Sozialistische Zeitung |
Es war dieses Mal kein Gewerkschaftstag wie jeder andere. Im Mittelpunkt des Kongresses stand die Frage, ob der
Hauptvorstand mit seiner Perspektive, gemeinsam mit den Gewerkschaften DAG, DPG, HBV und IG Medien den Prozess zur "Vereinigten
Dienstleistungsgewerkschaft" (ver.di) weiter in Gang zu halten, eine akzeptable Mehrheit bei den Delegierten bekommen würde. Es ging um die
organisatorische Zukunft der zweitgrößten Gewerkschaft der Republik.
Das Thema Tarifpolitik insbesondere was den Ablauf und das Ergebnis der
Tarifrunde 2000 im öffentlichen Dienst betrifft , die Haltung des Vorsitzenden Herbert Mai zur sog. Rentenreform der Bundesregierung sowie die
gewerkschaftspolitische Orientierung der Führungsspitze im Allgemeinen rückte zumindest aus der Sicht der anwesenden Medien in den
Hintergrund.
Aber gerade diese Themen, die hauptsächlich in der Debatte zum
Geschäftsbericht des Vorstandes angesprochen wurden, waren die eigentlich spannenden auf diesem Kongress. Sie wurden nur nicht gebührend
zur Kenntnis genommen. ver.di überlagerte alle andere.
Im Vorfeld des Gewerkschaftstags bereits wurde mehr als deutlich, dass die Unzufriedenheit
der Mitgliedschaft mit der Politik der Führung eine breitere Basis hatte als in den vergangenen Jahren. Es war vollkommen klar, dass selbst ohne eine
Gegenkandidatur bei der Wahl zum Vorsitz Herbert Mai bei weitem nicht das Ergebnis von 1996 erlangen würde.
Die Streitkultur in der ÖTV ist jedoch wie auch in den übrigen Gewerkschaften
sehr unterentwickelt. Kritik wird nicht als konstruktiv angesehen sondern eher als schädlich für die Organisation. Direkte Gegenkandidaturen
bspw. sind mehr oder weniger verpönt und haben in den meisten Fällen wenig Aussicht auf Erfolg. Aus diesem Grunde lief der Sturz von Mai
auch nicht über die Präsentation einer Gegenkandidatur ab, sondern über den Hebel eines de facto nicht ausreichenden Votums für
den Leitantrag des Vorstandes zur ver.di-Frage.
Ein Antrag, der "das Ziel der Verschmelzung der fünf Gewerkschaften zur ver.di
im März 2001 für richtig und für erreichbar" hält und die Entwürfe der Dokumente des Verschmelzungsvertrages als
tragfähige Grundlage betrachtet, erhielt zwar mit 345 Ja-Stimmen (65,5%) gegen 182 Nein-Stimmen (34,5%) eine deutliche Mehrheit.
Doch laut Satzung hätten 80% der Delegierten für die Auflösung der
Organisation stimmen müssen, um die Fusion zur ver.di vollziehen zu können. Eine nicht gerade komfortable Ausgangsbasis für den
außerordentlichen Kongress im März 2001. Deshalb hatte der Vorsitzende Mai die Marge von etwa 70% gesetzt.
Die Entscheidung von Herbert Mai, zur anstehenden Neuwahl nicht mehr anzutreten, war
unvermeidlich und durchaus logisch. Die große Mehrheit der Delegierten ist bei aller Skepsis pro ver.di eingestellt. Der Antrag, der die Einberufung
eines außerordentlichen Gewerkschaftstags der ÖTV vom 16. bis 18.März 2001 zum Inhalt hatte, wurde dementsprechend auch mit 77,8%
verabschiedet.
Mit Herbert Mai als Vorsitzendem jedoch wollten die Delegierten den Weg zur ver.di
offensichtlich nicht gehen. Doch das hat weniger mit dem Vereinigungsprozess zu tun als vielmehr mit der bereits erwähnten verbreiteten
Unzufriedenheit mit der Politik der Führung.
Der alte Vorsitzende war eher der Typus eines Moderators. Die Erwartungshaltung der
Mitgliedschaft an einen Vorsitzenden, der an vorderster Stelle ihre Löhne und Gehälter, ihre Arbeitsbedingungen und die erhandelten bzw.
erkämpften Errungenschaften verteidigt, konnte und wollte er nie erfüllen. Seine Nähe zu den Herrschenden, v.a. zur SPD, war immer
deutlich festzustellen.
Ob der neue Vorsitzende Frank Bsirske, der mit etwa 94% der Stimmen ein
überwältigendes Ergebnis verzeichnen konnte, mit dem größtenteils neu gewählten geschäftsführenden
Hauptvorstand diese Erwartungen erfüllen kann, muss abgewartet werden.
Bsirske ist ein politischer Kopf und ein Mann des linken Flügels, aber eben auch ein
Modernisierer.
Fakt ist jedenfalls, dass mit der Wahl eines Grünen zum Vorsitzenden, in Verbindung
mit einer durch ihr Wahlergebnis von ca. 55% im zweiten Wahlgang von vornherein geschwächten rosa Stellvertreterin Beate Eggert
sowie einem schwarzen Stellvertreter Kurt Martin eine bunte Truppe das Steuer des ÖTV-Schiffs übernommen hat.
Wie auch immer der im Frühjahr nächsten Jahres stattfindende
außerordentliche Gewerkschaftstag ausgehen wird, unabhängig davon, ob die ÖTV mit den übrigen Gewerkschaften fusioniert oder
als 1,5-Millionen-Organisation bestehen bleibt, entscheidend wird sein, wie sie sich für die Zukunft gewerkschaftspolitisch positioniert.
Wie auch alle anderen Gewerkschaften verliert sie seit Jahren ständig Mitglieder und
hat ein großes Problem, abhängig beschäftigte Jugendliche zu organisieren. Wenn auch diese Führung den bisherigen
sozialpartnerschaftlichen und staatstragenden Kurs verfolgt, wird die ÖTV in den Betrieben unweigerlich weiter an Einfluss und damit auch letztlich
ihre Existenzberechtigung verlieren.
Die Schaffung einer Megagewerkschaft ver.di, in der durchaus auch Chancen für eine
positive organisatorische und politische Entwicklung liegen, würde diesen Prozess höchstens verlangsamen.
Frank Böhm
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