Sozialistische Zeitung |
Das Ende des 20.Jahrhunderts scheint geprägt von der Erneuerung der Hegemonie des nordamerikanischen Kapitals
über die Weltwirtschaft nach dem Ende des Kalten Krieges. Die USA und ihre bedeutendsten multinationalen Konzerne haben noch jede Krise nutzen
können, um Hindernisse für ihre Akkumulationsziele zu beseitigen und neue Strukturen und Beziehungen zu schaffen, die ihre neuen
Errungenschaften festigen. Von der Verabschiedung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zur neuen Welthandelsorganisation (WTO),
vom "Krieg gegen die Drogen" in Lateinamerika zur kriminellen Bombardierung des Irak und Jugoslawiens ist scheinbar niemand in der Lage
gewesen, der Macht der USA etwas entgegenzusetzen.
Wurzeln für eine neue Revolte
Die Stärkung ihrer wirtschaftlichen und politischen Hegemonie hat dennoch nicht zu einer neuen Vorherrschaft der Art geführt, die die
USA nach dem Zweiten Weltkrieg entfalteten. In zweifacher Hinsicht ist der neue Aufstieg der US-Macht wackliger als in der Periode des
Wirtschaftswachstums, die die USA zusammen mit den anderen führenden Wirtschaftsmächten nach dem Krieg ein Vierteljahrhundert lang erlebt
haben.
Erstens wirkt der Neoliberalismus, d.h. die Politik, die von der Mehrheit der Regierungen in der Welt
praktiziert wird, vom Standpunkt des Kapitalismus aus nicht mehr als politisches Phänomen und als stabilisierender Faktor. Die wirtschaftlichen
Turbulenzen in Ostasien und vor allem die lang andauernde und augenscheinlich irreversible Stagnation einer ehedem so mächtigen Wirtschaft wie der
Japans sind Anzeichen dafür, dass jede Hoffnung auf eine stabile Weltlage schwindet.
Symbol für die Krise des Neoliberalismus als politische Bewegung ist der weltweite Aufstieg
einer bedeutenden Opposition in den letzten Jahren, besonders in der Arbeiterklasse und unter den proletarisierten Bauern. Massenstreiks gegen die
neoliberale Politik und ihre Auswirkungen haben an vielen Orten stattgefunden. Die Ähnlichkeit dieser Massenaktionen in so
unterschiedlichen Ländern wie Zimbabwe, Kolumbien, Frankreich, Griechenland, Russland, Südkorea, Kanada u.a. führt uns vor
Augen, dass die Arbeiterklasse im Weltmaßstab nicht aufgehört hat zu wachsen, wenngleich die Mehrheit derjenigen, die im globalisierten
kapitalistischen System arbeiten, außerhalb eines formalen Lohnarbeitsverhältnisses steht,
Tatsächlich ist selbst in den OECD-Ländern, in denen es einen industriellen Niedergang
mit Umstrukturierungen großen Ausmaßes gegeben hat, die Zahl der in der Industrie Beschäftigten gestiegen, wenngleich
geringfügig: von 112 Millionen im Jahr 1973 auf 113 Millionen im Jahr 1994. Im sog. "wirtschaftlichen Süden" einschließlich
der früheren "kommunistischen" Länder ist die Industriearbeiterschaft von 285 Millionen (1980) auf 407 Millionen (1994)
gestiegen. Bewegungen der Arbeiterklasse, die in den 60er und 70er Jahren unterdrückt worden waren, sind in zahlreichen Ländern der Dritten
Welt und in Südeuropa wieder erwacht oder haben sich zum erstenmal zu Wort gemeldet. In Griechenland, Spanien und Portugal wurde der Faschismus
gestürzt, Gewerkschaften wurden dort wieder legal. Ende der 90er Jahre drückten diese neuen wie alten Bewegungen ihre Opposition gegen die
verheerenden Auswirkungen von fast zwei Jahrzehnten Neoliberalismus aus.
Zweitens geht der Wiederaufschwung der führenden Wirtschaftsmächte seit zwanzig Jahre
einher mit einer Senkung des Lebensstandards der großen Mehrheit der Bevölkerung, während der Lebensstandard der Amerikaner in der
Epoche des lang dauernden Nachkriegsbooms durchschnittlich gestiegen ist. Der Wall-Street-Spezialist Stephen Roach definiert die wirtschaftliche
Expansion der 90er Jahre in den USA als einen "Aufschwung, der die Arbeitenden zermalmt". So lag das Reallohnniveau 1998 um 12% niedriger
als 1979.
Der allgemeine Niedergang geht einher mit einer scharfen Spaltung zwischen den drei Vierteln der
Bevölkerung, deren niedriges Einkommen weiter gesunken ist, und dem privilegierten Viertel, dessen Einkommen gestiegen sind. Unter diesen
Bedingungen hat es in jüngster Zeit in den USA keinen Massenstreik oder Generalstreik gegeben, aber es gibt jetzt erneut Klassenkämpfe auf
hohem Niveau. Weit davon entfernt, die materielle Basis einer dauerhaften ideologischen Unterordnung der Mehrheit der Arbeiterklasse zu liefern, wurde die
neue Macht des nordamerikanischen Kapitals teilweise mit einem zunehmendn Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen der großen
Mehrheit der Bevölkerung erkauft.
Ein wichtiger Faktor der veränderten Bedingungen ist die umfassende Umstrukturierung der
Organisation der Arbeit und des Arbeitsmarkts, die sich aus der Flexibilisierung der Produktion ergibt. [...] Eine Folge davon ist die Intensivierung der
Arbeit. Wenn schon die Herren an der Macht nicht auf die Klagen der Beschäftigten hören wollen, so doch zumindest Stephen Roach, der im Wall
Street Journal schrieb: "Der sog. Wiederaufschwung der Produktivität in den letzten Jahren ist das Ergebnis dieser Zerstörungs- und
Zermalmungsstrategien, die einen ungeheuren Druck auf die Arbeitskraft ausgeübt haben." Roach zögert nicht einmal, Gegenreaktionen
seitens der Arbeitenden vorauszusagen.
Eben. Zu einem gegebenen Zeitpunkt kann sich eine Situation ergeben, wo der Druck und die
Erniedrigung durch eine intensivierte Ausbeutung mehr wiegt als die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. So geschah es während der
Großen Depression 19291932. Ein Sektor der Wirtschaft nach dem anderen tastet sich vor und sondiert das Terrain; trotz aller Manöver
der Gewerkschaften und aller Projekte der Klassenkollaboration zwischen Belegschaftn und Geschäftsleitungen brechen erneut offene Konflikte aus.
Darin liegt die Bedeutung der gewaltsamen Streiks, die in den letzten Jahren stattgefunden haben. Manche erlitten eine Niederlage (Caterpillar und
A.E.Staley). Andere (z.B. Wheeling-Pittsburg) endeten, ohne dass Nennenswertes dabei herauskam. Wieder andere haben etwas erreicht, bspw. die
Kämpfe bei UPS 1997; in verschiedenen Unternehmen der Telekommunikation 1998; die Streiks, die sich über zweieinhalb Jahre in Werk 17 von
General Motors hinzogen; der kurze Streik bei Dunlop; der 69-tägige Streik bei Boeing; der einwöchige Generalstreik der Staatsbediensteten
von Oregon; der Streik an der Yale-Universität und der 54-tägige Kampf bei WCI Steel in Warrene (Ohio).
Dazu muss man noch die massiven Streiks von ArbeitsimmigrantInnen und Latinos an der
Westküste hinzuzählen: Hausmeister, Wäschereibeschäftigte und Zimmerleute in Los Angeles, Lkw-Fahrer im Hafen derselben
Stadt und in Seattle, Hafenarbeiter in Südkalifornien. Und: der Kampf für die Organisierung von 20000 Erdbeerpflücker in Kalifornien,
einer geringeren Zahl von Apfelpflückern im Staat Washington und Gurkenpflückern in North Carolina.
Diese Kämpfe und ähnliche weitere in verschiedenen Regionen des Landes haben ein
neues Phänomen zum Vorschein gebracht: der Anstieg der Zahl der Latinos nicht nur unter den Arbeitskräften, sondern auch in den
Gewerkschaften. Während zwischen 1992 und 1996 der allgemeine gewerkschaftliche Organisationsgrad unaufhörlich sank, ist die Zahl der
organisierten Latinos um 12% gestiegen.
In der langen wirtschaftlichen Expansion der 90er Jahre ist damit in weiten Teilen der US-
amerikanischen Arbeiterklasse ein kämpferischer Geist zurückgekehrt. Allerdings ist es bisher noch nicht wieder zu Tarifverhandlungen im
traditionellen Stil gekommen, mit Streiks zur Durchsetzung höherer Löhne und Prämien. Die Streiks und die Kämpfe waren zum
großen Teil defensiv, oft von sehr langer Dauer und gewalttätig, zumeist zentriert um Probleme der Beschäftigung und der
Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt; sie waren auch in wachsendem Maße "politisch" in dem Sinne, dass man (manchmal bewusst)
Forderungen aufstellte, die alle abhängig Beschäftigten ansprechen sollten. Damit konnten die Streikenden Sympathien wecken und
Unterstützung erhalten. Die Streiks bei Staley, bei den Detroiter Zeitungen und bei UPS gingen in diese Richtung; auch die Streiks 1998 bei General
Motors und in der Telekommunikation haben die Sympathie einer Bevölkerungsmehrheit erworben.
Die Streiks der letzten Jahre haben die Widersprüche des "business unionism" (der
Gewerkschaftspraxis, die auf der konzertierten Aktion mit den Unternehmern beruht) bloßgelegt. Gleichzeitig haben sie oftmals die neue Macht
enthüllt, über die organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter vielfach verfügen. Die Streiks bei Staley, bei Caterpillar und bei den Detroiter
Zeitungen scheiterten zum Teil weil örtliche und landesweite Streikführer ausgestiegen sind oder sogar geholfen haben, die Streiks an die
Wand zu fahren. Aber es ist dennoch beeindruckend, dass der Kampf bei den Zeitungen trotz allem mit einer aktiven Beteiligung der Streikenden fortgesetzt
wurde.
Bei General Motors 1998, wo klar war, dass die Gewerkschaft eine enorme Macht hatte, den Betrieb
lahm zu legen, haben sich nationale Gewerkschaftsführer geweigert, auf das Kampfmittel Streik zurückzugreifen, um bedeutende Erfolge
landesweit und selbst auf örtlicher Ebene zu erzielen. Sie votierten stattdessen für maßvolle Ziele, die oft rückgängig gemacht
werden konnten und die wesentlichen Probleme, die sich aus der Umstrukturierung des Konzerns und der Auftragsvergabe an Subunternehmer ergaben, nicht
lösten. Hingegen wurden bedeutende Erfolge in der Telekommunikation erreicht dank neuer Taktiken, dank der Mobilisierungen der Mitglieder
und mit Hilfe von öffentlichen Kampagnen.
1995 kam es zu einem bedeutenden Wechsel an der Spitze der AFL-CIO. Während der gesamten
90er Jahre hat es in zahlreichen Gewerkschaften Revolten der Basis gegeben; eine Zeitlang haben aktive Basisgewerkschafter die Leitung der Lkw-Fahrer-
Gewerkschaft, der Teamsters Union, erobert, die 1,4 Millionen Mitglieder umfasst. Nach diesen Erfolgen gab es Rückschläge.
Doch es ist klar, dass sich mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts in der US-amerikanischen
Gewerkschaftsbewegung etwas geändert hat.
Innere Dynamik der Gewerkschaftsbewegung
Das neue Bewusstsein und die neue Militanz kommen vor allem aus der Schicht der aktiven Gewerkschaftsmitglieder. Es sind die
Beschäftigten, die betrieblichen Vertreter und die örtlichen Funktionsträger, die das tägliche Leben der Gewerkschaften vor Ort
aufrechterhalten. Diese Menschen bewegen zwischen der oberen Schicht der karrierebewußten Hauptamtlichen auf der einen und der Mehrheit der
Mitglieder auf der anderen Seite. Manche sind Funktionsträger, viele jedoch sind es nicht. Sie müssen sich der Realität vor Ort stellen, in
Opposition zur herrschenden Ideologie der konzertierten Aktion, die sie teilen oder auch nicht.
Eine bedeutende Minderheit in dieser Schicht lehnt in jedem Fall die Kungelei zwischen Unternehmern
und Gewerkschaftskarrieristen ab. Vor allem in dieser Schicht entwickelt sich die Neigung, Widerstand zu leisten und die Passivität der Mitglieder
sowie die rückwärtsgewandte Unbeweglichkeit der Gewerkschaftsspitzen zu brechen.
Die Gewerkschaftsaktiven an der Basis wie auch die Gewerkschaftsspitzen stellen sich oft die Frage,
wie man auf die Veränderungen der Arbeitsorganisation und des Arbeitsmarkts reagieren kann. Anders als in europäischen Ländern und in
den USA zu anderen Zeiten gibt es nur einen Gewerkschaftsdachverband, die AFL-CIO. Es gibt keine Spaltung auf politischer Grundlage. Differenzen
über Alternativen oder politische Konzepte können sich nicht in einer Gewerkschaft entfalten, die als einzige das Recht hat, Verhandlungen zu
führen. Außerdem haben sich in den meisten Einzelgewerkschaften bürokratische Strukturen entwickelt, die sich die meisten
Gewerkschaftsführer in anderen Ländern gar nicht vorstellen können.
Entsprechend neigt der politische Konflikt dazu, einen fast sozialen Charakter anzunehmen: die Basis
gegen die Bürokraten. Die Formen dieser Konfrontation können vielfältig sein. Der Handlungsdruck, der von der Schicht der Aktiven
ausgeübt wird, ist eine davon: das war der Fall bei den Streiks von General Motors und Boeing.
Eine andere Form sind die Veränderungen an der Spitze. Laut der Allianz für
Gewerkschaftsdemokratie (AUD) wurden fast ein dutzend Gewerkschaftsvorsitzende seit dem Ende der 80er Jahre, d.h. seit dem Sieg des Oppositionellen Ron
Carey bei den Teamsters, in Wahlen kaltgestellt.
Dieser Gärungsprozess hat sich in den 90er Jahren fortgesetzt. In einer beträchtlichen
Zahl landesweiter Gewerkschaften gibt es eine bedeutende interne Aktivität, mehr als jemals zuvor: in Dienstleistungsgewerkschaften wie den Food
and Commercial Workers, bei anderen Dienstleistungsgewerkschaften, bei den Beschäftigten im Hotelgewerbe, bei Baugewerkschaften wie der IBEW
(Elektrikergewerkschaft), bei den Ziegeleiarbeitern, den Zimmerleuten, den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und bei Industriegewerkschaften
wie im Maschinenbau und in der Automobilproduktion.
Dieser Liste auf Landesebene ließen sich ähnliche Bewegungen in wichtigen
örtlichen Gewerkschaftsgliederungen hinzufügen: z.B. die Fraktion New Directions in Local 100 der New Yorker Transportarbeiter, die 30000
Mitglieder zählt; die Fraktion für eine demokratische Gewerkschaft im Local 1000 der Staatsangestellten von Kalifornien, die zweimal die
Kontrolle über eine Gewerkschaft von 40000 Mitgliedern gewonnen hat; die erfolgreiche Revolte in der Gewerkschaft der Verkehrsbetriebe von Atlanta
oder die Gruppe für die Reform der mächtigen Gewerkschaft der Hausmeister in New York, aus der auch John Sweeney, der jetzige Vorsitzende der
AFL-CIO, hervorgegangen ist.
Im berühmten Ortsverband Justice for Janitors in Los Angeles derselben Gewerkschaft hat eine
massive Oppositionsbewegung von Latinos und Afroamerikanern namens Multiethnische Allianz das Exekutivkomitee mit der alten Garde abgesetzt;
daraufhin wurde der Ortsverband auf direkte Intervention von Sweeney, der damals örtlicher Funktionär war, einer übergeordneten
Kontrolle unterstellt. Die Abspaltung der kämpferischen Gewerkschaft der Krankenschwestern in Kalifornien von der konservativen nationalen
Gewerkschaft 1996 stellt eine andere Form der Revolte von unten dar. Jüngst sind in verschiedenen Gewerkschaften Fraktionen aufgetaucht, die in
Opposition zu den traditionellen bürokratischen Apparaten stehen, (so in den Bereichen Automobil, Stahl, unter den Lehrern, den Zimmerleuten, im
Hotelgewerbe etc.).
Nirgendwo hatte die Herausforderung von unten mehr Erfolg, ist der Prozess der Reform der
Gewerkschaft weiter gegangen als bei den Teamsters. Die Wiederwahl von Ron Carey gegen Jimmy Hoffa Jr. 1996 kennzeichnete augenscheinlich das Ende
einer korrupten alten Garde und eröffnete eine neue Phase des Wandels. [...]
Die Dynamik der "Revolution bei den Teamsters", wie die Strömung Teamsters for a
Democratic Union (TDU) sie genannt hat, hat die TDU in die vorderste Reihe im Kampf für die Reform der Gewerkschaften und die Niederlage der alten
Garde katapultiert. Tatsächlich stellte sich die Frage, wie man die Normen einer Gewerkschaftspolitik überwindet, deren Inhalt die konzertierte
Aktion ist. Die Mehrheit der Aktiven hielt es für erforderlich, gut informierte und aktive Mitglieder zu haben, wenn man wirklich etwas ändern
wollte.
Diese Dynamik erlitt einen ernsten Rückschlag, als sich herausstellte, dass die externen Berater,
die zur Organisation der Kampagne für Carey 1996 eingestellt worden waren, gemeinsam mit dem politischen Leiter der Gewerkschaft in
betrügerischer Weise Gewerkschaftsgelder an die Kampagne für Carey transferiert hatten. Carey verlor das Recht, an der Wahl teilzunehmen, und
wurde schließlich ausgeschlossen, obwohl seine direkte persönliche Verantwortung niemals bewiesen wurde.
Nach diesen Ereignissen löste sich die Reformkoalition um Carey auf. Die Bewegung um die
TDU brauchte Monate, um wieder auf die Beine zu kommen. Die Liste, die sie zu den Wahlen 1998 präsentierte, spiegelte die Ideen derer, die über
ein "Gewerkschaftertum der konzertierten Aktion" hinausgehen wollten. Aber ihr Kandidat, Tom Leedham, war nicht ausreichend bekannt und
hatte nur sechs Monate Zeit für seine Kampagne. Außerdem reagierten die Gewerkschaftsmitglieder auf die Anschuldigungen gegen Carey mit
einem zynischen Reflex: nur 28% beteiligten sich an der Wahl, das war die niedrigste Beteiligung seit der ersten Wahl 1991. Jimmy Hoffa Jr., der Sohn des
bekannten Gewerkschaftsführers der 60er Jahre, siegte mit 54% der abgegebenen Stimmen.
Aber der neue Geist, der sowohl in der Reformbewegung der TDU als auch im Streik bei UPS zum
Ausdruck kam, war kein Zufallsprodukt. Er hat den Sieg Hoffas überlebt. Er ist 1999 beim Streik von 1000 Arbeitsimmigrantinnen bei IBP in Pascaux
(Staat Washington) mit Macht wieder aufgetaucht. Bei diesem Anlass wurde die TDU-Führerin Maria Martinez zur ersten Gewerkschaftsdelegierten des
Unternehmens gewählt. In Opposition zur alten weißen Garde kämpfte die Koalition unter Führung der TDU gegen die
unerträglichen Arbeitsbedingungen, was schließlich zum Streik führte.
Derselbe Geist der Revolte zeigte sich auch bei Anheuser-Busch, wo die Gewerkschaftsmitglieder
mehrfach Abkommen abgelehnt haben, die ihnen die Vertreter der alten Garde und die internationale Führung um Hoffa aufzwingen wollten.
Die von der TDU unterstützte Basisbewegung wird erneut um die Führung der
Gewerkschaft kämpfen müssen. Die Reformer bei den Teamsters aber müssen sich die Frage stellen, vor der auch die Arbeiterbewegung in
ihrer Gesamtheit steht: Was für Gewerkschaften, was für Bewegungen müssen aufgebaut werden, damit sie auf die Macht der großen
kapitalistischen Gruppen, die internationale Konkurrenz und die Vorherrschaft der konservativen Politik antworten können?
Viele Kämpfe der aktuellen Phase haben in gewisser Weise einen politischen Charakter gehabt.
Wie wir erwähnten, hat der Streik bei UPS Aufmerksamkeit erregt und die Unterstützung der Arbeiteröffentlichkeit erhalten. Zahlreiche
Kämpfe haben den Staat auf der Seite der Unternehmer gesehen, was zur Politisierung vieler Gewerkschaftsaktivisten beigetragen hat.
Der Kampf von Local 100 der Transportarbeitergewerkschaft von New York verdeutlicht auf seine
Weise, wie ein "bloßer" Arbeitskampf einen politischen Charakter erhalten kann. Der Kampf für einen neuen Vertrag Ende 1999
mündete in eine vielschichtige Auseinandersetzung. Die bloße Verhandlung zwischen der Gewerkschaft und den Verkehrsbehörden
hätte bei heranrückender Urlaubszeit ohne die Aktion des Netzwerks New Directions (ND) des Local 100 niemals eine größere
Bedeutung erlangt.
ND begann in den 80er Jahren als Informationsnetz namens "Hölle auf
Rädern". Gegen Ende der 90er Jahre ist es zu einer machtvollen Bewegung geworden, die ungefähr 40% des Führungsapparats einer
örtlichen Gewerkschaftsorganisation mit 35000 Mitgliedern kontrolliert und den U-Bahn-Sektor beherrscht. 1998 verfehlte ihr Kandidat für den
Vorsitz in Local 100 den Sieg nur um einige hundert Stimmen.
Genau wie bei früheren Tarifverhandlungen führte diese Strömung ihre eigene
begleitende Kampagne. Aus Furcht, dass ND Ende Dezember die Gewerkschaft zu einem Streik treiben könnte, der den Verkehr lahmlegte, griff New
Yorks Bürgermeister Giuliani persönlich ein und erreichte vor Gericht nicht nur ein totales Streikverbot, sondern auch die Untersagung der
Verwendung des Begriffs "Streik" durch gleich welches Gewerkschaftsmitglied.
ND war nun mehr als nur eine machtvolle Bewegung an der Basis: für eine gewisse Zeit wurde
die Strömung zum Mittelpunkt der Politik der Stadt. Der Hauptgrund war, dass der Tarifvertrag mit dem Verkehrssektor der erste in einer ganzen Reihe
von Tarifverträgen war, die mit zehntausenden Beschäftigten bei der Stadt ausgehandelt werden mussten. Für die Gewerkschaft dieser
Beschäftigten hat ND eine ähnliche Rolle gespielt wie der Streik bei UPS für das ganze Land.
Die Basisaktivisten verschiedener Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes der Stadt schlossen
sich nämlich zusammen und bildeten eine Koalition. Giuliani, der bei den Verhandlungen mit der Verkehrsbehörde keine Rolle spielte, hatte
Angst vor einer Vielzahl von Kämpfen, die in höheren Lohnzahlungen durch die Stadt gemündet wären. Somit zeichnete sich ein
echter Klassenkonflikt ab.
Die Aufgaben der Sozialistinnen und Sozialisten in den gegenwärtigen Revolten
Eine Reflexion über die gegenwärtigen Aufgaben der Sozialisten1 in den USA ist eine dringende Aufgabe. Von Reagan bis Clinton
haben die US-Regierungen eine endlose Zahl extrem schneller Kriege geführt, was uns nicht die Zeit gelassen hat, eine wirksame Opposition zu
organisieren. Die rassistische Politik in den Gefängnissen und die Gerichtsstrafen haben ebenfalls unvorstellbare Ausmaße angenommen. Die
Zunahme der Armut, die Zwänge des Sozialstaats, die Drohung mit einem ökologischen Desaster und eine massive politische Rechtsentwicklung
all dies scheint die Linke zu erdrücken oder sie zu zwingen, an allen Fronten gleichzeitig zu kämpfen.
Sicher, es gibt auch ermutigende Zeichen: nicht nur die Revolten in den Betrieben und Gewerkschaften,
auch die Ausdehnung von Arbeiterorganisationen, die ihre Basis in den communities haben, die Zunahme von übergreifenden Kampagnen und
Organisationen in den Gewerkschaften und eine neue Generation von Studierenden und jungen Aktiven, die sich mit schlechten Arbeitsbedingungen, dem
"Freihandel" und anderen wichtigen Fragen beschäftigen.
Die Mobilisierungen von Seattle Ende 1999 haben dies bekräftigt. Hier und da waren sogar
Siege zu verzeichnen. Aber das grundlegende Problem bleibt das der Macht. Die Multis und die Politiker, die von ihnen so großzügig
unterstützt werden (natürlich die staatlichen und multilateralen Organisationen, die sie leiten), verfügen darüber in Fülle,
während wir über gar keine Macht verfügen.
Dies führt uns geradewegs zum Ausgangspunkt zu Marx und zur Arbeiterklasse. Marx
hat nicht auf die Arbeiterklasse gesetzt, weil er ihr eine überlegene Moral oder klare Vorstellungen zu einem gegebenen Zeitpunkt zugeschrieben
hätte, auch nicht, weil er auf eine unbegrenzte Wirksamkeit der Gewerkschaften gesetzt hätte. Dies alles kann bei abhängig
Beschäftigten als Individuen fehlen, ebenso wie bei Angehörigen anderer Klassen.
Nein, Marx hat auf die Arbeiterklasse gesetzt, weil sie, ebenso wie die Bourgeoisie, das Potenzial hat,
die Dinge zu ändern. Ihre Macht leitet sich von ihrer Stellung in der Ökonomie und von ihrer Masse ab. Wie es der Dichter Shelley
ausdrückte: "Wir sind viele, sie nur wenige."2 Mehr noch, diese Klasse hat die Macht, den Reichtum der Gesellschaft zu schaffen und, wenn
sie als Klasse handelt, die Gesellschaft und die Produktion lahmzulegen.
Das Problem bestand immer darin, diese Macht zu organisieren und ihr einen bewussten Ausdruck in
einem gemeinsamen Ziel zu geben. Was wir hier betonen wollen, ist, dass es bereits einen Ausgangspunkt in Form des Widerstands und der Revolten an der
Basis gibt, in Form von Organisationen, die in den communities verankert sind, mit den erwähnten Übergangsformen. Sozialisten, die eine Rolle
beim Aufbau einer solchen Bewegung spielen können und spielen, brauchen sie also nicht zu erfinden.
Es handelt sich selbstredend um eine vielschichtige Strategie auf lange Sicht, um eine Perspektive, die
eine Arbeitsteilung erfordert, die am wirksamsten von Sozialisten realisiert werden kann, wenngleich es viele Individuen gibt, die dazu beitragen
können. Diese Strategie konzentriert sich in erster Linie, wenngleich nicht ausschließlich, auf die Gewerkschaften. Sie geht davon aus, dass
hauptsächlich Gewerkschaftsmitglieder diese Aufgabe übernehmen werden, auch wenn Aktive außerhalb der Gewerkschaften dabei eine
Rolle spielen.
Die Aufgaben der Sozialistinnen und Sozialisten in der Arbeiterbewegung lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
1. Basisbewegungen und Organisationen aufbauen, die für die wirksamsten, demokratischsten und nicht ausgrenzenden Gewerkschaften
kämpfen, im Rahmen wichtiger Kämpfe gegen die Unternehmer.
Wir können aus der Vergangenheit Lehren ziehen, bspw. aus den Kämpfen in Minneapolis
in den 30er Jahren, wie sie von Farrell Dobbs analysiert wurden.3 Aber wenn man realistisch sein will, muss man begreifen, dass die Bürokratie
heutzutage viel mächtiger und allgegenwärtiger ist. Man darf deshalb nicht annehmen, man könne Konflikte in den Gewerkschaften
vermeiden. Die Leute werden unter konkreten Bedingungen zum Kampf getrieben, diese werden im Wesentlichen vom Kapital bestimmt und seinen endlosen
Versuchen, Profite zu erzielen oder zu steigern.
Wir werden diese neuen Organisationsformen an der Basis und diese Bewegungen aufbauen, indem wir
von ihren jeweils eigenen Bedingungen ausgehen, aber gleichzeitig auch alle Kraft auf eine Analyse der sich stellenden Probleme verwenden. Wir nennen
diese soziale Bewegung Gewerkschaftsbewegung: eine Gewerkschaftsbewegung, die demokratisch ist, wie eine Bewegung funktioniert und nicht wie eine
Institution, und die sich an andere Schichten der Arbeiterklasse und der Unterdrückten wendet mit dem Ziel, eine Massenbewegung für
gesellschaftliche Veränderung aufzubauen.
2. Eine wachsende Zahl von übergreifenden Gewerkschaften aufbauen, die die ganze Klasse einbeziehen, Übergangsorganisationen,
Publikationen und Projekte, die einen breiteren klassenpolitischen Ansatz ermöglichen.
Das betrifft Umgruppierungen an der Gewerkschaftsbasis ebenso wie explizit oppositionelle
Gruppierungen: darunter Labor Notes, die ADU, Jobs with Justice, Kampagnen zur Unterstützung von Streiks und Kampagnen mit spezifischen Zielen.
Die bereits bestehenden Organisationen und Projekte bieten die Möglichkeit, Übergangsziele wie die Arbeitszeitverkürzung
voranzutreiben und damit ein lebendiges Beispiel von den verschiedenen Aspekten der Gewerkschaftsbewegung als soziale Bewegung zu geben.
3. Arbeiterorganisationen aufbauen, die in communities wurzeln und sich mit ihnen verbinden.
Solche Organisationen können sich an Schichten wenden, insbesondere Afroamerikaner, Latinos
und andere Minderheiten, die die Gewerkschaften nicht erreichen. Ebenso wie die Bewegungen an der Gewerkschaftsbasis bilden diese Organisationen und
Kampagnen eigene Führer und Aktive heraus, die die Macht aller abhängig Beschäftigten stärken und den Horizont der breiten
Arbeiterbewegung, die wir aufbauen wollen, erweitern.
4. Eine aktive internationale Arbeitersolidarität aufbauen.
Es gibt mehr und mehr Möglichkeiten, direkte Verbindungen zwischen den Arbeitenden
verschiedener Länder aufzubauen und sich an Solidaritätsaktionen in unserem Land zu beteiligen. Transnationals Information Exchange (TIE),
die Coalition for Justice in the Maquiladoras, Labor Notes und andere ermöglichen Kontakte zwischen Beschäftigten, die den Internationalismus
fördern.
5. Eine politische Klassenalternative aufbauen.
Dies bedeutet den Aufbau und die Stärkung der Labor Party4, unabhängige Kampagnen
auf einer Klassenbasis, Kampagnen für Mindestlöhne und für soziale Sicherheit, die auf Übergangsforderungen hinauslaufen.
6. Eine sozialistische Organisation aufbauen, die auf all diesen Ebenen der Aktivität der Arbeiterklasse operiert und zugleich allgemeinere
Ziele befördert, soziale wie auch ökonomische und politische.
In dem Maße, wie alle Mitglieder einer sozialistischen Organisation in den ersten vier Bereichen
engagiert sind, wird diese Organisation Wurzeln in den aktiven Teilen der organisierten Arbeiterbewegung haben, was die Voraussetzung für weitere
größere Entwicklungen ist.
Im Allgemeinen ermöglicht eine sozialistische Organisation auch eine koordinierte
Arbeitsteilung unter ihren Aktiven, was für eine Interventionsstrategie an der Basis wesentlich ist. Eine solche Organisation kann auch die Ideen des
Übergangs zu ihren sozialistischen Schlussfolgerungen führen, sie kann Sozialisten hervorbringen und ausbilden.
Bei allen Punkten, die wir aufgeführt haben, ist vom "Aufbau" die Rede weil die sozialistische Politik, von der wir
sprechen, den Aufbau von Bewegungen beinhaltet, von Kämpfen und von Organisationen. Gleichzeitig mit dieser Aktivität in der Welt der
Arbeit muss eine offene sozialistische Schulung und politische Orientierung betrieben werden. Diese Arbeit muss ohne Sektierertum durchgeführt
werden, indem verschiedenen sozialistischen Gruppen die Möglichkeit gegeben wird, in dem Maße zusammenzuarbeiten, wie sie miteinander
übereinstimmen, und auch in Verbindung mit den Gewerkschaften und den Aktiven der communities, die keine sozialistischen Schlußfolgerungen
gezogen haben.
Solidarity als revolutionäre sozialistische Organisation bemüht sich, diesen Kriterien zu
entsprechen bei ihren Aktivitäten in der Arbeiterbewegung ebenso wie in anderen Bereichen ihrer politischen Tätigkeit. Wir sind eine
Organisation, die verschiedene Strömungen umfasst, mit unterschiedlichen Auffassungen zu zahlreichen Fragen. Wir praktizieren das Prinzip
"work in progress", d.h. wir wissen, dass der Weg zu einer demokratischen revolutionär-sozialistischen Massenpartei so
notwendig eine solche ist, wenn man der verheerenden Herrschaft des Kapitals ein Ende bereiten will noch sehr weit ist.
Wir meinen nicht, dass wir eine Landkarte haben, aber sehr wohl einen Kompass. Dieser Kompass
orientiert uns auf die Arbeiterklasse und zeigt uns die Mittel, das Bewusstsein der Klasse zu erweitern und zu vertiefen, so dass sozialistische Ideen in der US-
amerikanischen Gesellschaft glaubwürdig werden.
Kim Moody
Kim Moody ist Redakteur des linken Gewerkschaftsrundbriefs Labor Notes und Autor von zwei bei Verso in London veröffentlichten
Büchern: An Injury to All und Labour in a Lean World. Bei unserem Text handelt es sich um Auszüge aus dem letzten Teil einer jüngst von
Kim Moody verfassten Broschüre: The Rank and File Strategy: Building a Socialist Movement in the US, herausgegeben von der Organisation
Solidarity.
Anmerkungen
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04