Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 23.11.2000, Seite 15

Gerhard Zwerenz zum Trotzki-Tabu

Seit Mai dieses Jahres wirbt der Schriftsteller Gerhard Zwerenz in der Öffentlichkeit dafür, dass die PDS und ihr Umfeld das seit Stalins Zeiten in Ostdeutschland vorgegebene, vielfach aber auch im Westen herrschende Trotzki-Tabu brechen. Es gelte, meint der ehemalige Deserteur von der Hitlerwehrmacht und 1957er Flüchtling aus der DDR nach Differenzen mit der SED-Führung, Traditionen des großen russischen Revolutionärs für die eigene Politik fruchtbar zu machen. Am weitesten reicht Zwerenz‘ Stimme durch einen Artikel im Neuen Deutschland (vom 20./21.5.2000). Für die Blockierung der beginnenden internationalen Trotzki-Renaissance hierzulande machte er darin "den verdrängten Schuldkomplex der Kommunisten und früheren Sowjetfreunde" verantwortlich, "die sich nicht eingestehen wollen, dass die junge Sowjetunion mit dem Sieg Stalins über Trotzki ihre revolutionäre Alternative verlor und zu einem russischen National-Sozialismus, wie Trotzki das nannte, degenerierte, der dem Kapital unterlegen ist".
In einer Vorlesungs- und Diskussionsveranstaltung des PDS-nahen Berliner Bildungsvereins "Helle Panke" nahm Zwerenz am 26.10. Gelegenheit, auf persönliche Beweggründe einzugehen, die ihn zu seiner heutigen Einstellung veranlassten. Er berichtete von dem anfangs naiven Faible für Leo Trotzki, das mit aus der (von Bronstein mit dem Pseudonym nicht gemeinten) deutschen Bedeutung des Wortes "Trotz" herrührte, und das ihn dank absoluter Unkenntnis der Gegebenheiten ausgerechnet in der Bibliothek eines sowjetischen Kriegsgefangenenlagers nach Trotzkis Schriften fragen liess, die er jetzt zu lesen beabsichtige.
Interessant ist Zwerenz‘ heutige Einschätzung Trotzkis als einer Person, "die wir am ungenauesten zur Kenntnis genommen haben", verbunden mit der Erkenntnis, zugleich habe diese Person offenbar so nachhaltig auf die Zeitgenossen eingewirkt, dass sie in der Literatur immer wieder direkt oder durch Umschreibungen erwähnt wurde. Es könnte manche Dissertation vergeben werden, um das genau zu ermitteln. Der Redner bezeichnete es als Kardinalfehler des sowjetischen Sozialismus, weitgehend auch des Sozialismus im 20.Jahrhundert insgesamt, dass sie diesen großen Revolutionär tabuisiert hätten. Sein Erbe bestehe wesentlich darin, dass er sowohl Stalins als auch Hitlers Diktatur bekämpft, jedoch zur Unterstützung der Sowjetunion aufgerufen habe, falls Hitlerdeutschland sie überfallen sollte.
Zur aktuellen Problematik sagte Zwerenz, es sei inakzeptabel, wenn die revolutionären Traditionen der Arbeiterbewegung ad acta gelegt würden, weil dann ein erfolgreicher Widerstand gegen Rechte und Rechtsextreme, gegen die reaktionäre Linie in der deutschen Geschichte unmöglich wäre. Die PDS müsse unterstützt werden, aber nur, wenn sie an diese Traditionen anknüpft und nicht mit um einen Platz in der "neuen Mitte" der BRD-Gesellschaft ringt. Angesichts ihrer Haltung zum NATO-Krieg gegen Serbien zeigte er sich optimistisch, dass Letztgenanntes nicht eintreten werde.
Zwerenz erklärte zur Zielsetzung der Sozialisten, deren Inhalt müsse der kategorische Imperativ von Marx sein, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Trotzkis Fassung des Imperativs finde sich in seinem Testament von 1940. Sie laute: "Das Leben ist schön. Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen und es voll genießen." Ernest Mandel habe die Ziele antikapitalistisch- sozialistischer Politik 1985 so beschrieben: "Sozialismus bedeutet weder ein Paradies auf Erden … noch die Herstellung einer perfekten Harmonie zwischen dem Indidivuum und der Gesellschaft oder zwischen dem Menschen und der Natur. Er bedeutet auch weder das ‚Ende der Geschichte‘ noch das Ende von Widersprüchen, die die menschliche Existenz charakterisieren. Die Ziele, die von den Anhängern des Sozialismus verfolgt werden, sind ziemlich bescheiden: nämlich sechs oder sieben Widersprüche aufzuheben, die seit Jahrhunderten menschliches Leid im Massenmaßstab hervorgerufen haben. Die Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, Kriege und Gewalt zwischen den Menschen sollen ein Ende haben. Hunger und Ungleichheit müssen für immer beseitigt werden. Die institutionalisierte und systematische Diskriminierung von Frauen und Rassen, von ethnischen Gruppen und nationalen und religiösen Minderheiten, die als ‚inferior‘ betrachtet werden, muss beendet werden. Es darf keine wirtschaftlichen und ökologischen Krisen mehr geben."* Nach Ansicht von Zwerenz könnte das unser gemeinsames Programm sein.
Die meisten Diskussionspartner stimmten diesen Ausführungen zu. Sie ergänzten sie z.T. durch Hinweise auf bleibende Verdienste Trotzkis, die besonders in seiner Stalinismuskritik, seinem Faschismusbild und der Forderung nach antifaschistischem Kampf durch die Einheitsfront der Arbeiter gesehen werden müssten. Die permanente Revolution sei in Westeuropa und den USA auf absehbare Zeit nicht aktuell. Doch müsse Entstellungen wie der in den Weißenseer Blättern (Nr.3, 2000) wiedergegebenen Version entgegengetreten werden, sie habe einen Export der Revolution durch die Rote Armee bedeutet. Der Vertreter einer als "trotzkistisch" firmierenden Sekte behauptete, dass der Referent — auch aus Unkenntnis vieler von Trotzkis Schriften — dessen Bild verzerrt habe. Verdammenswert sei vor allem Zwerenz‘ These, Leo Trotzki würde, lebte er noch, heute auf einen revolutionären Pazifismus hinsteuern. Der Berichterstatter kann dem nicht folgen. Die Frage, scheint ihm, lautet vielmehr: Welche andere Position zum "großen Krieg" kann ein humanistisch gesinnter Sozialist oder Kommunist angesichts der vorhandenen und jederzeit einsatzbereiten Vernichtungspotenziale sonst einnehmen, als die der strikten Kriegsgegnerschaft? Die Position schließt keineswegs aus, weiter revolutionäre Aufstände und Befreiungsbewegungen unterdrückter Völker zu unterstützen.
Bei sicherlich vorhandenen Meinungsverschiedenheiten mit Zwerenz im Detail ist dessen Agitation für einen Bruch mit dem Trotzki-Tabu ein Ansatz, die Politik der PDS sozialistisch zu justieren. Zermürbende Auseinandersetzungen innerhalb der Partei und in ihrem Umfeld könnten dadurch verringert werden. Die Stärke der PDS als immer noch bedeutendster progressiver Kraft in Deutschland würde erhöht.

Manfred Behrend

*[Vgl. Ernest Mandel, Revolutionärer Marxismus heute, Frankfurt/M. (ISP) 1982, S.253.]



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