Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 23.11.2000, Seite 3

Ethnisierung einer Metropole

Jerusalemer Stadtplanung und das zionistische Projekt

Wenn heute in den Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der palästinensischen Autonomie- Regierung über die Zukunft Palästinas gesprochen wird, sagt jeder: Jerusalem ist die schwierigste Frage. Die Kritik richtet sich jedoch nie ernsthaft gegen die diskriminierende Stadtplanung, durch die Israel Jahr für Jahr neue völkerrechtswidrige Fakten schafft.
Jerusalem war für Palästina bis 1967 eines der wichtigsten Handels- und Einkaufszentren der Region. Jerusalem besuchten und besuchen immer noch die Pilgergruppen, die in Mekka und Medina waren, um zum Abschluss der Hadsch in der Al-Aqsa-Moschee im Harim Al Sharif zu beten, dem Ort, von dem nach muslimischem Glauben Mohammed nach seiner "Nachtreise" von Mekka zu Gott aufstieg.
Israel beschwört die notwendige "Einheit" der Stadt: "Jerusalem muss eine Stadt bleiben, das wird sich niemals mehr ändern." (Stadtplaner Yitzhak Jacoby im März 1987.)
Doch Ostjerusalem ist arabisch und mehrheitlich islamisch. Von einer "Einheit" kann weder politisch, noch sozial, noch ökonomisch und auch nicht kulturell die Rede sein. Ostjerusalem ist der am meisten vernachlässigte Teil der Stadt, sei es in Bezug auf das äußere Stadtbild, die Wohnsituation, die Straßen und die Umwelt, oder sei es in Bezug auf die Versorgung mit Gesundheitseinrichtungen, Schulen, Kulturzentren oder Freizeiteinrichtungen und Grün- oder Sportflächen.
Ebenso ungleich ist die politische Basis und der Status der Bewohner. Während alle Juden der Welt in Jerusalem Bürger des Staates Israel werden, sind die alteingesessenen palästinensischen Jerusalemer und die, die hier geboren sind oder seit langem ihren Lebensmittelpunkt in der Stadt haben, nur "Mitbürger", wie es in Deutschland heißt. Sie erhalten Daueraufenthaltsrecht — sofern sie die Bedingungen dafür erfüllen und etwa unter anderem die kompletten Nachweise für Strom, Telefon, Wasser, Haussteuer, Krankenversicherung etc. erbringen können, als Beleg dafür, dass sie mindestens seit sieben Jahren ununterbrochen hier leben.
Auch die realen menschlichen Beziehungen zwischen Ost und West sind äußerst gering. In einer Befragung von 1995/96 zum Beispiel über Freundschaften zwischen den beiden Gruppen verneinten diese fast 89% der Juden und 85% der Araber; über einen Besuch des jeweils anderen Stadtteils befragt, sagten fast 33% der Juden im Westteil aus, dass sie den Ostteil zum letzten Mal "vor Jahren" besucht hätten, während 42% der befragten Araber die Weststadt "noch in der letzten Woche" besucht hatten — zumeist wegen der Arbeit.
Auf offizieller israelischer Seite ist es schon lange keine Frage mehr, wem Jerusalem gehört und wer es regieren wird. Ben Gurion verkündete 1948: "[Jerusalem] liegt innerhalb der Grenzen des Staates Israel, genauso wie Tel Aviv."
Das israelische Parlament, die Knesset, verabschiedete 1950 ein Gesetz, das Jerusalem zur Hauptstadt Israels erklärte. Am 30.Juli 1980 bestätigte die Knesset im "Basis-Gesetz" zu Jerusalem die De-facto-Annexion Jerusalem und erklärte es zur "ewigen und unteilbaren Hauptstadt Israels". All diese Beschlüsse und Gesetze sind von den Vereinten Nationen verurteilt und für nicht rechtskräftig erklärt worden — aber die De-facto-Annexion geht weiter.
Israel arbeitet seit 1967 aktiv daran, die Hauptstadtfrage auch in Ostjerusalem für sich zu entscheiden — mit denselben erfolgreichen, vor allem raumplanerischen Mitteln, die zur Staatsgründung geführt haben:
Landerwerb und Besetzung von Land und Gebäuden,
Zerstörung vorhandener arabischer Besiedlung und Bebauung,
Errichtung neuer Bebauung und jüdischer Besiedlung,
Schaffung von regionalen Bevölkerungsmehrheiten,
Errichtung neuer Straßen und Straßenführungen,
eigenmächtige Grenzziehung nach strategischen Gesichtspunkten.
Das zionistische Projekt ist nicht ohne politisch und strategisch orienterte Stadt- und Raumplanung zu verstehen. Vor allem zionistische Planung seit den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat Jerusalem von einer einst weltoffenen Metropole in eine ethnisch segregierte Frontstadt mit aggressivsten Auseinandersetzungen um jeden Meter Einfluss gewandelt. […]

Hand in Hand: Planer und Siedler

Die Stadtplaner vermitteln gern den Eindruck, dass ihre Aktivitäten sich vor allem um die Verschönerung der Altstadt und die Heraushebung des historischen Erbes drehen. Leider ist nur allzu sichtbar, dass es sich vor allem um die Heraushebung des jüdischen Erbes handelt und die Verschönerungen eher Fassade und Make-up bleiben und nicht einmal dem Ort angepasst sind. Im übrigen kümmert sich die offizielle Planung vor allem in der Altstadt wenig um das Alltagsleben der Menschen, um Wohnungen, soziale Infrastruktur, das Versorgungsniveau oder kulturelle Einrichtungen. Im Gegenteil: Bau- und Modernisierungsgenehmigungen werden vorenthalten. Während das Jüdische Viertel jede Unterstützung genießt, sind die arabischen Viertel auf Eigenmittel und die Unterstützung durch den Islamischen Fonds, den Auqaf, angewiesen, ihre Mittel sind begrenzt.
Die offiziellen Planungsveränderungen in der Altstadt betreffen vor allem:
Das Jüdische Viertel: Mit Hilfe internationaler Spender werden die Wohnblocks erneuert, modernisiert, ergänzt, verändert und einige Teile im großen Stil neu gebaut, wie z.B. das Gebäude der Zionistischen Weltorganisation. Museal, wohlhabend und sauber hat es einen vollständig anderen, artifiziellen Charakter im Vergleich zu dem lebendigen, vielfältigen, wenn auch sichtbar ärmeren arabischen Teil der Altstadt.
Das Jüdische Viertel und vor allem der riesige Platz vor der Klagemauer ist zudem durch erhebliche Kontrollanlagen und Barrieren wie ein Ghetto vom Rest der Stadt abgetrennt.
Daneben haben die Stadtplaner einige touristische Orte, Pilgerplätze und museale Orte, in der sterilen Art der europäischen Fußgängerzonen "verschönt": Teile der Via Dolorosa, den Zugang zum Damaskustor, den inneren Bereich des Jaffa-Tores und den Ausbau der Zitadelle als jüdisches Museum der "David-Stadt".
Einschneidend ist der 1998 gegen internationale Proteste eröffnete Tunnel vor der Klagemauer, der in der Via Dolorosa auf der Höhe der dritten Station mündet. Seitdem dort täglich hunderte von Gruppen herausströmen, bestimmen Body Guards, Polizisten und Soldaten das Bild zwischen Löwentor und Tariq al-Wad am Österreichischen Hospiz.
Im Übrigen überlassen die Planer die wirkliche Umwandlung der Stadt den aggressiven Siedlergruppen wie Shuvat Banim und Young-Israel-Gruppen, die mit der Siedlerbewegung Gush Emmunim zusammenarbeiten und so etwas wie ein Konzept der "Hebronisierung" verfolgen. Kein Altstadtquartier ist mehr von ihnen verschont, muslimische ebenso wie christliche. Sie vergiften das Klima, verändern die Baustruktur und das äußere Bild der Altstadt, vertreiben die arabischen Nachbarn und machen das Leben unsicher. Und wo immer sie sich etablieren, sind auch Polizei und Militär zur Stelle, um sie zu "schützen". Besonders betroffen sind:
Das Viertel um Aqabat al-Khalidiyya und Aqabat al-Sarai. Dort ist die Erweiterung des Jüdischen Viertels beabsichtigt.
Das Viertel entlang der Altstadtmauer vom Bab al-Qattanin zum Bab al-Hadid und dem Afrikanischen Viertel. Hier wurde ein Teil der Mauer als Mauer des Salomontempels deklariert und ist seitdem vor allem von jüdischen Frauen begehrter Ort zum Beten geworden. Während der Gebetszeiten besteht eine Art Ausgangssperre für die Anwohner.
Im Tarik al-Wad sind viele Häuser in den oberen Geschossen von Siedlern okkupiert, während im Erdgeschoss noch arabische Geschäfte und Restaurants zu überleben versuchen. Vor allem das Haus, das Ariel Sharon Ende 1987 zu Beginn der Intifada besetzen ließ, ist ein Zentrum von privaten Body Guards und bewaffneten Siedlern, die von hier aus ihre Kontrollgänge beginnen.
Das Viertel um Bab al-Zahira und Burj Laqlaq ist seit langem von Siedlern bedroht; teilweise konnten ihre Aktionen in den letzten zwei Jahren rückgängig gemacht werden.
Auch im Christlichen Viertel im Umfeld der Grabeskirche haben sich Siedler etabliert.
Den Siedlern sind Polizeistationen gefolgt. Da diese fast überall anzutreffen sind und zudem durch das viele Militär sowie durch bewaffnete Polizeistreifen und private Body Guards, die wie eine dritte Macht in der Stadt präsent sind, ergänzt werden, entsteht das Bild einer unsicheren Stadt. So wird ein palästinensisches "Sicherheitsproblem" suggeriert, obwohl eigentlich die Siedler das Sicherheitsproblem darstellen.

Vertreiben durch Bauen

Die Durchdringung der Stadt durch jüdisch-israelische Präsenz wird begleitet von einer Politik der Entmutigung und Vertreibung der palästinensischen Bewohner. Es geht aktiv um die Reduzierung und Diskriminierung der verbliebenen arabischen Bevölkerung Ostjerusalems. Die Palette der Planungsmaßnahmen ist ausgefeilt und behindert die Entwicklung der palästinensischen Siedlungsgebiete. Sie umfasst unter anderem:
Masterpläne für die arabischen Viertel, die die Baugebiete erheblich beschneiden und den größten Teil des betreffenden Raumes für Grünflächen und Erweiterungsgebiete der jüdischen Siedlungen ausweisen. Für etwa 40% der verbleibenden palästinensischen Gebiete sind mittlerweile solche Pläne erstellt worden, darin sind fast 40% der Fläche als nicht zu bebauendes Land ausgewiesen. Dies bedeutet insgesamt, dass nur etwa 11% der Ostjerusalemer Fläche für die Erweiterung der Wohngebiete der Palästinenser freigegeben sind.
Konfiszierung von palästinensischem Bodeneigentum für diverse stadtplanerische Zwecke. Mehr als ein Drittel der Ostjerusalemer Fläche wurde auf derart "legale" Weise für die neuen Kolonien enteignet.
Festlegung einer niedrigen Bebauungsdichte. Während für jüdisch-israelische Wohngebiete eine Bebauuungsdichte von 120% oder 136% vorgesehen ist, wird für die arabischen Wohngebiete nur eine Dichte von 25% bis 50% (ein- bis zweigeschossige Bauweise) verordnet. Nur Beit Hanina und Shu‘fat haben die Erlaubnis für eine Bebauungsdichte von 75%, was immerhin eine Bauweise bis zu vier Geschossen ermöglicht.
Begrenzte Vergabe, komplexe Hindernisse für die Vergabe und Verweigerung von Baulizenzen, was vor allem im Wohnbereich notgedrungen illegales Bauen zur Folge hat. Entsprechend dieser Begrenzung von Wohnbauflächen im arabischen Sektor ist höchstens eine Erweiterung der vorhandenen Wohnungen um etwa 5000 Einheiten möglich.
Konsequenter Abriss von sog. illegalen Wohnbauten. Zwischen 1993 und 1998 wurden allein 144 Häuser abgerissen, über 4000 Häuser sind durch Bescheide vom Abriss bedroht.
Begrenzung von Gewerbegebieten: Nur 0,5% des gesamten palästinensischen Stadtgebiets ist nach den Plänen für Gewerbe und Industrie vorgesehen.
Das Ergebnis ist: Überfüllung der Wohngebiete, begrenzte Ausbaumöglichkeiten und Illegalisierung der palästinensischen Bautätigkeit… Die Liste derartiger Diskriminierung lässt sch auf andere städtische Infrastrukturbereiche wie Versorgung mit Wasser, Abwasser- und Müllentsorgung ausdehnen, ebenso auf Bereiche des Alltagslebens wie Erziehung und Gesundheitsversorgung und schließlich auf die Lage auf dem Arbeitsmarkt und bei der Berufsausbildung. […]
Aus der einst so kosmopolitisch aufstrebenden neuen Stadt Jerusalem ist inzwischen durch den zionistischen Plan ein ethnisches Ghetto geworden… Man kann nur hoffen, dass Jerusalem nicht in Kürze das Schicksal Jaffas ereilt, das die Tel Aviver gern "unsere Altstadt" nennen: gereinigt von arabischer Anwesenheit, ein steriles Museum, eine unlebendige religiöse Stadt oder ein ethnisches Ghetto der Juden allein.

Viktoria Waltz

Viktoria Waltz ist Stadtplanerin. Sie arbeitet an der Universität Dortmund und teilweise in Palästina. — Der hier in Auszügen wiedergegebene Artikel erschien zuerst in der im Ruhrgebiet erscheinenden Zeitschrift Amos (3/2000).


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