viele von der herrschenden Politik entfremdete junge Menschen dazu gebracht, sich den Kämpfen gegen die kapitalistische Globalisierung und für den Weltfrieden anzuschließen und aktiv soziale Anliegen zu unterstützen. Diese Jugend ist die Grundlage für eine neue Linke.

Malik Miah

Malik Miah ist Mitglied der US-amerikanischen revolutionär-sozialistischen Organisation Solidarity. Der Beitrag erschien ursprünglich in "Green Left Weekly" (Sydney), Nr.425, 25.10.2000.
< >


Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04


zum Anfang