Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 09.11.2000, Seite 11

Grundrechtecharta der EU

Ein undemokratisches Verfahren

In kaum einem anderen Land hat in der veröffentlichten Meinung eine so ausführliche Debatte über die EU- Grundrechtecharta stattgefunden wie in Deutschland. Kein Wunder, gilt dieses Vorhaben im Ausland doch als ein "deutsches Projekt", das schließlich auch auf dem EU-Gipfel in Köln auf Vorschlag Gerhard Schröders verkündet und in Gang gesetzt wurde.
Allerdings muss man dazu sagen: Es sind fast nur Befürworter der Charta zu Wort gekommen. Die meisten haben sie gleichsam als historischen Schritt hin zu einer konstitutionellen Unterfütterung der Union gefeiert. Auch das ist kein Wunder. Hat sich doch die Diskussion über die Charta bisher ausschließlich in den Zirkeln der politischen und gesellschaftlichen Elite bewegt, die — und das schließt den Europäischen Gewerkschaftsbund, die Linksparteien und die sozialen Nichtregierungsorganisationen ein — fast ausnahmslos die Konsensregeln respektieren, die in den Gremien der Europäischen Union ungeschriebenes Gesetz sind.
Die Bevölkerung der Mitgliedstaaten ist zu keinem Zeitpunkt in die Diskussion mit einbezogen worden — und dies obwohl die Stimmen derer immer lauter werden, die fordern, dass die Charta nicht nur in den EU-Vertrag von Nizza integriert, sondern auch Teil einer künftigen europäischen Verfassung wird.
Dies wäre eine Katastrophe. Die wenigen Debatten, die aus den Elitezirkeln herausgetreten sind und versucht haben, die "normale Bevölkerung" einzubeziehen, zeigen, dass diese über den Inhalt der Charta so gut wie nicht informiert ist und von den vielen Fußangeln, die sie enthält, keine Vorstellung haben kann.
Trotz zahlreicher Presseartikel steht die Diskussion noch ganz am Anfang. Doch schon ist eine Mauer von gesellschaftlichen und politischen Institutionen errichtet, gegen die man erst anrennen muss, um in Parteien und Gewerkschaften auf die Schwachstellen aufmerksam zu machen. Dies gilt selbst für die DGB-Gewerkschaften und die PDS, die trotz ihrer Kritiken für die Integration der Charta in die Verträge sind.
Wenn es nicht gelingt, diese Mauer zu brechen, wird die Beschlussfassung der Charta einer der undemokratischsten Akte dieser Union sein — gerade weil sie in den Rang eines Grundgesetzes erhoben werden soll.
Dafür braucht es jedoch Zeit. Demokratie braucht Zeit. Die Charta ist aber in wenigen Monaten zusammengehauen worden; die Bevölkerungen der EU werden in Nizza vor vollendete Tatsachen gestellt. Das liegt wohl auch in der Absicht der dort vertretenen Regierungen.
Die Europäischen Märsche haben sich deshalb für Nizza vorgenommen, dort vor allem dafür einzutreten, dass die Charta auf keinen Fall in die Verträge aufgenommen werden darf. Der Diskussionsprozess muss offengehalten werden, die Bevölkerungen müssen die Möglichkeit erhalten, sich über so grundlegende Festlegungen, wie die Charta sie trifft, zu informieren und eine eigene Meinung zu bilden.
Zum Beispiel darüber, dass das Recht auf Arbeit abgelöst worden ist vom "Recht zu arbeiten". Der feine Unterschied wird in einem Kommentar zum betreffenden Artikel mit den Worten erläutert: "Der Text hebt das Recht auf einen Leistungsbezug auf." Das ist nicht die einzige Überraschung. Die Freiheit der Presse wird in der Charta nicht länger gesichert, nur noch "geachtet". Und so weiter.
Die bundesdeutsche Koordination der Märsche hat beschlossen, mit einem großen Transparent nach Nizza zu fahren, auf dem sie fordert: "Keine Charta ohne Referendum." Gerade wenn es Pläne gibt, die Charta in eine künftige europäische Verfassung aufzunehmen, darf es nicht sein, dass ein Teil von dieser bereits unumstößlich feststeht, noch bevor die Bevölkerung über eine Verfassung entschieden hat.
Der Europäische Gewerkschaftsbund, der zunächst eine scharfe und sehr detallierte Kritik an der Charta formuliert hatte (vgl. die Aktionszeitung der Märsche in der letzten SoZ), hat sich schließlich mit einem Linsengericht abspeisen lassen. In die Charta wurden Hinweise auf das Recht der Arbeitenden auf Konsultation, auf das Streikrecht und auf das Recht auf gewerkschaftliche Organisation und Betätigung aufgenommen — allerdings ohne diese klar als europäische Rechte zu formulieren.
Dem EGB hat dies jedoch gereicht, um nach dem EU-Gipfel in Biarritz, auf dem die Charta beschlossen wurde, eine windelweiche Erklärung abzugeben:
"1.Der EGB erkennt den Entwurf des Konvents für eine Charta der Grundrechte der EU als wichtigen Schritt zur Förderung eines sozialen Europas und eines Europas der Bürger an. Doch der Kampf muss weitergehen, um dieses Ziel vollständig zu erreichen. Die endgültige Charta weist Verbesserungen auf gegenüber dem ursprünglichen, inakzeptablen Entwurf, die auf die Kampagne und Reaktion des EGB zurückzuführen sind. Das strategische Ziel des EGB bleibt eine vollständige, legal verbindliche Charta, eingefügt in die EU-Verträge. Für den EGB sind der Inhalt der Charta und ihr Status untrennlich miteinander verbunden."
In einer späteren Passage heißt es dann:
"4. Der EGB bedauert daher um so mehr die offenkundigen Mängel beim gewerkschaftlichen Recht, ohne Einschränkungen durch nationale Grenzen handeln zu können. Die Mängel müssen im Follow-up- Verfahren so behoben werden, dass die Gewerkschaftsrechte als ‚fünfte Freiheit‘ des Binnenmarkts voll und ohne Einschränkungen gewährleistet sind, allerdings so, dass nationale Kollektivverhandlungssysteme voll respektiert werden.

5. Der EGB bedauert, dass der informelle Gipfel in Biarritz keine Einigung in der Frage der sofortigen Einbeziehung der Grundrechtscharta in die Regierungskonferenz, einer Empfehlung zur künftigen Stellung der Charta und eines Vorschlags für ein klares Follow-up-Verfahren erreicht hat."

Einer der typischen gewerkschaftlichen Eiertänze, möchte man sagen.
Die tiefe Verwirrung in den Reihen der Gewerkschaftsspitzen wird durch die Mobilisierung nach Nizza nur noch unterstrichen. Die Mobilisierung ist alles andere als abgeblasen, im Gegenteil. Zum heutigen Tag rechnet der EGB mit 68000 teilnehmenden GewerkschafterInnen — Erwerbslose und andere Teilnehmende nicht mitgezählt.
Den Demonstrationszug wird die französische CFDT anführen. Deren Vorsitzende, Nicole Notat, hat gerade mit dem französischen Unternehmerverband ein Abkommen geschlossen, das vorsieht, das garantierte Recht auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zugunsten eines an bestimmte Auflagen gebundenen Rechts aufzuheben. Es hat Bestrebungen gegeben, im EU-Vertrag einen Satz einzufügen, der die Kommission ermächtigt, Leitlinien über den Bezug von Arbeitslosengeld zu erstellen, die in eben diese Richtung gehen — sozusagen die Ausweitung des französischen Modells auf die EU-Ebene. Der Satz ist nach heftigem Protest wieder zurückgezogen worden — allerdings wird man ín Nizza vor keiner Überraschung sicher sein.
Wie die CFDT, die einem solchen eklatanten Vorstoß, ein elementares soziales Recht, das außerdem noch auf bereits erbrachten Leistungen der abhängig Beschäftigten fußt, die Hand reicht, in Nizza für soziale Rechte demonstrieren will, bleibt ihr Geheimnis.
Auf der anderen Seite wird sie nicht das größte Kontingent an Demonstrierenden stellen und deshalb die Demonstration nicht prägen. In der CGT, die die Organisation der Demonstration übernommen hat, ist die Charta sehr umstritten — gleichwohl ist die CGT eingereiht hinter die Forderung des EGB, dass die Charta unbedingt und sofort in die Verträge aufgenommen werden soll. Es scheint jedoch wenig wahrscheinlich, dass diese Forderung diejenige sein wird, die die Demonstration in Nizza prägt.
Prägend werden Forderungen nach konkreten sozialen Rechten sein, zu denen auch die Gewerkschaftsrechte gehören, die auf europäischer Ebene alles andere als garantiert sind.
Die Europäischen Märsche erachten es für wichtig, in Nizza die Diskussion mit den anwesenden Gewerkschaftsaktiven zu suchen. Sie werden — allein oder mit zusammen mit anderen Organisationen — ein Flugblatt verteilen, das sich ausdrücklich an die gewerkschaftlichen Kolleginnen und Kollegen wendet und ihnen erklärt, warum Gewerkschaften einer solchen Charta nicht zustimmen können — nicht aus der Sicht von Gewerkschaften und nicht aus der Sicht von Erwerbslosen und Sozialhilfebeziehenden.
Es ist nicht unmöglich, dass die Demonstration in Nizza uns in dem Bemühen, für den Kampf um soziale Rechte in Europa ein Bündnis von Gewerkschaftern, sozialen Bewegungen und Erwerbslosen zu schließen, einen realen Schritt vorwärts bringt. Dies erfordert allerdings, dass die Erwerbslosen in Nizza massiv präsent sind und dort sichtbar mit ihren Forderungen auftreten. Dann wird auch in Deutschland die Diskussion, die gerade erst angefangen hat, breit fortgesetzt werden müssen.

Angela Klein

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