Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 09.11.2000, Seite 16

Die berufsmäßigen Risiken der Macht

Buchbesprechung

Endlich ist postum das letzte umfassendere theoretische Werk des 1995 verstorbenen marxistischen Wirtschaftswissenschaftlers Ernest Mandel unter dem Titel Macht und Geld. Eine marxistische Theorie der Bürokratie* auf deutsch erschienen.
Gegenüber der Originalausgabe (Power and Money, Verso, London) ist die deutsche Fassung vom Autor noch durchgesehen, korrigiert und zum Teil erheblich erweitert worden. Die Titelgestaltung ("Macht und Geld" vor dem Hintergrund eines Wolkenkratzers der Deutschen Bank) ist unglücklich, denn sie lässt eher an ein Buch über die Machenschaften des Großkapitals denken. Es geht aber um die Bürokratie in der Arbeiterbewegung, in Gewerkschaften, Parteien sowie in Staaten, in denen die Macht des Kapitals gebrochen wurde.
Ein umfangreiches Kapitel befasst sich mit der bürgerlichen Staatsbürokratie, einschließlich einer kritischen Auseinandersetzung mit den einschlägigen Auffassungen von Max Weber und Joseph Schumpeter. Doch in der Hauptsache geht es um die Entstehungsbedingungen, die Rolle und die Bedingungen zur Überwindung der Bürokratie in der Arbeiterbewegung, um ein Problem also, das auch nach dem Zusammenbruch der poststalinistischen Herrschaftssysteme in der ehemaligen UdSSR und in Osteuropa aktuell geblieben ist — und nicht "nur" wegen der VR China und Nordkorea.
Für Ernest Mandel ist die Schaffung von Apparaten mit hauptamtlichen Funktionären für Arbeiterorganisationen, sobald sie die Schwelle von kleinen Gruppen überschreiten, unvermeidlich. Die zahlreichen Aufgaben, vor denen Massenorganisationen stehen, lassen sich nicht in Feierabendarbeit bewältigen — vom Kassieren der Beiträge über die Organisierung der Meinungsbildung bis hin zur Bildungsarbeit und zu Herstellung und Vertrieb einer eigenen Presse und Literatur. Doch entsteht dadurch von Anfang an die Gefahr der Verselbständigung dieser Apparate gegenüber ihrer eigenen Basis. Für die bezahlten Funktionäre kann die Organisation zum Selbstzweck werden.

Organisationsfetischismus

Solche Erscheinungen gibt es bereits in der heroischen Zeit, in der verantwortliche Führer oft mit einem Bein im Gefängnis stehen, und manchmal mit allen beiden. Organisationsfetischismus kann sich in die Köpfe der Berufsfunktionäre schleichen, womit der eigentliche Inhalt, der soziale und emanzipatorische Zweck der Organisation, relativiert werden und sogar in den Hintergrund treten kann.
Auch wenn noch keine erheblichen materiellen Privilegien bestehen, hebt sich der Status der Funktionäre gegenüber dem der "normalen" Mitglieder rasch ab. Die Hauptamtlichen haben eine relativ gesicherte Existenz, sie üben eine — im Vergleich mit der Fabrikarbeit — interessante Tätigkeit aus, sie verfügen über ein gewisses Prestige. Ein Teil von ihnen verkehrt — notgedrungen, weil ja verhandelt werden muss — regelmäßig mit der Gegenseite, mit "Größen" von Kapital und Staat. Auf die Dauer färbt das ab.
Was den Umfang der materiellen Privilegien betrifft, so muss auch bedacht werden, dass das eine relative Größe ist. Je ärmer die Basis, desto mehr markieren schon bescheidene, ganz sachlich durch die Arbeit begründete Ausstattungen einen deutlichen Unterschied. Doch von den ersten Anzeichen der Bürokratisierung bis zur Verfestigung einer Bürokratie mit klar bestimmtem und das Verhalten der Organisation bestimmendem Eigeninteresse ist ein langer Weg.
Wenn sich eine solche bürokratische Schicht herauskristallisiert hat, dann wird sie zum systematischen Hindernis für die Aktivität der einfachen Mitglieder. Sie versucht, die Möglichkeiten der Einflussnahme der Mitglieder zurückzudrängen. Mangel an demokratischem Leben in der Organisation ist nicht nur das typische Kennzeichen vernagelter Sekten, sondern auch bürokratisch und darum autoritär geführter Massenorganisationen.
Die bürokratische Schicht fürchtet breite Massenaktionen, fürchtet deren Spontaneität und Unberechenbarkeit. Solche Aktionen bergen Risiken; es könnte ja schlimmstenfalls — horribile dictu! — die Organisation samt ihrer Verwaltungsherrlichkeit Schaden nehmen. Außerdem könnten die Menschen, einmal in Bewegung, auch die Autorität ihrer bisherigen Führung in Frage stellen, und das wäre ja ein Graus.
Die Geschichte der Sozialdemokratie und der von ihr dominierten Gewerkschaftsbewegung ist das klassische Beispiel für die Verselbständigung einer bürokratischen Schicht und für ihre Wendung gegen die ursprünglichen emanzipatorischen Ziele. Die sozialdemokratische Bürokratie hatte sich schon unter dem Kaiser so sehr in das bestehende System integriert, dass sie im Kriegsfalle (wie erstmals im August 1914) lieber die "eigene" Bourgeoisie unterstützt, als die internationale Solidarität der Arbeiterinnen und Arbeiter zu organisieren.
Die Revolution 1918/19 lenkte sie bewusst in solche Bahnen, dass die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse ebenso bestehen blieben wie der wilhelminische Staatsapparat. Zur Unterdrückung der "Spartakisten" und der revoltierenden Arbeiterinnen und Arbeiter stützte sie sich auf die präfaschistischen Freikorps und stärkte so lieber die eigenen späteren Totengräber, als eine Eroberung der Macht durch die Arbeiter- und Soldatenräte zu fördern.
Mehr noch als in der Weimarer Republik ist die sozialdemokratische Bürokratie heute über zahllose Fäden mit den Institutionen der bürgerlich-demokratischen Republik verbunden und damit existenziell an sie gebunden. Sie wird wieder mit ihr gemeinsam untergehen. Die Bürokratie ist nicht nur ein Hindernis gemessen an den großen Zielen der grundlegenden gesellschaftlichen Umgestaltung, für die die Arbeiterbewegung klassisch immer stand. Sie behindert auch massiv die Vertretung der elementaren Tagesinteressen der abhängig Beschäftigten und Besitzlosen.
Die sozialdemokratische Gewerkschaftsbürokratie akzeptiert so viele von der Gegenseite behauptete "Sachzwänge" (die alle auf jene Konkurrenz hinauslaufen, zu deren Überwindung die Gewerkschaften gegründet wurden), dass das Verfechten der Interessen der Basis zur Ausnahme geworden ist. Um diese Basis und damit auch die materielle "Unterlage" ihrer Stellung nicht zu verlieren, muss die Gewerkschaftsbürokratie allerdings zumindest den Eindruck erwecken, wie eingeschränkt auch immer, für die Interessen der Beschäftigten einzustehen.
Die Bürokratisierung nach dem Sturz der Kapitalherrschaft, nach der Eroberung der politischen Macht schafft Probleme noch bedrängenderer Art. Nach der Oktoberrevolution gab es zunächst nur wenige bezahlte Parteifunktionäre, und das "Parteimaximum" begrenzte ihr Einkommen auf das eines qualifizierten Arbeiters. Die ersten Privilegien hingen noch eng mit den Funktionen zusammen. Unter Stalin explodierten die bürokratischen Privilegien. Wer das Zehn- oder Zwanzigfache eines Arbeiters, einer Arbeiterin verdient — gemessen am jeweiligen Zugang zu Konsumgütern — verfolgt systematisch die eigenen Interessen.
Das System hierarchisch abgestufter Privilegien (wobei der selektive Zugang zu Informationen ebenso abgestuft wird) mit einer vertikalen Mobilität, die auf Liebedienerei und geistiger wie materieller Korruption fußt, sichert zusammen mit eiserner Repression die Herrschaft der Bürokratie ab. Die vollständige politische Enteignung der offiziell "herrschenden" Klasse, die Vernichtung aller Ansätze sozialistischer Demokratie führte zu einem grotesken Zerrbild der ursprünglich angestrebten gesellschaftlichen Befreiung. Die stalinistische Bürokratie versperrte den Weg zur sozialistischen Umgestaltung der Welt auf ihre Weise und diskreditierte mit ihren Verbrechen die sozialistische Idee nachhaltig.
Hintergrund für die extreme Bürokratisierung war, dass die sozialistische Revolution in einem rückständigen und isolierten Land mit mehrheitlich bäuerlicher Bevölkerung siegte. Schon Marx und Engels bemerkten, dass die "Verallgemeinerung des Mangels" nur die "alte Scheiße" wiederherstellen könnte. Trotzki erläuterte dies später mit dem Bild der Schlange vor dem Geschäft, die so lang wird, dass ein Polizist für Ordnung sorgen muss.
Sobald die stalinistische Bürokratie unter der Losung des "Aufbaus des Sozialismus in einem Lande" die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution hintanstellte, machte sie aus der Not eine Tugend, was damit endete, dass sie eine Gesellschaft für "sozialistisch" erklärte, in der schreiende Ungleichheit herrschte, in der der Staat, weit davon entfernt Tendenzen zum Absterben zu zeigen, mächtiger und erdrückender wurde denn je.
Mandel zeigt, wie sehr dieser auch den bürgerlichen Ideologen so angenehme Missbrauch des Begriffs "Sozialismus" nicht nur dem Denken von Marx und Engels widerspricht, sondern auch dem der Bolschewiki (einschließlich Stalins, bis die Bürokratie ihn endgültig zu ihrem "Führer" und obersten Schiedsrichter gemacht hatte).
Ernest Mandel hält die Auffassung jener für widerlegt, die meinen, es habe sich um einen Staatskapitalismus gehandelt. Wieso, fragt er, erweist sich die Wiedereinführung des Kapitalismus (bzw. des "Privatkapitalimus") als so tiefe und schwierige Umwälzung, wenn es sich nur um den Übergang von einer Sorte Kapitalismus zum anderen handelt? In der Sowjetunion und den vergleichbaren Ländern gab es in der Tat Waren und Geld, wirkte tatsächlich das Wertgesetz. Aber es herrschte nicht vor wie in den kapitalistischen Ökonomien, denn die wesentlichen Produktionsmittel und die meisten Arbeitskräfte waren nicht Waren, die auf Märkten gehandelt wurden.
Warum aber betrachtete Ernest Mandel die herrschenden Bürokratien dann nicht einfach als eine neue Art "herrschender Klasse"? Sein wesentliches Argument ist, dass sich die Bürokratie hierfür vollständig vom Wertgesetz hätte emanzipieren müssen. Gerade dies aber sei in der bestehenden vom Kapitalismus dominierten Welt nicht möglich gewesen. So blieb den Bürokraten, wenn ihre Selbstbehauptung als Bürokraten nicht mehr möglich war, nur der Weg, sich in die bürgerliche Klasse zu integrieren, selbst Kapitalisten zu werden — oder gesellschaftlich unterzugehen.
Typisch für die bürokratisierten nachkapitalistischen Länder ist laut Mandel eine hybride Mischung aus Staats- und Warenfetischismus. Einerseits die Illusion der "Kommandowirtschaft" — "die Kader entscheiden alles", sagte Stalin. Andererseits die Illusion, das Wertgesetz erzwinge "als Naturgesetz" (ebenfalls Stalin) die großen wirtschaftlichen Entscheidungen. In Wirklichkeit legt der Plan die Prioritäten fest, und sowohl die Wirkung des Wertgesetzes (vermittelt über den Außenhandel und die marktmäßig ermittelten Preise der Konsumgüter [oft andere als die administrativ festgelegten] und der zwischen staatlichem Sektor und bäuerlichen Genossenschaften ausgetauschten Güter) wie auch das Desinteresse auf verschiedensten Ebenen machen den Plan zuschanden, bewirken gravierende Disproportionen und das sprichwörtliche bürokratische Chaos.

Gegen den Substitutionismus

Die Probleme beginnen auch für Mandel natürlich nicht mit Stalin. Das Verbot der nichtbolschewistischen Sowjetparteien und vor allem das zugleich mit Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP), die ihrerseits dringend erforderlich war, ausgesprochene Fraktionsverbot innerhalb der bolschewistischen Partei bezeichnet er als "schwere Fehler", die das spätere Aufkommen des Stalinismus begünstigten, die Jahre 1920/21 als die "dunklen Jahre" Lenins und Trotzkis. Die Partei, bzw. deren Mehrheitsmeinung, sollte "zeitweilig" die Herrschaft der Klasse ersetzen.
Mag es auch verwundern, ähnliche dunkle Momente sieht Mandel auch bei Rosa Luxemburg (die in der polnischen Partei nicht gerade zimperlich mit Opponenten umging) und Antonio Gramsci (der in seinen Gefängnisheften meinte, "im Stellungskrieg" müsse zu "politischen und administrativen Kontrollen jeglicher Art" und zu einer "unerhörten Konzentration der Hegemonie" (!) gegriffen werden). Es sind "substitutionistische" Ideen, die Versuchungen, "Stellvertreterpolitik" zu treiben und theoretisch zu rechtfertigen, die besonders dann groß sind, wenn Massenbewegungen zurückgehen oder sich zersetzen.
Mandel verweist darauf, dass sozialdemokratische Theoretiker erst recht immer wieder auf die Idee verfielen, in "schwierigen Zeiten" müsse man die unten zu ihrem Glück zwingen, ihnen notfalls Streiks und Protest verbieten usw.
Diesem "Substitutionismus" und seiner Widerlegung widmet Mandel ein ganzes Kapitel. Diejenigen, deren Politik und Gebaren auf die Basis entmutigend wirkt, berufen sich besonders gern auf die "Passivität" oder "Rückständigkeit" der Basis. Wir kennen das gut von gewissen sozialdemokratischen Gewerkschaftsverantwortlichen.
Das einzige nachhaltig wirkende Gegengift ist Mobilisierung, Selbstaktivität und Selbstorganisation. Wenn eine große Zahl von Menschen aktiv wird, anfängt, sich für Details zu interessieren, mit eigenem Kopf urteilt und in einen täglichen lebendigen Ideenaustausch mit anderen tritt, dann fangen schwere Zeiten an für die Herren "Stellvertreter".
Obwohl Mandel die objektiven Bedingungen für die Bürokratisierungsprozesse betont, ist er gegen Fatalismus. In der Geschichte jeder Organisation, jeder Bewegung, jedes Landes gibt es Wendepunkte, bei denen objektiv verschiedene Wege eingeschlagen werden können. Eine bewusst antibürokratisch orientierte sozialistische Politik hätte in der Vergangenheit und kann in der Zukunft die allgemeine Emanzipation wesentlich weiterbringen, als es bislang faktisch der Fall war.

Bedingungen der befreiten Gesellschaft

Im Schlusskapitel untersucht Mandel die Bedingungen für eine selbstverwaltete Gesellschaft, in der sowohl die bürokratischen Apparate einschließlich des Staates selbst, als auch die Klassen und die Waren- und Geldbeziehungen allmählich absterben können. Diese Vision ist letztlich nur weltweit verwirklichbar.
Eine wichtige Voraussetzung ist hierfür ein "Überfluss" an Gebrauchswerten, der nicht mit kapitalistischer oder bürokratischer Verschwendung zu verwechseln ist. Es geht um die Befriedigung der laufenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse, die in einer sich befreienden Gesellschaft nicht immer weiter wachsen werden. Denn ab einem bestimmten Niveau der Sättigung mit solchen Gütern und Dienstleistungen verlagert sich das Bestreben der Menschen hin zu kreativer Selbstentfaltung.
Eine weitere ganz entscheidende Voraussetzung ist die radikale Verkürzung der Arbeitszeit für alle, so dass nicht nur die Lebensqualität steigt, sondern auch alle zur Verwaltung und zur Entscheidung über die öffentlichen Angelegenheiten hinzugezogen werden können. Mandel ist auch der Meinung, dass eine ökologisch verantwortliche Produktion mit diesen Zielen vereinbar ist, da allein die Streichung der unnützen und nur zerstörerischen Produktionen (angefangen bei der Rüstungsproduktion) weltweit enorme Ressourcen freisetzen würden.
Angesichts der Tatsache, dass Mandels von Argumenten und verarbeitetem Wissen überbordendes Buch nicht zuletzt darum bemüht ist, die Position seiner eigenen Organisation — der IV.Internationale — ins rechte Licht zu rücken, sei hier auf eine wichtige selbstkritische Bemerkung in der Einleitung verwiesen: "Wir müssen zugeben, dass revolutionäre Marxisten die verheerenden Langzeitfolgen des Stalinismus und der bürokratischen Diktatur auf den durchschnittlichen Bewusstseinsstand ernsthaft unterschätzt haben."
Tatsächlich erwartete Ernest Mandel bis 1989/90 deutlich mehr Impulse in Richtung sozialistische Demokratie von den Massenbewegungen, die die poststalinistischen Bürokratien zu Fall brachten. Im Buch nun behauptet Mandel, wie er sagt, zumindest einen "moderaten Optimismus", gegründet auf die neuen Impulse der neuen Arbeiterbewegungen wie in Brasilien, gegründet auf neue solidarische soziale Bewegungen, vor allem wenn sie sich gegen den wildgewordenen "neoliberalen" Kapitalismus international formieren, gegründet auf Gedächtnis und Lernfähigkeit.

Manuel Kellner

*Ernest Mandel: Macht und Geld. Eine marxistische Theorie der Bürokratie, Köln (Neuer ISP Verlag) 2000, 318 Seiten, 42 DM, ISBN 3-929008-73-4.


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