Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 23.11.2000, Seite 13

Palästina

Das Debakel der israelischen ‘Linken‘

Die Al Aqsa-Intifada hat den sog. Friedensprozess von Oslo beendet und dessen kolonialistisches Fundament entlarvt. Während Israel im religiös-nationalistischen Fanatismus versinkt, entsteht beiderseits der grünen Grenze eine neue palästinensische Einheit.
Das Osloer Abkommen verfolgte im Wesentlichen zwei Ziele:
die Sicherung der politischen Stabilität der Region, damit sie für Kapitalanlagen attraktiv wird;
die Fortschreibung der Kontrolle des israelischen Staates über die seit 1967 besetzten Gebiete — in Zusammenarbeit mit der Palästinensischen Autonomiebehörde, die palästinensische Oppositionsbewegungen unterdrücken und die ökonomischen und Sicherheitsinteressen Israels bedienen sollte.
Hinter dem Osloer Abkommen stand die Annahme, Arafat werde in der Lage sein, Israels Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen, ohne dabei auf den Protest legaler demokratischer und politischer Institutionen zu stoßen, weil es solche in dem Regime, das er im Palästinensischen Autonomiegebiet errichten sollte, nicht geben würde.
Diese Annahme hat sich nicht verwirklicht — aus mehreren Gründen.
Die Schicht von Bürokraten, die Arafat aus seinem Exil in Tunis nach Palästina brachte und an die Spitze der Autonomiebehörde stellte, zog sich den Zorn der ortsansässigen palästinensischen Bevölkerung zu — nicht zuletzt weil sie wirtschaftlich und politisch korrupt ist. Nicht nur die demokratische Elite, die aus der "ersten Intifada" hervorgegangen ist, von Arafat aber an den Rand gedrängt wurde, ging in Opposition zu ihr, sondern auch führende Politiker und Militärs, die diese Elite damals repräsentierten.
Selbst die Fatah-Miliz Tantheem, die sich mit Genehmigung Arafats in den besetzten Gebieten etablieren konnte, ist mehrheitlich gegen den Regierungsapparat Arafats eingestellt. Sie zeigt zunehmend Tendenzen zur politischen und operationellen Unabhängigkeit von Arafat; damit stellt sie den Oslo-Prozess, den sie eigentlich umsetzen soll, eher in Frage.
Es stimmt, was Danny Rubenstein in der israelischen Tageszeitung Ha‘aretz (18.10.) schrieb: Arafat hat den Aufstand nicht unter Kontrolle, er ist spontan ausgebrochen und wurde weitgehend von Tantheem angeführt.
Ebenso unhaltbar war die dem Osloer Prozess zugrundeliegende Annahme, die Polizeieinheiten, die Arafat aufbauen durfte, würden sich ausschließlich ihrer Aufgabe verpflichtet fühlen, die Sicherheit der Israelis zu garantieren — d.h. der Siedler, Soldaten und Zivilisten, die innerhalb der Grünen Demarkationslinie leben.
Die "zweite Intifada" hat jedoch deutlich gemacht, dass die palästinensische Polizei, einschließlich der Präventiven Sicherheitskräfte, sich in erster Linie als Schutzmacht für die eigene Bevölkerung versteht, wenn diese von israelischen Soldaten angegriffen wird.
Die Vorstellung, es werde möglich sein, eine Art Südlibanesische Armee zu bilden, die von der besiegten und unterdrückten palästinensischen Bevölkerung getrennt ist, hat sich als Irrtum erwiesen. Viele palästinensische Polizisten haben während der militanten Demonstrationen gezeigt, dass sie sich stark mit ihnen identifizierten, sich sogar an ihnen beteiligten und israelische Soldaten und Siedler angriffen.
Anders als erwartet ist Arafat heute noch nicht in der Lage, ein Abkommen zu unterzeichnen, das das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr und die Hoheit über Ostjerusalem und den Bezirk um die Al-Aqsa-Moschee preisgibt.
Obwohl es zur Zeit noch keine organisierte demokratische Opposition gibt, gibt es doch in weiten Schichten der palästinensischen Bevölkerung — in Palästina wie in der Diaspora — einen hohen Grad an Politisierung und Bereitschaft zum Handeln, die für die Führung um Arafat eine ernste Gefahr darstellen.

Die israelische "Linke" hat den Prozess von Oslo in Gang gesetzt; sie hat dabei stets seine Bedeutung für die "Trennung der beiden Völker" hervorgehoben. "Lasst uns in Frieden auseinandergehen", erklärten die führenden Vertreter von "Frieden jetzt".
Diese Losung wurde gebetsmühlenartig wiederholt — obwohl sowohl die Arbeitspartei als auch der Likud-Block an der Regierung dafür gesorgt haben, dass israelische Siedlungen bis an den äußersten Rand palästinensischer Städte und Dörfer vorstoßen konnten. Diese Siedlungen dienten gerade dazu, eine Trennung zu verhindern und die Vorstellung von einer palästinensischen "Souveränität" im Rahmen ihrer autonomen Enklaven bedeutungslos werden zu lassen.
Als ebenfalls unrealistisch hat sich die Vorstellung erwiesen, es sei möglich, den Staat Israel durch eine grüne Grenze von den 1967 besetzten Gebieten zu trennen. Der zehntägige Aufstand der in Israel lebenden palästinensischen Araber hat gezeigt, wie boshaft und töricht die Losung "Zwei Staaten für zwei Völker" ist. Das aber war jahrelang die Losung des "radikaleren" Flügels der israelischen Linken.
Die Verkünder dieser Losung haben die Existenz der palästinensischen Araber in Israel einfach ignoriert und die Stärkung ihrer nationalen palästinensischen Identität nicht wahrgenommen. Diese Identität hat die grüne Grenze verwischt, wie israelische Kommentatoren der Al-Aqsa-Intifada bemerkten.
Die grüne Grenze wurde aber nicht nur durch die starke Identifikation der in Israel lebenden Palästinensern mit dem Aufstand in den besetzten Gebieten verwischt. Israel selbst hat diese Grenze seit langem niedergerissen, indem es seine arabische Bevölkerung als Feind behandelte und gegen sie dieselben Unterdrückungsmethoden einsetzte, die es gegen seine Untertanen in den besetzten Gebieten anwendet: Schusswaffengebrauch gegen Demonstranten, Niederwalzung "illegaler" Häuser, Beschlagnahmung von Land und die Errichtung von Siedlungen dicht am Rand der arabischen Wohngebiete, denen dieses Land abgenommen wurde — um ihre Ausdehnung zu verhindern.
Wir stoßen hier auf einen immanenten Widerspruch in der Politik des jüdisch- zionistischen Staates gegenüber seinen arabischen Bürgerinnen und Bürgern. Auf der einen Seite möchte dieser Staat einen Unterschied machen zwischen den Palästinensern, die nach dem Krieg von 1948 im israelischen Staatsgebiet wohnen blieben, und denen, die außerhalb desselben lebten. Er will sie voneinander trennen.

Gleiche Rechte

Auf der anderen Seite ist Israel gezwungen, immer wieder das Argument der "Sicherheit" zu bemühen, um die Existenz eines jüdischen Staates zu rechtfertigen. Dieses Argument verhindert, dass es die palästinensischen Araber als Bürger gleichen Ranges akzeptiert und als eine nationale Minderheit anerkennt.
Die israelische "Linke" hat sich darauf verlassen, dass die Politik der Enteignung der in Israel lebenden Palästinenser, einschließlich der "Judaisierung" von Galiläa und des Dreiecks Um el Fahem an der Nordgrenze zum Westjordanland (Westbank) ungebrochen fortgesetzt werden könne.
Mittelklasse-Yuppies, meist Ashkenasim (europäische Juden), die den "Frieden wollen", suchten in Galiläa und im Dreieck die "Lebensqualität" städtischer Vororte und bauten dort Siedlungen. Ihrer Meinung nach waren sie dabei bestrebt, "gutnachbarliche Beziehungen" zu den arabischen Bewohnern zu pflegen, indem sie mit den Jugendlichen "Workshops für Koexistenz" organisierten. Das rosige Bild, das sich diese "fortschrittlichen Siedler" von sich selbst gemalt haben, wurde in den letzten Wochen nun erschüttert.
Zur Amtszeit von Rabin wurden im Staatshaushalt die Mittel für die arabischen Kommunen aufgestockt. Das war Teil der politischen Koalition zwischen den arabischen Mitgliedern der Knesset (dem israelischen Parlament) und der Minderheitsregierung, der Rabin vorstand; sie sollte ihm die parlamentarische Mehrheit sichern.
Damals ging man in fortschrittlichen akademischen Kreisen in Israel davon aus, dass der der Prozess der "Israelisierung" der in Israel lebenden Araber zur Lockerung ihrer Identifikation mit der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten führen würde, die ihrerseits "palästinisiert" würden.
Sami Samoha, Soziologieprofessor an der Universität Haifa, erklärte, es sei unvermeidlich, dass die in Israel lebenden Palästinenser den jüdischen Staat akzeptierten, der einen "tiefgehenden Demokratisierungsprozess" durchgemacht habe — "einfach weil es für sie keine bessere Alternative als das Leben in Israel gibt. Die Perspektive eines Lebens in einem Palästinenserstaat ist für sie sicherlich nicht attraktiv. Deshalb ist klar: Ein Leben im jüdischen — und demokratischen — Staat Israel ist, bei all seinen Nachteilen, doch das bestmögliche Los."
Die israelische "Linke" hat sich nie um die Probleme der nationalen arabischen Minderheit und ihre individuelle wie kollektive Desorganisation gekümmert. Ihre Weltsicht war und ist geprägt vom Sicherheitsbedürfnis des Staates Israel und seiner Exstenz als "jüdischer" Staat.
Die Massendemonstrationen der in Israel lebenden palästinensischen Araber in der letzten Wochen haben deutlich gemacht, dass die arabische Minderheit in der israelischen Gesellschaft, die angeblich zersplittert und atomisiert ist, einen Sinn der Solidarität mit ihren Brüdern und Schwestern jenseits der grünen Grenze entwickelt hat — und damit ihre nationale palästinensische Identität gestärkt hat, während sie gleichzeitig beharrlich für ihre vollständige staatsbürgerliche Gleichstellung in Israel kämpft. Diese arabische Minderheit fordert nicht nur "gleiche Rechte" für die Individuen, sondern auch die Anerkennung ihrer kollektiven Rechte: die Rückgabe der Ländereien, die ihnen enteignet wurden, kulturelle Autonomie, usw. Damit stellen sie die rechtlichen und ideologischen Fundamente des jüdisch-zionistischen Staates in Frage, in dem ihre Unterdrückung strukturell angelegt ist.

Offene Gewalt

Nun da die kolonialistischen Strukturen offengelegt worden sind, die der Zionismus errichtet hat, und die nationalen Bestrebungen der palästinensischen Bevölkerung in Israel sichtbar werden, zeigt das Establishment der Arbeitspartei sein wahres Gesicht.
Die Arbeitspartei betont nicht länger die "substantielle Unterschiede", die es zwischen links und rechts gebe, wie sie das seit dem Beginn der Kolonisierung Palästinas getan hat. Ihre eigenständigen politisch- ideologischen Grundlagen sind zusammengebrochen, so auch das "politische Zentrum", das Barak vor den letzten Wahlen gegründet hat: "One Israel".
Die Vertreter der Arbeitspartei unterstützen heute mehrheitlich eine Regierung der nationalen Einheit zusammen mit Likud, unter der Führung von Sharon. Eine solche Regierung würde die Opposition in den besetzten Gebieten mit gewaltsamen und blutigen Mitteln unterdrücken und die Palästinenser zwingen, das israelisch-amerikanische Diktat zu akzeptieren.
Die israelische Öffentlichkeit ist darauf vorbereitet, eine Politik der offenen Gewaltanwendung hinzunehmen. Eine Meinungsumfrage von Gallup ergab, dass sie von religiös-nationalistischem Fanatismus durchtränkt ist. Es vergeht kein Tag, an dem arabische Bewohner nicht geschlagen, verfolgt, ihr Besitz nicht angegrifffen und angezündet wird. Die meisten dieser Übergriffe werden von keiner Polizei und keiner Menschenrechtsorganisation aufgenommen.
Die israelischen Großindustriellen sehen jedoch ihren Traum von einem "neuen Nahen Osten" davonschwimmen. Sie protestieren gegen Baraks Versuch, sich mit Sharon zu verbünden, und fordern eine Koalition mit der Shas — eine ultraorthodoxe Partei, die vorwiegend afrikanische Juden repräsentiert. Zur Zeit der Regierungsbildung Baraks haben dieselben Kräfte gerufen: "Nie wieder Shas!" Eine Regierung der nationalen Einheit mit Sharon würde die Brüche in den israelisch- amerikanischen Beziehungen vertiefen und die palästinensische Opposition auf beiden Seiten der grünen Grenze stärken. Innerhalb der israelischen Gesellschaft würde eine solide Strömung geschaffen, die sich vom neuen nationalistischen Bündnis absetzt.

Tikva Honig-Parnass

Tikva Honig-Parnass ist Herausgeberin der in Israel erscheinenden Zeitschrift Between the Lines, die eine "konsequente Ablehnung des Osloer Abkommens und der Apartheidverhältnisse in den besetzten Gebieten" vertritt.

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