Sozialistische Zeitung |
In Nizza schlägt für die EU die Stunde der Wahrheit", orakelt das Handelsblatt in einer seiner
jüngsten Ausgaben. Dort geht man trotz eines "Zweckoptimismus in den EU-Hauptstädten" von der Gefahr aus, dass der Gipfel von
Nizza scheitern könnte.
Nach den Amsterdamer Verträgen von 1997 geht es in Nizza um eine erneute Reform
der EU, die als Voraussetzung für die geplante Osterweiterung gilt. Zumindest soll für einige der zwölf Beitrittskandidaten die Aussicht
auf eine Vollmitgliedschaft in der EU erhalten bleiben.
Schon heute sind sie durch Assozierungsabkommen an die EU gebunden und einige der
Profiteure sind schnell ausgemacht. "Vor allem das Exportland Bundesrepublik", so das Manager-Magazin, "profitiert vom Nachholbedarf
der armen Nachbarn". Der sei gerade im Bereich Maschinen, Hightech und Konsumgüter "riesig", konstatiert das Magazin.
"Niedrige Löhne und gut ausgebildete Menschen ermöglichen, Teile der Produktion zu verlagern."
Konkrete Beitrittstermine sind dabei so lange von untergeordneter Bedeutung, wie die
Regierungen in den potenziellen Beitrittsländern schon heute in erster Linie damit beschäftigt sind, mit einer rigiden Sparpolitik ihr
Haushaltdefizit zu reduzieren und die insgesamt 20000 EU-Gesetze und Verordnungen in ihre Gesetzgebung umzusetzen, ohne dass sie das Recht
hätten, daran auch nur die Interpunktion zu ändern.
Um die vage Aussicht auf einen mittelfristigen EU-Beitritt zu nähren, vielmehr aber
das Konzept eines "Kerneuropa" zu realisieren, in dem die großen Mitgliedstaaten auch ohne die kleineren ihre Politik umsetzen
können, wollen vor allem Deutschland und Frankreich die Entscheidungsfindung innerhalb der EU zentralisieren. Sie wollen das im Amsterdamer
Vertrag festgelegte Einheitsprinzip auf Mehrheitsentscheidungen umstellen. Die bevölkerungsreichsten Länder der EU, Deutschland, Frankreich,
Grossbritannien und Italien, beanspruchen dabei für die höchsten Entscheidungsgremien die Regierungsgipfel und
Ministerratskonferenzen ein höheres Stimmengewicht gegenüber den kleineren Mitgliedstaaten.
Für welche der insgesamt 70 Politikbereiche die Mehrheitsentscheidung gelten soll,
ist allerdings nach wie vor umstritten. Die Bundesregierung in Deutschland lehnt dieses Entscheidungsprinzip etwa für den Bereich der
Einwanderungspolitik ab.
Dennoch wollen die Regierungschefs in Nizza auch zur Migration einige Neuerungen in die
Wege leiten. Sie sind sich weitgehend einig, dass die "Null-Einwanderungs-Politik der letzten zwanzig Jahre" angesichts neuer
Herausforderungen auf dem Weltmarkt nicht mehr "durchzuhalten" sei. Die internationale Konkurrenz um hochqualifizierte Arbeitskräfte ist
jedoch von einer Selektion begleitet, die Nicht-EU-Bürger, die keine Qualifikation mitbringen, ausschließt. Unklar ist, ob sich die Bewohner der
Ostanrainerstaaten ähnlichen Kriterien unterwerfen müssen. Denn einige Fragen zur Ostererweiterung sind längst nicht gelöst, z.B.
die der Niederlassungsfreiheit der eventuellen Ost-Bürger im "Kerneuropa".
"Illegale Einwanderung" soll jedenfalls künftig in einem
"gestärkten strafrechtlichen Rahmen" geahndet werden, heißt es in einer Direktive der französischen Regierung, die in die
Verträge aufgenommen werden soll. Demnach soll "jede direkte oder indirekte Hilfe zum unautorisierten Eintritt, Bewegung oder
Aufenthalt" auf europäischem Boden bestraft werden. Das könnte, so die Einschätzung der EU-kritischen Initiative Statewatch, bis
zu Gefängnisstrafen für Mitglieder von Organisationen führen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Asylbewerber und Migranten ohne
Papiere zu unterstützen. Einer von vielen Gründen, warum einige Flüchtlingsorganisationen und antirassistische Gruppen in Europa zu
Protesten gegen die Regierungskonferenz in Nizza aufrufen.
Ein Hauptkritikpunkt der europäischen Mobilisierung wird die EU-
Grundrechtecharta sein, die voraussichtlich in Nizza proklamiert wird. Von der "Freiheit des Unternehmertums" ist in der Charta die Rede. Ein
Passus, der großzügige Spielräume offen lässt, die Rechtsabteilungen der Konzerne in ihrem Sinne interpretieren werden. Eine
Sozialpflicht des Eigentums, wie z.B. im Grundgesetz der BRD vorgesehen, ist dort mit keinem Wort erwähnt. Gegenüber den
Unternehmerfreiheiten gibt es jedoch keine Garantie sozialer Rechte. Die offizielle Begründung lautet, man könne keine "Versprechungen
machen, die in der Zukunft nicht eingehalten werden können."
Auch ein Recht auf existenzsicherndes Mindesteinkommen, wie von den
EuroMärschen und anderen Organisationen gefordert, findet sich nicht in dem Papier. Stattdessen ist die Rede von "sozialer
Unterstützung", die nach "Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" erfolgen soll. Eine
Milchmädchenrechnung, denn gerade die Reste einzelstaatlicher Sozialnetze werden derzeit im Rahmen der "wirtschafts- und
beschäftigungspolitischen Leitlinien" der EU in allen Ländern zurechtgestutzt. Dazu gehören die Angriffe auf die Altersversorgung
und Kündigungsschutz genauso wie die sukzessive Abschaffung der Arbeitslosenunterstützung.
Gegenüber der rituell zur Schau gestellten Einheit und Harmonie auf den EU-
Regierungsgipfeln dürfte die Verbundenheit der Demonstration, zu der 100000 Teilnehmende erwartet werden, hingegen kaum deutlich werden. Denn
eines der zentralen Anliegen der Großdemonstration wird nun völlig unterschiedlich transportiert: die Haltung zur EU-Grundrechtecharta. Im
Gegensatz zu den Europäischen Märschen gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung sowie anderen
sozialen Bewegungen setzt sich der Europäische Gerwerkschaftsbund, der sich maßgeblich an der Großdemonstration beteiligen wird,
für eine rechtliche Bindung der vor wenigen Wochen in Biarritz modifizierten Grundrechtecharta ein und will künftig mit
"Nachverhandlungen" seine Verbesserungsvorschläge einbringen. Die EuroMärsche aber lehnen ihre Rechtsverbindlichkeit ab,
denn sie befürchten, dass damit ein weiterer Abbau von in der Geschichte erkämpften Rechten der Arbeiterbewegung einhergehen wird.
Gerhard Klas
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