Sozialistische Zeitung |
Der Völkermord an den Juden, der am Ende des Zweiten Weltkriegs ignoriert wurde und fast unsichtbar war, ist im
Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte ins Zentrum unseres Bilds des 20.Jahrhunderts gerückt. Er hat den Status eines grundlegenden Ereignisses, einer
großen historischen Wendemarke bekommen; hinsichtlich seiner Reichweite und dem ihm zugeschriebenen Platz in der Geschichte kann man ihn mit
dem Fall des Römischen Reichs, der Reformation oder der Französischen Revolution vergleichen, ohne dass man ihm jedoch im diachronischen
Verlauf der Vergangenheit einen analogen Sinn zuschreiben könnte.
Daraus ergibt sich eine riesige Kluft Primo Levi sprach von einem
"schwarzen Loch" zwischen der Anerkennung und dem Begreifen, zwischen der zentralen Position, die Auschwitz am Ende dieses
Jahrhunderts in der mentalen Landschaft einnimmt und der Leere seiner vernünftigen Verstehbarkeit. Das Problem wird häufig mittels
entgegengesetzter Herangehensweisen umgangen: Manchmal wird die Shoah in einen überhistorischen Rang erhoben, in einen von der Geschichte
befreiten Ort des Gedenkens, der mit dem normativen Dogma der Undurchdringbarkeit umkleidet wird, manchmal wird sie positivistisch historisiert, was Dan
Diner den "methodologischen Rückzug auf die Beschreibung von Strukturen" genannt hat. (Immerhin beschaffte uns diese
Vorgehensweise einen unverzichtbaren Sockel von Kenntnissen.)
Die Veränderung des historischen Gedächtnisses ging auch mit der Implosion
der UdSSR und dem Ende der kommunistischen Parabel einher, die, statt die Idee des Sozialismus aus dem totalitären Eisen zu befreien, sie mit sich
gerissen zu haben scheint. Die Desillusionierung und die Verfinsterung der vom Kommunismus getragenen emanzipatorischen Hoffnungen haben das
Gefühl der Leere verstärkt und die politische Landschaft verdunkelt. Zu Ende des 20.Jahrhunderts bleibt "eine einzige Katastrophe",
ein Haufen von Trümmern in der Mitte des "Fortschritt" genannten Sturms, von dem Walter Benjamin in der These IX seines Werks
"Über den Begriff der Geschichte" schreibt, aber ohne dass das "enge Tor" des Messias (der Revolution) sichtbar wäre,
das von der liberalen Anti-Utopie verschlossen worden ist. Der Liberalismus scheint aus der "melancholischen Grundstimmung zu Ende dieses
Jahrhunderts" (François Furet) als einzig akzeptable Ordnung hervorzutreten.
Trotz einer Unzahl von Monografien sind die Versuche, den Völkermord an den
Juden in eine globale historische Interpretation des 20.Jahrhunderts zu integrieren, eher selten. Die marxistische Historiografie, deren bedeutendster Vertreter
heute Eric Hobsbawm ist, hat ihn (fast) ignoriert. Die Herangehensweise der konservativen und liberalen Historiker hingegen enthält starke ideologische
Züge. Auschwitz wurde als "übersteigerte" Antwort auf die Bedrohung, die der Bolschewismus angeblich für die westliche
Zivilisation darstellte, analysiert (Ernst Nolte) oder als vorübergehender Rückfall, parallel zu dem des Kommunismus, beim unaufhaltsamen
Voranschreiten des Liberalismus (François Furet).
Trotz ihrer Differenzen teilen diese Interpretationen dieselbe apologetische Haltung
gegenüber dem Westen, der entweder als Ausweg für ein auf seinem Weg in die Moderne auf einen "Sonderweg" abgekommenen
Deutschland gesehen wird, oder aber als Sammelbecken einer achtbaren nationalistischen Tradition, die von den Nazis auf Abwege geführt wurde
(Nolte), oder schließlich als Quelle einer historisch unschuldigen liberalen Ordnung, die fortan als unüberschreitbarer Horizont akzeptiert wird
(Furet).
Sicherlich handelte es sich beim Völkermord an den Juden um die extreme
Zuspitzung eines jahrhundertealten Antisemitismus, der in Deutschland spezifische Züge angenommen hat; auch die antisemitische Prägung
Europas war eine notwendige Vorbedingung. Natürlich war der Nationalsozialismus eine konterrevolutionäre Bewegung, die sich aus der
radikalen Gegnerschaft zum Bolschewismus speiste; die "Endlösung" wurde im Rahmen der Planung und Umsetzung eines Kreuzzugs
gegen die UdSSR und den Kommunismus ermöglicht. Sicherlich standen Kommunismus und Faschismus aus unterschiedlichen Gründen und
mit unterschiedlichen Methoden in Gegnerschaft zum Liberalismus, denn dieser war ein Kind von 1789 und die Faschisten Mussolini, Goebbels und
Hitler wiederholten es unablässig wollten die Französische Revolution aus der Geschichte tilgen.
Die drei genannten Interpretationen können sich somit auf unbestreitbare Elemente
stützen, sie setzen sie aber auf einseitige Weise in ihre Darstellung des Jahrhunderts ein, woraus sich ein verzerrtes Bild ergibt. Eigentlich gibt es
für sie, abgesehen vom Antisemitismus, keine Vorgeschichte von Auschwitz. Unsere Studie möchte nicht auf die genannten Aspekte den
Antisemitismus, den Antikommunismus und den Antiliberalismus eingehen, die heute im Zentrum der Diskussion stehen und über die seit
mehreren Jahren umfänglich geforscht wird. Vielmehr versucht sie, das Augenmerk auf die tiefe Verankerung des Genozids an den Juden im liberalen
Europa des 19.Jahrhunderts zu lenken: dem Europa des industriellen Kapitalismus, des Kolonialismus und Imperialismus, dem Europa der aufstrebenden
Wissenschaften und modernen Techniken, dem Europa des "langen" 19.Jahrhunderts, das auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs zu
Ende ging.
Vom Henker zur Guillotine
Unbestreitbar markiert die Französische Revolution einen historischen Wendepunkt in den Metamorphosen der Gewalt im Okzident. Wir
möchten hier nicht zum hundertsten Mal der Kultur der Aufklärung den Prozess machen, um dort die Wurzeln des totalitären Terrors zu
entdecken (die volonté générale von Rousseau), noch im Wohlfahrtsausschuss oder im Krieg gegen die Vendée die Vorläufer
der modernen Praktiken der Vernichtung aus politischen Gründen nachweisen. Wir lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Guillotine als wichtige
Etappe im Prozess der Serialisierung der Tötungsarten. So wie die Hinrichtung von Ludwig XVI. das Ende des ancien régime symbolisiert, so
kündigt die Guillotine das Heraufziehen der Moderne in der Kultur und Praxis des Todes, der Einrichtung neuer Formen der staatlichen Gewalt an.
Unter diesem Gesichtspunkt ist es durchaus von Interesse, die Guillotine mit der
Todesstrafe im ancien régime zu vergleichen, deren öffentliches Ritual von Joseph de Maistre in seinem Buch Abendstunden zu St. Petersburg
mit Nostalgie und feierlicher Geste beschrieben worden ist. Der Aristokrat aus Savoyen zeichnete dort ein gleichzeitig erschreckendes und bewunderndes Bild
des Henkers, den er in den Rang eines Pfeilers der traditionellen Ordnung erhob. Er beschrieb seine Ankunft auf dem Schafott, die schweigende und bebende
Menge, das schreckensbleiche Gesicht des Verurteilten, den Mund, "weit geöffnet wie ein Glutofen", seine Schreie, seine Knochen, die
unter der Keule zerschmettern, das herausspritzende Blut, der bluttriefende Henker und die erschauernde Menge, die auf ihn blickt.
Maistre bezeugte Respekt für jene Figur, die scheinbar so wenig ehrbar und für
die Gesellschaft dennoch unabkömmlich war, vor der man voller Verachtung floh, die man aber als unersetzlichen weltlichen Arm der Autorität,
einer transzendenten göttlichen Ordnung, die Unterwerfung und Gehorsam verlangen konnte, fürchtete und akzeptierte: "Gott, der der
Urheber der Souveränität ist, ist also auch der Urheber der Strafe." In den Augen von Maistre nahm der Henker die Züge eines
"außergewöhnlichen Geschöpfes" an und gleichzeitig verkörperte er den "Schrecken und das Band der
menschlichen Gesellschaft".
In einem bemerkenswerten Essay, den Isaiah Berlin dem Konterrevolutionär aus
Savoyen gewidmet hat, hat er die Modernität von dessen Sicht des Henkers betont. Die "Fassade" von Maistres Schriften sei sicherlich
klassisch, doch ihr innerer Kern sei schrecklich modern, es ist ganz einfach die Vision einer auf dem Terror gegründeten politischen Ordnung, die die
politischen Totalitarismen des 20.Jahrhunderts zu verwirklichen versucht haben.
Die Kraft von Maistres Werk rührt eben aus seiner Mischung aus Modernität
und Obskurantismus, seiner visionären Vorwegnahme eines Reichs des Nihilismus, in der es keinen Platz mehr für Humanität, Vernunft
und Fortschritt gibt; diese Darstellung ist in eine mittelalterliche Apologie der göttlichen Ordnung und des ancien régime eingebettet. Als ein
Jahrhundert später die Gegenaufklärung ihr Bündnis mit der modernen Technik einging, führte die Mischung aus archaischen
Mythologien und einem zerstörerischen Nihilismus schließlich in den Faschismus.
Obgleich wir die These von Berlin in mehrfacher Hinsicht für zutreffend halten,
interessieren wir uns hier eher für die "Oberfläche" von Maistres Argumentation. Die Modernität seiner Vision einer auf dem
Terror beruhenden Ordnung versteckt sich hinter einer Sakralisierung und Heroisierung des Henkers, die bei genauerer Betrachtung schon anachronistisch
war, als der Exilant aus Savoyen seine Abendstunden zu St.Petersburg schrieb.
Im Verlauf der Revolution hörte der Henker auf, der absolute Meister der
Strafzeremonie zu sein, und wurde durch ein neues Symbol der Souveränität ersetzt: durch die Guillotine. Der schreckliche Henker mit seinem
königlichen Richtbeil verließ die Szene; seine Rolle wurde nunmehr von einer Maschine übernommen, deren einfaches Anhängsel er
wurde, als Techniker und Arbeiter. Das neue Symbol der demokratischen Justiz war nun eine technische Vorrichtung zum Köpfen.
Mit der Guillotine tritt die industrielle Revolution in den Bereich der Todesstrafe ein. Die
Hinrichtung wird mechanisiert und geht in Serie; sie hörte bald auf, ein Spektakel zu sein, eine Liturgie des Leidens, und wurde ein technischer
Vorgang der unpersönlichen, effizienten, stillen, schnellen Tötung am Fließband; Foucault hat von einer "neuen Ethik des legalen
Tötens" gesprochen. Das schließliche Resultat sollte die Entmenschlichung des Todes sein.
Die Geschichte der Guillotine stellt eine bemerkenswerte Illustrierung der Dialektik der
Vernunft dar. Sie war das Ergebnis einer breiten Diskussion in der Gesellschaft, in der die Mediziner eine herausragende Rolle gespielt haben, und sie
beendete ein Jahrhundert des Kampfes der Philosophen gegen die Unmenschlichkeit der Folter. Jahrhundertelang hatten die Monarchien und die Kirche alle
Mühen darauf verwandt, die Hilfsmittel der Folter immer ausgefeilter zu machen, damit die Schmerzen der Verurteilten zunahmen. Die Guillotine
verkürzte die Hinrichtung auf einen einzigen Augenblick und beseitigte das physische Leiden des Verurteilten fast völlig; sie wurde daher als
Fortschritt in der Menschlichkeit und der Vernunft begrüßt.
Die Massenhinrichtungen im Jahr II der Revolution, einer der Gründe für die
Ablehnung des Terrors durch die Bevölkerung, die des Blutzolls überdrüssig war, zeigten alsbald die Auswirkungen der Rationalisierung
und Mechanisierung des Systems der Hinrichtung. Die Aufstellung der Guillotine markierte auch die "Emanzipation" des Henkers, der seine
düstere Aura verlor, sich in einen einfachen Bürger verwandelte und ab 1790 wählbar wurde.
So begann ein Prozess, dessen Ergebnis gut ein Jahrhundert später von Kafka
illustriert wurde. Im Mittelpunkt seiner Erzählung "In der Strafkolonie" steht eine Maschine, die zugleich bestraft und hinrichtet; der mit
ihrer Wartung beauftragte Offizier beschreibt bewundernd ihre Charakteristiken, ihre Funktionen, ihre technische Perfektion. In seiner Indifferenz
gegenüber dem Los der Verurteilten und seiner völligen Unterordnung unter die Maschine/den Apparat das Urteil wird von ihr in den
Körper der Verurteilten eingeschrieben ist dieser bornierte Offizier zum jederzeit ersetzbaren Ausführungsorgan einer einfachen
technischen Aufgabe geworden.
Der Apparat tötet; der Handlanger beschränkt sich darauf, ihn zu
überwachen. Die Exekution wird eine technische Operation, der Diener der Maschine ist nur für ihre Wartung zuständig: es handelt sich
somit um eine Arbeit ohne Subjekt. Der Henker ist nun nicht mehr Verteidiger der göttlichen Ordnung, er verkörpert kein Symbol, er vollzieht
keine öffentliche Zeremonie mehr, er ist nur noch ein Teilchen in einem Prozess des Tötens, dessen instrumentelle Rationalität ihn jeder
Einzigartigkeit beraubt. Die Guillotine inauguriert eine neue Ära, die von einer schweigenden und anonymen Armee von kleinen Funktionären der
Banalität des Bösen bewohnt wird, die nach Gesetzeslage immer unschuldig sind und denen man "Engstirnigkeit" abverlangt, damit
sie ihre Aufgaben gut erfüllen können.
Menschen unter Maschinen
Foucault hat den Prozess analysiert, durch den im Verlauf des 19.Jahrhunderts das "Fest der Strafe" der verborgenen Hinrichtung, die
dem Blick des Publikums entzogen wird, und der Institution des Kerkers als geschlossenem Ort, als einem Laboratorium des "technischen Zwangs
gegen die Individuen", die vorher unbekannt waren, Platz macht. In den westlichen Gesellschaften setzt sich das Prinzip der Einschließung
durch. Der Geburt des modernen Gefängnisses entspricht die Schaffung von Häusern der Zwangsarbeit für die "schädlichen
Vagabunden" und die Armen, ja während der industriellen Revolution im viktorianischen England sogar der workhouses für Kinder.
In dieser Zeit werden die Kasernen modernisiert, die nun nicht mehr einer aus dem Adel
stammenden militärischen Elite reserviert sind, sondern den Armeen des demokratischen Zeitalters angepasst werden, nachdem die levée en
masse (Massenerhebung) von 1793 ihre Durchschlagskraft gezeigt hatte.
Es ist auch die Zeit des Aufschwungs der Manufakturen und dann der Fabriken, alles Orte,
die vom gleichen Prinzip der Einschließung, der Disziplin der Zeit und des Körpers, der rationellen Teilung und Mechanisierung der Arbeit, der
Unterordnung der Menschen unter die Maschinen dominiert sind. Alle diese gesellschaftlichen Institutionen tragen die Spuren der "Degradierung"
der Arbeit und des Körpers, wie sie dem Kapitalismus innewohnen.
Im Kommunistischen Manifest hatten Marx und Engels den Prozess der Transformation
des Arbeiters in ein "Zubehör" der Maschine beschrieben, die ihm ihren Produktionsrhythmus aufzwingt und nur den "einfachste[n],
eintönigste[n], am leichtesten erlernbare[n] Handgriff" verlangt. Wenn auch der Abstand von den Arbeitshäusern des 19.Jahrhunderts zu
den Konzentrationslagern unermesslich bleibt (sowohl hinsichtlich der Insassen wie auch dem Zweck des Unternehmens), so sind doch bestimmte Prinzipien,
die in den beiden Einrichtungen vorherrschen, sich durchaus ähnlich: die Abgeschlossenheit des Ortes, die Zwangsarbeit, die militärische Art der
Kontrolle, die Bestrafungen, das völlige Fehlen von Freiheit, die unmenschlichen Lebensbedingungen.
Im Kommunistischen Manifest hatten Marx und Engels die Disziplin in einer kapitalistischen
Fabrik mit der in einer Armee und den Arbeiter mit einem Soldaten verglichen; im Kapital beschrieb Marx die englischen Arbeitshäuser der industriellen
Revolution als "den großen herodischen Kinderraub". Er zitierte diesbezüglich einen Bericht der Epoche, der die Folgen der Arbeit
der eingesperrten Kinder schilderte: "sie wurden gepeitscht, gekettet und gefoltert mit dem ausgesuchtesten Raffinement von Grausamkeit". In
diesen Einrichtungen des viktorianischen (und liberalen) England haben einige Historiker Vorformen der Konzentrationslager der modernen Totalitarismen
gesehen.
Sofern die Guillotine den ersten Schritt zu einer serienmäßigen Praxis des
Tötens darstellt, stellt Auschwitz im Zeitalter des tayloristischen Kapitalismus den Epilog dar. Doch es gibt einen langen Übergang; zwischen dem
mechanischen Fallbeil der Hinrichtungen nach 1789 und der industriellen Vernichtung von Millionen menschlicher Wesen in den Nazi-Lagern gibt es
zahlreiche Zwischenetappen.
Die wichtigste war in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts wahrscheinlich die
Rationalisierung der Schlachthöfe. Zuvor befanden sie sich in den Innenstädten; nun wurden sie an den Stadtrand verlegt. Diese Verlegung ging
mit ihrer Rationalisierung einher; nun begannen sie, wie richtige Fabriken zu funktionieren. Dies gilt für die Schlachthöfe von La Villette bei
Paris, die von Haussmann entworfen und 1867 eingeweiht wurden. Dies gilt besonders für die Schlachthöfe von Chicago, die binnen weniger
Jahrzehnte einen beeindruckenden Aufschwung nahmen.
Die Tiere wurden nun am laufenden Band gemäß einer konsequent
rationalisierten Vorgehensweise verwertet: Zuerst wurden sie in den Ställen gesammelt, dann getötet, dann erfolgte die Reinigung, dann wurde
das Tier in die verschiedenen Teile zerlegt, eingefroren, transportiert, gekocht usw. In The Jungle (Der Sumpf), einem naturalistischen Roman, der um
dieselbe Zeit entstand wie Max Webers Essay über die protestantische Ethik, beschrieb der US-amerikanische Schriftsteller Upton Sinclair die
Schlachthöfe von Chicago als "großen Metzger: die Fleischwerdung des Geistes des Kapitalismus".
Wir wissen nicht, ob Hitler die Schlachthöfe im Kopf hatte, als er die Entscheidung
zur "Endlösung" traf, aber die Architekten, die Ingenieure, die Chemiker und die Techniker, die die Vernichtungslager organisiert haben,
haben sie nach jenem Modell berechnet. Sie haben sie als Todesfabriken angelegt, die dem Blick der Zivilbevölkerung entzogen waren und wo die
Serienproduktion von Waren durch die Produktion und mechanische Eliminierung von Leichen ersetzt war. Das System des Mordens folgte dem Prinzip
rationeller Arbeitsteilung und wurde in mehrere Etappen eingeteilt die Zusammenführung, die Deportation, der Raub der Güter der
Opfer (Geld, Kleider, Schuhe, Koffer, Brillen), die Verwertung einiger Teile der Körper (Haare, Goldzähne), die Vergasung und die
Einäscherung der Leichen , um die Rendite zu erhöhen.
Die in den Vernichtungslagern Verantwortlichen hatten im Übrigen keinerlei
Mühe, in ihnen eine typisch industrielle Struktur zu erkennen; ein SS-Arzt hatte eine exakte Definition gegeben: "am laufenden Band". Der
jüdisch-deutsche Philosoph Siegfried Kracauer sollten in seinem Buch Theorie des Films einer der ersten sein, der die Analogie zwischen den
Schlachthöfen und den Todeslagern sah. Durch einen Vergleich von Dokumentarfilmen über die Nazi-Lager mit einem Film wie Le sang des
bêtes (Das Blut der Tiere) von Georges Franju erkannte er denselben methodischen Charakter des Tötungsablaufs und die gleiche geometrische
Organisation des Raums.
Auschwitz weist also, dank des industriellen Verfahrens des Tötens, wesentliche
Ähnlichkeiten mit einer Fabrik auf, wie das durch seine Architektur mit ihren Schornsteinen und den in symmetrischen Kolonnen angeordneten
Barackenbauten, sowie durch seinen Standort mitten in einer Industriezone und in der Nähe eines wichtigen Eisenbahnknotenpunkts deutlich gemacht
wird. Produktion und Vernichtung durchdrangen sich, als sei das Massaker (die Gaskammern in Birkenau) nur eine besondere Form der Produktion gewesen,
gleich der Herstellung von synthetischem Kautschuk, wofür das Lager Auschwitz III (Buna-Monowitz) errichtet worden war.
Die Tote produzierende Fabrik gehörte zum System der Vernichtungslager, die, wie
jede Fabrik, über eine rationelle Verwaltung verfügte, die auf den Prinzipien der Kalkulierbarkeit, der Spezialisierung, der Teilung der Aufgaben
in eine Reihe von dem Schein nach unabhängigen, aber koordinierten Teiloperationen beruhte. Die Agenten des bürokratischen Apparats
kontrollierten nicht den Prozess in seiner Gesamtheit, und wenn sie vom Endzweck wussten, so konnten sie sich immer sagen, dass sie dafür keinerlei
Verantwortung trugen, weil die beschränkte und partielle Funktion, die sie zu erfüllen hatten, überhaupt nichts Kriminelles an sich hatte.
Max Weber hatte in der moralischen Indifferenz einen konstitutiven Grundzug der
modernen Bürokratie gesehen, die spezialisiert und daher unersetzlich, aber von ihren Arbeitsmitteln getrennt und dem Endzweck ihres Handelns
entfremdet ist. In Wirtschaft und Gesellschaft zeichnete er folgendes Porträt: "Die Bürokratie in ihrer Vollentwicklung steht in einem
spezifischen Sinn auch unter dem Prinzip des ‚sine ira ac studio. Ihre spezifische, dem Kapitalismus willkommene, Eigenart entwickelt sie um so
vollkommener, je mehr sie sich ‚entmenschlicht, je vollkommener, heißt das hier, ihr die spezifische Eigenschaft, welche ihr als Tugend
nachgerühmt wird, das hier, die Ausschaltung von Liebe, Hass und allen rein persönlichen, überhaupt aller irrationalen, dem Kalkül
sich entziehenden, Empfindungselementen aus der Erledigung der Amtgeschäfte gelingt."
Die Verkörperung dieser eigentlichen Tendenz zur instrumentellen Rationalität
der westlichen Welt ist der "Fachmann", der "ganz sachlich" und gleichzeitig "indifferent gegenüber den menschlichen
Geschäften" handelt.
Raul Hilberg, der wichtigste Historiker der Vernichtung der europäischen Juden, hat
die Bürokratie der "Endlösung" in strikt weberschen Begriffen beschrieben: "Die meisten Bürokraten verfassten
Denkschriften, entwarfen Durchführungsbestimmungen, unterschrieben Briefe, telefonierten und nahmen an Besprechungen teil. Sie konnten ein
ganzen Volk vernichten, ohne ihren Schreibtisch zu verlassen. Mit Ausnahme von Inspektionsreisen, die nicht obligatorisch waren, mussten sie niemals ‚100
Leichen daliegen sehen, oder 500, oder 1000. Gleichwohl waren diese Männer nicht naiv; sie kannten den Zusammenhang zwischen ihrer
Papierarbeit und den Leichenbergen im Osten. Und sie erkannten auch die Unzulänglichkeit jener Rationalisierungen, die alles Schlechte den Juden und
alles Gute den Deutschen zuwiesen. Deshalb sahen sie sich genötigt, ihre individuellen Aktivitäten zu rechtfertigen."
Die Rechtfertigungen, die sie in den Prozessen der Nachkriegszeit für ihr Handeln
vortrugen, bestätigten nur die wesentlichen Prinzipien der administrativen Sittenlehre: die Respektierung von Befehlen, die als "Schicksal"
aufgefasste Pflicht, die banale Natur ihrer Tätigkeit, die an sich nichts Kriminelles auf sich hatte, schließlich die begrenzte Tragweite ihres
Handelns, das nur im Rahmen eines viel größeren Ganzen Sinn machte, das sie kennen, aber nicht beherrschen konnten.
Kult der modernen Technik
Im Jahre 1942 skizzierte der im Exil in den USA lebende deutsche Philosoph Karl Korsch eine historische Interpretation der Gewaltakte des
Krieges, die die globale Entwicklung des Okzidents in Frage stellte. In seinem Essay "Notes on History" schrieb er: "Die Neuheit der
totalitären Politik ergibt sich aus der Tatsache, dass die Nazis auf die ‚zivilisierten europäischen Völker die Methoden ausgeweitet
haben, die bisher den ‚Eingeborenen und den ‚Wilden vorbehalten waren, die außerhalb der sogenannten Zivilisation lebten."
In ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, das 1951
veröffentlicht wurde, aber auch Texte enthielt, die in den Kriegsjahren geschrieben worden waren, deutete Hannah Arendt den europäischen
Imperialismus als eine für die Entstehung des Nationalsozialismus wesentliche Etappe. Die Gewaltakte des 19.Jahrhunderts in den Kolonien schienen
ihr eine Vorbedingung für die von den Nazis an Europäern und vor allem an den Juden begangenen Verbrechen zu sein, die Opfer eines
Völkermords wurden, der als Projekt rassischer Säuberung konzipiert war.
Im zweiten Teil des Buches, der den Titel "Der Imperialismus" trägt,
beschreibt sie die Politik kolonialer Herrschaft im 19.Jahrhundert als eine erste Verbindung von Massaker und Verwaltung, wovon die Nazilager in ihren
Augen die entwickelte Form darstellten. Der moderne Rassismus, der sich im Namen der Wissenschaft rechtfertigt, und die Bürokratie, die Max Weber
als die perfekteste Verkörperung der westlichen Rationalität interpretiert hatte, sind getrennt entstanden, haben aber eine parallele Entwicklung
genommen. In Afrika sind sie aufeinander getroffen: die Eroberung jenes Kontinents, die ein bis dahin unbekanntes Potenzial von Gewalttätigkeit
hervorbrachte, wurde dank moderner Waffen umgesetzt und von der militärischen und zivilen Bürokratie geplant.
Arendt verwendete diesbezüglich die griffige Formel
"Verwaltungsmassenmord", der für sie die Vernichtungslager der Nazis vorwegnahm. In anderen Worten, die methodische Dezimierung
der eingeborenen Bevölkerung, die mit der Errichtung administrativer Strukturen der Kolonialmacht einhergegangen war, erschien ihr als ein
Laboratorium des Nationalsozialismus.
Der Krieg gegen die UdSSR bietet eine beredte Illustration jener Kontinuität, die
Hitlers Weltanschauung mit dem europäischen Kolonialismus des 19.Jahrhunderts verbindet. Der deutsche "Blitzkrieg" von 1941 fasste
alle Ziele der Nazis zusammen, in denen der Wille, die UdSSR und den Kommunismus zu beseitigen, untrennbar mit der Ausrottung einer als
"schädlich" beurteilten "Rasse" den Juden (in Hitlers Augen der Kopf der internationalen kommunistischen Bewegung)
und der Eroberung von "Lebensraum" für Deutschland im Osten Europas verbunden waren. Die Welt der Slawen sollte
unterworfen und kolonisiert werden und sich so in eine Art "deutsches Indien" verwandeln; die Bevölkerung die
"Eingeborenen" sollten mittels Vernichtungsmethoden unterworfen werden, wie sie die USA gegen die Indianer eingesetzt haben.
Die Versklavung der slawischen Völker und die Vernichtung der Zigeuner und vor
allem der Juden waren als verschiedene Aspekte eines Prozesses konzipiert, für die die Eroberungen der europäischen Kolonialmächte in
Afrika und Asien, aber auch die Indianerkriege im amerikanischen Westen das Modell darstellten. Sie gehörten zu einer historischen Linie, in der die
Nazi-Politik als Ausdruck eines verspäteten Imperialismus ihre Rechtfertigung und ihren natürlichen Platz fand.
In diesem Zusammenhang müssen wir darauf hinweisen, dass der Begriff
"Lebensraum" keine Erfindung der Nazis war. Er war 1901 im wilhelminischen Kaiserreich vom deutschen Geografen Friedrich Ratzel
geprägt worden und gehörte, lange vor der Entstehung des Nationalsozialismus, zum Vokabular des deutschen Nationalismus. Als
Verschmelzung von Sozialdarwinismus und imperialistischer Geopolitik ergab er sich aus einer Sicht der außereuropäischen Welt als
kolonisierbarem Raum, der biologisch höherstehenden Gruppen reserviert sein sollte.
Ratzel hatte schon 1897 in seiner Politischen Geographie die Juden und Zigeuner mit den
Afrikanern auf eine Stufe gestellt, die natürlich als minderwertige Rasse dargestellt wurden. Im wilhelminischen Deutschland inspirierte die Idee vom
Lebensraum verschiedene Strömungen des Pangermanismus und begründete die häufig erhobene Forderung nach einer
"Weltpolitik", die Deutschland einen international mit Frankreich oder Großbritannien vergleichbaren Platz sichern sollte.
Dass dies zu einer Politik kolonialer Expansion Richtung Osten, in die von den slawischen
Untermenschen bevölkerten Gebiete führen konnte, war seit Ende des 19.Jahrhunderts für viele deutsche Nationalisten nur zu
offensichtlich. Nach der Niederlage im Krieg und den Deutschland durch den Versailler Vertrag aufgezwungenen Gebietsabtretungen wurde diese Forderung
vom Nationalsozialismus wieder aufgegriffen und radikalisiert. Zu Beginn der 20er Jahre hatte der völkische Schriftsteller Hans Grimm großen
Erfolg mit seinem Roman Volk ohne Raum.
Dieser wichtige Aspekt des Nationalsozialismus ist bis heute nicht zureichend studiert
worden. Neben einer umfassenden Bibliografie zur Geschichte des Antisemitismus in Deutschland und zu den ideologischen Vorläufern und
theoretischen Ideengebern Hitlers von Richard Wagner bis Arthur Moeller van den Bruck, von Wilhelm Marr bis Houston Stewart Chamberlain
, finden sich recht wenig Arbeiten, die die Naziverbrechen im Licht der Kultur und Praktiken von Europäern und Deutschen in den Kolonien
zu beleuchten suchen. Der Akzent wird so ausgehend von der Feststellung der Singularität des Völkermords an den Juden auf
die spezifischen Charakterzüge des deutschen Antisemitismus und nicht auf seine Verwurzelung in einer Theorie und Praxis der Vernichtung der
"minderwertigen Rassen" gelegt, die sicherlich weniger radikal und vor allem nie als "total" konzipiert war, die aber dennoch das
gemeinsame Los der westlichen Imperialismen darstellt.
Wir brauchen hier nicht die Metamorphosen des Rassismus im 19.Jahrhundert
nachzuzeichnen, von der ersten "wissenschaftlichen" Systematisierung eines Gobineau die Hierarchisierung der menschlichen Rassen, die
Sicht der Vermischung als Quelle der Degenerierung der höheren Völker und der Dekadenz der Zivilisation zu den späteren
Elaboraten eines Georges Vacher de Lapouge oder eines Houston Stewart Chamberlain, deren Schriften bereits tief vom Sozialdarwinismus, der
medizinischen Anthropologie, der Eugenik und der Rassenbiologie verseucht sind. Die Rassisten zu Ende des 19.Jahrhunderts bekämpften die
resignierte Haltung eines Gobineau angesichts der "Dekadenz" des Westens eine Haltung, in der Arendt eine Projektion des Niedergangs
des europäischen Adels sehen wollte und verkündeten ihre Therapien der "Verbesserung" (die "natürliche
Zuchtwahl" der Rassen, die Vernichtung besiegter Völker als "Naturgesetz" der historischen Entwicklung), die in der kolonialen Welt
ihr wichtigstes Versuchsgebiet finden sollten.
Jener Wille rassischer "Verbesserung", jenes Bestreben zugunsten einer neuen
Weltordnung und neuer Herrschaftsverhältnisse zwischen den Menschen führten zum Übergang von der Ideologie der Dekadenz zum
Vitalismus, von der Apologie der traditionellen Ordnung zum Kult der modernen Technik als Quelle der Eroberung und der Macht, mit anderen Worten zum
Übergang vom Konservatismus zum Faschismus. Der biologische Rassismus und der Kolonialismus nahmen einen parallelen Aufschwung, in dem sich
zwei sich ergänzende Diskurse überlagerten: die "zivilisatorische Mission" Europas und die "Vernichtung der minderwertigen
Rassen", oder in anderen Worten die Eroberung durch Vernichtung.
Im Jahre 1876 ließ sich König Leopold von Belgien, der bald
persönlicher Besitzer von Zwangsarbeitslagern zur Gewinnung von Kautschuk sein sollte, in denen hunderttausende von Kongolesen umkamen (und
die für die deutschen Kompanien in Kamerun, die portugiesischen in Angola und die französischen in Kongo-Brazzaville als Modell dienen
sollten) zu einer berühmten Lobrede auf den Kolonialismus hinreißen, in der man alle Gemeinplätze des eurozentrischen Geistes des
19.Jahrhunderts finden kann: "Der Zivilisation den einzigen Teil der Erdkugel öffnen, in den sie noch nicht gedrungen ist, die Finsternis
durchstoßen, die ganze Bevölkerungen umhüllt, das ist, ich wage es zu sagen, ein Kreuzzug, der dieses Jahrhunderts des Fortschritts
würdig ist."
Carl Schmitt zitierte diese Stelle in Der Nomos der Erde und interpretierte sie als
Höhepunkt des Jus Publicum Europaeum, von dem das Völkerrecht in seinen Augen nur eine einfache Ausweitung sein sollte und das die
Eroberungskriege in Afrika ganz natürlich autorisierte. Im Namen derselben Prinzipien und im gleichen Kreuzzugsgeist rechtfertigte Mussolini 1935 die
italienische Invasion in Äthiopien und Hitler 1941 den deutschen Angriff auf die Sowjetunion.
In der Kultur des europäischen Kolonialismus wurden zivilisatorische Mission, Recht
auf Eroberung und Praxis der Vernichtung häufig Synonyme. 1864 theoretisierte Winwood Reade, Mitglied der Anthropological Society von London,
die Aufteilung Afrikas zwischen Frankreich und Großbritannien. Unter europäischer Oberhoheit, so meinte er, würden die Schwarzen die
afrikanischen Wüsten bewässern; wenn diese Aufgabe erfüllt wäre, würden sie wie eine überlebte Art, die nun
unnütz geworden ist, verschwinden. Reade schloss sein Werk Savage Africa wie folgt: "Wir müssen dem mit Fassung entgegen sehen. Es
ist eine Wohltat der Natur, dass die Schwachen stets von den Starken verschlungen werden."
Diese Konzepte wurden keineswegs nur in gelehrten Kreisen vertreten; vielmehr
prägten sie die politische Sprache der Epoche tief. Im Jahre 1898 teilte der britische Premierminister Lord Salisbury die Nationen der Welt in zwei
Kategorien ein: "die Lebenden und die Sterbenden". Hannah Arendt zitiert eine flammende Rede von Wilhelm II. vor einem deutschen
Expeditionskorps, das 1900 mit der Niederschlagung des Boxeraufstands in China beauftragt wurde: "Wie die Hunnen unter Attilas Führung vor
tausend Jahren einen Ruf erlangt haben, durch den sie in der Geschichte immer noch leben, so soll der deutsche Name in China derart bekannt werden, dass
es kein Chinese je wieder wagen wird, einen Deutschen scheel anzusehen." Eine solche Prosa wäre gegenüber einer europäischen
Nation undenkbar gewesen, sie entsprach aber den von allen Kolonialmächten angewandten Praktiken.
Nach 1861 verschwanden über 600000 Algerier infolge der französischen
Politik der systematischen Zerstörung der traditionellen Ökonomie, die General Lapasset in einer lapidaren Formel beschrieben hatte:
"Diebstahl und Plünderung". Das Volk der Herero in Namibia, das Anfang 1904 über 80000 Menschen zählte, war nach dem
deutschen Feldzug gegen sie am Ende des Jahres auf 8000 zusammengeschmolzen; es erfolgten damals systematische Maßnahmen der Verfolgung,
Zerstörung und Deportation in die Wüste, die einige Historiker als "bewusste Völkermordpolitik" eingestuft haben.
Doch wir können noch weiter zurückgehen. Diese Massaker ereigneten sich
auf dem Höhepunkt des Kolonialismus, nach dreieinhalb Jahrhunderten des Handels mit schwarzen Sklaven, durch den über zehn Millionen
Menschen von Afrika nach Amerika geschafft wurden. Wie schrieb doch Montesquieu in Der Geist der Gesetze: "Da die Völker Europas die
Völker Amerikas ausgerottet hatten, mussten sie die Völker Afrikas zu Sklaven machen, um sie zur Urbarmachung so großer Gebiete zu
benutzen."
Der Prozess der massiven Deportation der Bevölkerung von einem Kontinent zum
andern zeigt Züge, die ihn vom Völkermord an den Juden unbestreitbar unterscheiden. Trotz einer sehr hohen Todesrate bei der Verschiffung
über den Atlantik (ungefähr zwei Millionen Opfer) hatte der Sklavenhandel vor allem einen wirtschaftlichen Hintergrund: Man wollte
Arbeitskräfte hinüberschaffen und der Rassismus hatte die Funktion, die Sklaverei zu rechtfertigen. Die Deportation der Juden hingegen erfolgte
mit dem Zweck ihrer Vernichtung im Rahmen eines Verfolgungs- und Mordsystems, das durch seine grundlegende ökonomische Irrationalität
gekennzeichnet war.
Trotz dieses Unterschieds und trotz der großen Verschiedenheit der historischen
Kontexte erinnern einige Modalitäten des Sklavenhandels durchaus an die "Endlösung". Die Kennzeichnung der Sklaven zum
Zeitpunkt ihres Kaufs wie die Kennzeichnung der Häftlinge nach ihrer Ankunft im Lager Auschwitz die Negierung ihrer individuellen
Identität, der Verlust des Namens und die Verdinglichung der Körper gehören zur gleichen Verneinung der Humanität, die
die Geschichte des Okzidents durchzieht. Diese Kontinuität setzt weder die Nachahmung eines Modells noch die bewusste Reproduktion sich
ähnelnder Praktiken voraus, sondern ist in den gleichen kulturellen Code eingeschrieben.
Die Vorgaben der Deportation, die Maßnahmen der Entmenschlichung und die
Pläne der rassischen Vernichtung sind also von Hitler nicht erfunden worden; sie gehen auf viel ältere Ideen zurück, die in der Geschichte
des westlichen Imperialismus tief verankert sind. Dass der Nationalsozialismus als erster im Zentrum Europas gegen Nationen der alten Welt und vor allem
gegen ein Volk, das seinen Ursprung in der westlichen Zivilisation hatte, eine Vernichtungspolitik betrieb, kann diese Ahnenreihe nicht ungeschehen machen.
Wir möchten hier nicht die Kluft die riesig ist zwischen den
kolonialen Massakern und dem Völkermord an den Juden kleinreden, sondern ohne in die Falle einer kausalen Erklärung zu gehen
nur auf eine Verwandtschaft, eine Kontinuität, eine Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Geschichte erkennen, in der die früheren
Ereignisse die späteren erhellen und so den Charakter von Vorläufern annehmen.
Krieg nach dem Vorbild der tayloristischen Fabrik
Der Erste Weltkrieg, der erste wirklich "totale Krieg" des demokratischen Zeitalters und der Massengesellschaft, stellte mit seinen 13
Millionen Opfern einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung der Gewalttätigkeiten des 20.Jahrhunderts dar. Im August 1914 wurde er in den
meisten europäischen Hauptstädten als lang erwartete Gelegenheit, die nobelsten Werte des Daseins Männlichkeit, Kraft, Mut,
Heldentum und Patriotismus im schöpferischen Geist der Nation neu zu begründen, freudig begrüßt; doch er stürzte
die Alte Welt in die Barbarei des 20.Jahrhunderts. Die patriotische Trunkenheit machte der Erfahrung des modernen Horrors des massenhaften anonymen
Todes, des industriellen Massakers, der bombardierten Städte und der verwüsteten Landschaften Platz.
Im Gegensatz zum mythischen Bild des Heroen proletarisierten sich die Soldaten und
verwandelten sich in militarisierte Arbeiter im Dienst einer Kriegsmaschine. Der Soldat wurde seiner Individualität der des alten Kriegers
beraubt und einer militärischen Disziplin unterworfen, die mit der einer Fabrik durchaus vergleichbar war. Dem "Massenarbeiter"
der fordistischen Fabrik entsprach der "Massensoldat" der modernen Armee. Die Hierarchie, der Gehorsam, die Ausführung von Befehlen,
die Aufteilung der Aufgaben machten den Soldaten unfähig, die Globalstrategie zu beherrschen, zu der er gehörte. Er machte Krieg wie ein
Arbeiter am Fließband produziert, in einem Kontext, in dem der Kampf jede epische Dimension verlor und sich in eine geplante Massentötung
verwandelte.
Die Armee entwickelte sich ihrerseits in ein rationelles, hierarchisches,
bürokratisiertes und mechanisiertes Unternehmen mit einer Koordination der verschiedenen Bereiche und einer funktionalen Aufgabenteilung. Marx
hatte, wie wir oben gesehen haben, die Industriearbeiter des 19.Jahrhunderts mit Soldaten verglichen; während des Ersten Weltkriegs wurde dieses
Modell nun umgestürzt: die Prinzipien der tayloristischen Fabrik wurden nun von der Armee übernommen. 1918 betonte Max Weber die
gemeinsamen Züge der staatlichen Verwaltung, der Fabrik und der Armee in den modernen Gesellschaften. Die Offizierskaste, so schrieb er, wurde
bürokratisiert; der Offizier ist nur noch "eine Sonderkategorie des Beamten im Gegensatz zum Ritter, Kondottiere, Häuptling oder
homerischen Helden".
In drei Bereichen zeigte er die gleiche "Trennung des Arbeiters von den sachlichen
Betriebsmitteln: den Produktionsmitteln in der Wirtschaft, den Kriegsmitteln im Heer, den sachlichen Verwaltungsmitteln in der öffentlichen
Verwaltung". Schließlich führte er das Beispiel russischer Soldaten an, die nicht mehr kämpfen wollten, aber durch "die
Verfügungsgewalt von Leuten" ebenso in den Schützengraben hineingezwungen wurden, "wie der kapitalistische Besitzer der
wirtschaftlichen Betriebsmittel die Arbeiter in die Fabriksäle und Bergwerkschächte" zwingt.
Die Schlacht ändert ihr Gesicht; die raschen und gewaltigen
Zusammenstöße der militärischen Feldzüge des 19.Jahrhunderts werden durch den Krieg in den Schützengräben
ersetzt. Die Offensiven können Monate dauern, sie mobilisieren hunderttausende Soldaten, sie werden von einem umfänglichen logistischen
Apparat unterstützt und verwandeln sich fast immer in eine Operation zur geplanten Zerstörung des Feindes. Der Krieg wird zu einer Form
industrieller Vernichtung. Unter diesen Bedingungen wird der Tod banal. Er verliert seinen epischen Charakter der Tod "auf dem Felde der
Ehre" und wird zu einem typisch modernen Tod in der anonymen Masse. Der Feind wird entmenschlicht und unsichtbar, er ist in der
Nähe, aber im Schützengraben verborgen. Häufig kommt der Tod nicht mehr von einem Feind aus Fleisch und Blut, sondern einer
feindlichen, fremden, kalten und unpersönlichen Maschine. Er wird von mechanischen Monstern (Panzer, Flugzeuge, schwere Artillerie), vom Gas der
chemischen Waffen oder dem Feuer der Flammenwerfer verursacht. Inmitten dieses "Stahlgewitters" erscheinen die mit Helmen und Gasmasken
ausgerüsteten Soldaten wie künstliche, mechanische Figuren, bar jeder Menschlichkeit, wie sie die Gemälde von Otto Dix zeigen.
Der "totale" Charakter des Krieges von 1914 entstammte nicht nur der
massiven Mobilisierung von menschlichen, produktiven und materiellen Ressourcen aller europäischen Gesellschaften, was zu einer
Veränderung der Lebensweisen und der Perzeption von Zeit und Welt durch weite Teile der Gesellschaft führte. Seine "totale"
Dimension ergab sich auch aus der Tatsache, dass die Grenzen zwischen dem Schlachtfeld und der zivilen Gesellschaft verwischt wurden. Das Theater der
militärischen Operationen erstreckte sich auf ganze Regionen, deren Bevölkerung zu militärischen Zielen wurde. Obwohl sie längst
nicht in dem Umfang des Zweiten Weltkriegs vorkamen, stellten die Bombardierungen von Städten, die Zerstörung des Landes, die
Zwangsarbeit von Zivilisten eine Wende in den gesellschaftlichen und menschlichen Beziehungen dar und überschritten eine Schwelle in der
Ausweitung der Gewalt.
Während des Ersten Weltkrieges konnte man eine massive Ausweitung (im Vergleich
etwa zum Burenkrieg zu Beginn des Jahrhunderts) des Phänomens der Konzentrationslager beobachten: die Internierung von Zivilisten in den
eroberten Gebieten, die Internierung von Bürgern eines Feindstaates, die Internierung von Kriegsgefangenen in Lagern, in denen die materiellen
Überlebensbedingungen nicht immer gesichert waren. Zwischen 1914 und 1918 trat der Ausdruck "Konzentrationslager" in die
Umgangssprache der westlichen Länder ein. Auch wenn die Bedeutung der Internierungslager mit dem der Konzentrationslager im Nazideutschland
oder der UdSSR unter Stalin nicht verglichen werden kann weder hinsichtlich der Auswahlkriterien der Einsitzenden, noch der Lebensbedingungen
noch der sich daraus ergebenden Sterblichkeitsrate , so waren sie dennoch eine wichtige Etappe auf dem Weg, der Europa und die Welt ins
"Jahrhundert der Lager" führen sollte.
In der Erinnerungsliteratur des Ersten Weltkriegs taucht das Bild des Todes als wesentliches
Moment der Kriegserfahrung auf. Die Schützengräben werden wie Friedhöfe beschrieben, die Landschaft nach der Schlacht mit einer
Allegorie, der der Hölle, was eine frappierende Ähnlichkeit mit den Berichten von den Nazi-Konzentrationslagern Entkommenen aufweist.
Zwischen 1914 und 1918 haben die deutschen Schlachten, um diese neue Form des Vernichtungskrieges zu beschreiben, den Begriff
"Verwüstungsschlacht" geprägt, ein Wort, das schon die "Verheerungen" anzukündigen scheint, die die
Naziarmeen gut zwanzig Jahre später in der Sowjetunion anrichten sollten. Die Militärstrategen begannen damals vom
"Vernichtungskrieg" zu sprechen, eine Wortneuschöpfung, die einen bedeutsamen Platz im Vokabular der Nazis einnehmen sollte.
Die Verbrechen des Nationalsozialismus können ohne ihre historischen
Vorläufer des industriellen Krieges, des Massakers am Fließband, der technischen Tötung auf Massenebene nicht begriffen werden. Unter
diesem Gesichtspunkt nimmt der Erste Weltkrieg den Charakter eines Schöpfers der totalitären Gewalt an. Omer Bartov hat betont, dass es die
Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs gewesen sind, auf denen die Architekten der "Endlösung" ihre "Feuertaufe" erlebt haben.
Zu den vom Krieg bewirkten Veränderungen in der Welt der Mentalitäten
muss man die Gewöhnung an die Gewalt und die Gleichgültigkeit dem Menschenleben gegenüber rechnen, die eine Reihe von
Errungenschaften (das Verbot der Folter, die Respektierung des Lebens der Gefangenen und der Zivilbevölkerung) seit der Aufklärung, die
häufig für unumkehrbar gehalten wurden, wieder in Frage stellten.
George L. Mosse hat diese Wende durch eine frappierende Gegenüberstellung
illustriert. Im Jahre 1903 fand in der Stadt Kischinjow im Zarenreich ein schrecklicher Pogrom statt, in dem etwa 300 russische Juden und Jüdinnen
den Tod fanden. Dieses Massaker hat zu einer Empörung und Missbilligung in der öffentlichen Meinung des Westens geführt, die
angesichts einer solchen Geschichte mittelalterlicher Barbarei entsetzt war. Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich, bei dem etwa
eineinhalb Millionen Menschen zu Tode kamen, hat keine nennenswerte Protestwelle ausgelöst. Diese Gleichgültigkeit dem menschlichen Leben
gegenüber führte auch zu einer Brutalisierung des politischen Lebens, in das eine kriegerische Sprache und aus den Schützengräben
übernommene Methoden der Auseinandersetzung Eingang fanden.
In Deutschland und Italien, wo die politischen Institutionen und die Zivilgesellschaften zu
Kriegsende Auflösungserscheinungen zeigten, trat der Krieg wegen des Fortwucherns von bewaffneten Verbänden, sowohl auf der Linken, vor
allem aber auf der (extremen) Rechten, (von den Freikorps, der SA, den Arditi del Popolo bis zu den Fasci di combattimento) ins politische Leben ein.
Die Sprache der Politik veränderte sich. Der italienische Faschismus machte aus dem
Krieg den höchsten Moment des Lebens und bejubelte den Kampf als Blüte des Menschen, als Triumph der Kraft, der Geschwindigkeit, des
Mutes, der Verachtung der Gefahr und der Herausforderung des Todes. In Deutschland hatte Ernst Jünger den Krieg als "inneres Erlebnis"
idealisiert; in seinem Gefolge theoretisierte Carl Schmitt den Krieg als Vorbedingung und Vollendung einer Politik, die als Schauplatz der Auseinandersetzung
zwischen Freund und Feind begriffen wurde. Er wurde weder auf rationale Weise erklärt noch aus ethischen Gründen verworfen; er ergab sich
einfach aus einem "existentiellen" Konflikt mit dem "Feind", dem "anderen, dem Fremden", dessen Andersartigkeit
"die Negation der eigenen Art Existenz" bedeutete.
In der Gesellschaft stellte der Krieg die entscheidende Etappe im Prozess der
Nationalisierung der Massen dar. Der Nationalismus wurde aggressiv und versuchte in den politischen Konflikten die an der Front geführten
Kämpfe nochmals auszukämpfen. Die Ästhetik des Krieges überschwemmte den öffentlichen Raum. Der Nationalismus
verwandelte sich von einer aus Ritualen, Symbolen, kollektiven Liturgien bestehenden laizistischen Religion in einen Kreuzzugsgeist, einen totalen Kampf,
einen "Glaubenskrieg". Er war nun nicht mehr das Ideal der herrschenden Eliten, sondern ergriff die Massen, verwandelte sich in eine kollektive
Passion, wurde subversiv, "revolutionär", wandte sich gegen die vom Krieg zerstörte Tradition und erstrebte die Errichtung einer
neuen Ordnung. Aus der Masse traten neue Führer plebejischer Herkunft hervor, die von der Erfahrung der Schützengräben
geprägt waren und in den politischen Wirren der Nachkriegszeit ihre Hände im Spiel hatten.
Im Verlauf der 20er Jahre hat Ernst Jünger der Erfahrung des Ersten Weltkriegs
mehrere Romane und Essays gewidmet. Er beschrieb ihn als ekstatischen Kampf, als "Eruption der Sinnlichkeit", als Geburt einer
männlichen Gemeinschaft, einer "neuen Rasse". Kurz vor Hitlers Machtübernahme kündigte er 1932 in Der Arbeiter die
Heraufkunft eines neuen Zeitalters, das des "Arbeiters", des in den Schützengräben von 191418 gestählten
Arbeitersoldaten an. Der deutsch-jüdische Philosoph Hans Kohn sollte diesen Essay als "Apotheose eines völlig mechanisierten und
militarisierten Arbeiters, eines modernen Maschinenmenschen", als literarische Darstellung der Geburt des totalitären Staates interpretieren.
Für einen anderen, damals noch unbekannten Emigranten formulierte jenes Werk von
Jünger eine neue Vision der völkischen Ideologie, in der der Mythos von "Blut und Boden" als ein "gigantisches, völlig
mechanisiertes und rationalisiertes Unternehmen" auftaucht. Es war während des Ersten Weltkriegs, in dem dieser neue Synkretismus zwischen
Mythologie und Technologie, zwischen Gegenaufklärung und politischem Existentialismus, zwischen Nihilismus und Vitalismus, dieser in den Worten
von Thomas Mann "hochtechnisierte Romantizismus" im Nationalsozialismus seinen fortgeschrittensten Ausdruck finden sollte.
Auschwitz Produkt der Zivilisation
Die Guillotine, das Schlachthaus, die Fabrik, die rationelle Verwaltung genauso wie der Rassismus, die Eugenik, die Massaker in den Kolonien und
der Erste Weltkrieg haben die gesellschaftliche Welt und die mentale Landschaft, in denen die "Endlösung" konzipiert und umgesetzt
wurde, geprägt. Diese historischen Erfahrungen stellen Präzedenzfälle dar, ohne die man sich den Völkermord an den Juden
aber auch den an den Armeniern 1915/16 nicht vorstellen kann. Die Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Fakten und Praktiken
erhellen den historischen Prozess, führen aber keine Kausalitätsbeziehungen in ihn ein.
Die industrielle Vernichtung setzt die Fabrik und die rationelle Verwaltung voraus; das
heißt jedoch nicht, dass sie sich unweigerlich daraus ergibt, dass jedes kapitalistische Unternehmen ein mögliches Todeslager ist und in jedem
Beamten ein Eichmann schlummert. Sofern die "Endlösung" Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung, besonders der Chemie
ausbeutete und sich auf die Beiträge zahlreicher Mediziner, Anthropologen und Eugeniker berufen konnte, zeigt dies nur die zerstörerischen und
antihumanistischen Möglichkeiten der Wissenschaft, macht aber die Medizin noch keineswegs zu einer Todeswissenschaft. Auch wenn in den
kolonialen Massakern Praktiken der Vernichtung aufgekommen sind, die im Nationalsozialismus erneute Anwendung und Perfektionierung fanden, so
entsteht dadurch keine Kausalbeziehung zwischen den beiden.
Der koloniale Rassismus und der europäische Antisemitismus bleiben zwei parallele,
aber trotz allem unterschiedliche Phänomene; genausowenig kann man die Massaker zum Zweck der Eroberung und Plünderung eines
Kontinents mit dem "ontologischen" Völkermord, dem jeder instrumentelle Charakter abging, auf eine Ebene stellen. Die
Vorläuferereignisse können die Singularität von Auschwitz weder auslöschen noch erklären; doch sie können sie in
eine allgemeinere historische Perspektive einbringen; sie können um einen Ausdruck von Norbert Elias aufzugreifen, dessen Bedeutung wir
umdrehen ihn auf kohärente Weise in den "Prozess der Zivilisation" einschreiben, in dessen Rahmen sie keine Gegentendenz
darstellen, sondern Ausdruck einer seiner Potenzen, eines seiner möglichen Gesichter sind.
Das Fehlen einer Kausalität bedeutet keineswegs, dass es sich nur um zufällige
oder rein formale Affinitäten handeln würde. Die Architekten der Nazi-Lager waren sich völlig im Klaren darüber, dass sie
Todesfabriken bauten, und Hitler verbarg überhaupt nicht, dass die Eroberung von Lebensraum die Kolonialkriege des 19.Jahrhunderts fortsetzen (was
sie in seinen Augen legitimierte) sollte. Zwischen den Massakern der Eroberungen des Imperialismus und der "Endlösung" bestehen nicht
einfach nur "phänomenologische Affinitäten" wie sie von Josef Hayim Yerushalmi zwischen dem "Statut der
Blutsreinheit" im Spanien der Inquisition und dem Antisemitismus der Nazis herausgearbeitet wurden, oder entfernte Analogien, wie sie Arno J. Mayer
zwischen dem ersten Kreuzzug (10951099), dem Dreißigjährigen Krieg und dem "Judenmord" festgestellt hat.
Es gibt eine historische Kontinuität, die aus dem liberalen Europa ein Laboratorium
der Gewaltakte des 20.Jahrhunderts und aus Auschwitz ein authentisches Produkt der Zivilisation machten.
Übersetzung: Paul B. Kleiser
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