Sozialistische Zeitung |
Die Al-Aqsa-Intifada hat die Tagesordnung sowohl in Israel als auch in der Region verändert. In Israel hat sie die
arabische Bevölkerung zum ersten Mal in den Kampf gezogen, während die Arbeitspartei nach rechts geht. In der übrigen arabischen Welt
bedroht sie direkt die bestehenden Regime, die keine andere Wahl haben als ihre Forderungen anzuhören. In dieser Beziehung unterscheidet sich die
zweite Intifada vom Original der Jahre 198790.
Das Original hatte ein klares Programm (die jetzige nicht), aber sie blieb auf die besetzten
Gebiete beschränkt. Die arabische Bevölkerung in Israel nahm daran keinen aktiven Anteil, und die arabische Welt blieb unberührt. Die
libanesische Sängerin Julia Butrus prangerte diese Inaktivität in einem verzweifelten Lied an: "Wo sind die Millionen unseres
Volkes?" Das Lied wurde wiederholt von Radiosendern zur Ermutigung der Intifada ausgestrahlt. Jetzt, ein Jahrzehnt später, wird es wieder
gespielt, doch diesmal kreuzt sich der Wille der palästinensischen Straße mit dem der arabischen Massen.
Was wollen die Menschen auf der Straße? Die arabische Straße ruft auf zum
Krieg gegen Israel. Man kann diesen Ruf in Fernsehsendern, in Interviews und in Zeitungsartikeln vernehmen.
Kriegsruf
Der Aufruf zum Krieg ist merkwürdig. Wie haben die Massen einen solchen Punkt erreicht? Die Antwort ist einfach: nach einem Jahrzehnt
eines sogenannten Friedens, sind sie überzeugt worden, dass nur ein Krieg ihr Elend lindern kann. Mit dieser Forderung drückt die Straße
ihren absoluten Vertrauensverlust in die Strategie des Friedens aus, die arabisches Land in den Händen Israels ließ trotz der arabischen
Bereitschaft, bedeutende Zugeständnisse zu machen. Sie sind auch überzeugt, dass die amerikanische Neigung zu Israel sich nicht ändern
wird.
Wenn wir genauer hinschauen, können wir jedoch sehen, dass der Aufruf zum Krieg
auch ein Vertrauensverlust in die arabischen Regime selbst zum Ausdruck bringt.
Der Ruf läuft auf eine indirekte Redeform hinaus, mit der das Regime straflos
attackiert werden kann. Alle wissen, dass Krieg gegen Israel zu den niedrigsten Prioritäten der arabischen Herrscher gehört. Für ihren Teil
verstehen sie, dass die Straße ihnen eine kodierte Botschaft sendet: "Wir sind gegen eure Politik, eure Korruption, euere Allianz mit den USA
und Israel." Die Führer Ägyptens und Jordaniens, die Friedensverträge mit Israel geschlossen haben, fürchten, dass die
Demonstrationen zur Unterstützung der neuen Intifada sich gegen ihre eigenen Regime wenden werden.
Wie ihre Herrscher wissen die arabischen Massen sehr gut, dass das militärische
Kräfteverhältnis gegen sie spricht. Aber da sie das Vertrauen in die Diktaturen verloren haben, haben sie einen Punkt erreicht, wo sie nichts zu
verlieren haben.
In den letzten Jahren haben die meisten arabischen Staaten ihre Bevölkerungen einem
drastischen Wirtschaftsregiment unterworfen, das ihnen von Washington diktiert wurde. Die Privatisierung, die Zurücknahme von Subventionen,
Erwerbslosigkeit dies war die Quittung für die Friedensdekade. Außerdem will die Bevölkerung zusätzlich zu
ökonomischen Verbesserungen Demokratie, ein Ende der Korruption, grundlegende Freiheiten. Kein Regime, das auf dem arabischen Gipfel anwesend
war, erfüllt diese Kriterien.
Dennoch ist der Kriegsruf unter den gegenwärtigen Bedingungen nur ein Akt des
Protests. Um ihr Los zu verbessern, werden die arabischen Massen ihre diktatorischen Regime durch demokratische ersetzen müssen. Solange dies
nicht geschieht, wird das aktuelle Kräfteverhältnis bestehen bleiben.
Was wollen die arabischen Regime? Eine einzige Sache: ihre Stellung halten.
Dies gilt auch für die Palästinensische Autonomiebehörde (PA). Wir
sollten uns von Yasser Arafats Bombast nicht verwirren lassen, wenn er verspricht, nach Jerusalem zu marschieren. In Camp David hat er das
Schlussabkommen nicht unterzeichnet, nicht weil er es nicht wollte, sondern weil er es nicht konnte. Offensichtlich hat er zu Bill Clinton gesagt: "Wenn
ihr mich zwingt, Al-Aqsa preiszugeben, sollte ich besser arabische Unterstützung haben, andernfalls droht mir das Schicksal von Anwar Sadat."
Arabische Regime
Clinton übte auf Ägypten und Saudi-Arabien Druck aus, damit sie grünes Licht geben. Zur Verblüffung der
Verhandlungsführer weigerten sie sich. Wenn Arafats folgende Aktionen ein Indikator sind, war seine Antwort impulsiv; diese Aktionen sagten zu
Ägypten und Saudi-Arabien: "Wenn ihr mich nicht unterzeichnen
lässt, dann gehe ich in die andere Richtung, und die Dinge werden auch für
euch sehr heikel werden!"
Warum gingen Ägypten und Saudi-Arabien mit Clintons Forderung nicht konform?
Weil die Führer die Stimmung auf der Straße kannten. Was das palästinensische Volk vor einem schändlichen Abkommen rettete,
war seine eigene öffentliche Meinung zusammen mit der der arabischen Welt.
Ein Monat nach dem Beginn des Aufstands ist klar, dass ein passenderer Name nicht
"Al-Aqsa-Intifada" ist, sondern "Intifada von ganz unten". Vergeblich verlangt Israel von Arafat, dass er den
Zusammenstößen ein Ende bereite. Haaretz (vom 1.November) zitiert eine nicht namentlich genannte israelische politische Quelle: In
einem kürzlich erfolgten Telefongespräch erzählte Arafat Israels Premierminister Ehud Barak, dass er Schwierigkeiten habe, die
Straße zu kontrollieren, weil die Ereignisse den Willen des palästinensischen Volkes zum Ausdruck bringen.
Die PA ist mit Israel durch eine Nabelschnur verbunden. Sie ist Israels Schöpfung,
errichtet, um das palästinensische Volk in Schach zu halten. Trotz der täglichen Massaker hat sie das Osloer Abkommen nicht gekündigt.
Auch hier ist der Grund einfach: Sie hat keine andere Strategie.
Das einzige, das die PA aus der Intifada gewinnen will, ist eine Änderung der
amerikanischen Haltung. Zusammen mit den anderen arabischen Führern hat Arafat die Schlussfolgerung gezogen, dass die Clinton-Administration ihre
Streifen nicht ändern wird. Er setzt seine Hoffnung auf eine republikanische Administration unter George W. Bush. Diese Hoffnungen sind jedoch
grundlos. Der von den Republikanern geführte Kongress stand ziemlich deutlich auf der Seite Israels.
Führungskrise
Wohin geht die neue Intifada? Vor einem Jahrzehnt trat die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) der Madrider Konferenz bei und
gab den bewaffneten Kampf auf. Die Führer von Fatah entgegneten ihren Opponenten von links und seitens der islamischen Bewegungen: "Was
ist die Alternative?" Der Zusammenbruch der UdSSR und der Sieg der USA über den Irak ließ ihnen, so dachten sie, keine andere Wahl
als mit Amerika zu gehen.
Diese Lesart der Landkarte war seinerzeit korrekt, aber revolutionäre Führer
dürfen sich nicht bloß vom Augenblick leiten lassen. Bestenfalls widerspiegelte die rhetorische Frage der Fatah ihre Unfähigkeit, einen
Kampf angesichts der damals eingetretenen schweren Bedingungen zu führen. Schlimmstenfalls widerspiegelte sie die Nichtbereitschaft der Fatah,
überhaupt zu kämpfen. In jedem Fall verdeckte sie die wirkliche Aufgabe: die von Madrid und Oslo festgelegten Bedingungen
zurückzuweisen und ihr Volk stattdessen auf einen Wandel in der globalen Situation vorzubereiten.
Seltsamer- und traurigerweise erscheinen heute dieselben Leute, die vor zehn Jahren
"Es gibt keine Alternative!" gerufen haben, jeden Morgen und jeden Abend auf dem TV-Schirm mit Losungen wie: "Wir werden
kämpfen, bis wir unser ganzes Land befreit haben!" Sie rufen "Zurück zu den UN-Resolutionen!" als ob sie nicht
selbst diese Resolutionen gegen die Oslo-Abkommen eingetauscht hätten.
Sie sind es, nicht die Islamisten oder die Linke, die die Rolle der Wortführer der
neuen Intifada übernommen haben. Es sind dieselben Leute, die während des letzten Jahrzehnts zur Normalisierung gedrängt haben
Leute, die Hand in Hand mit dem CIA gearbeitet haben, die ihre eigenen früheren Genossen auf Verlangen Israels festgenommen haben.
Sie sind Mitglieder derselben bewaffneten Gruppen, die bis heute Bandenkriege ausgetragen
haben, miteinander Rechnungen beglichen haben, um führende Positionen in den besetzten Gebieten zu erringen.
Die bedeutendste unter ihnen ist die Tansim (oder "Organisation"). Dies ist eine
Kraft, die aus Mitgliedern der Fatah, der Arafat-Fraktion in der PLO, zusammengesetzt ist. Ihre Anhänger müssen von den Leuten
unterschieden werden, die Arafat aus [dem Exilort] Tunis mitgebracht hat.
Arafat machte die "Tunesier" zum Kern des herrschenden Establishments der
PA, aber er förderte und bewaffnete auch die Führer der lokalen Volksbewegung, darunter viele, die an der ursprünglichen Intifada
teilgenommen hatten. Diese bilden die Tansim.
Sie hegen einen Groll sowohl gegen Arafat als auch gegen die korrupten
"Tunesier", aber sie stellen keine Alternative zur PA dar. Bei den jüngsten Zusammenstößen hat Arafat die Tansim benutzt,
um seine offiziellen Sicherheitskräfte nicht einsetzen zu müssen. Die Tansim-Aktivisten haben diesem Arrangement zugestimmt, um ihre
Position hinsichtlich der zukünftigen Machtverteilung zu verbessern.
Doch diese Intifada leitet ihre Macht weder von Arafat mit seinen "Tunesiern"
noch von der Tansim ab. Sie kommt von der empörten Straße. Sieben Jahre nach Oslo sind die Menschen wieder zum Ausgangspunkt
zurückgekehrt: es gibt keinen anderen Weg als den Kampf. Die sieben Jahre dauernde diplomatische Unterwerfung hat nur Armut, aber keinen Staat
produziert. Sie lastete dem Volk einen Diktator auf, der jetzt versucht seine Haut dadurch zu retten, indem er selbst auf der Welle des Zorns reitet.
Kein Zweifel, die jungen Männer, die Steine werfen, würden es gerne sehen,
wenn sich die laufenden Schlachten in einen Krieg für die Unabhängigkeit verwandelten, der sie vom israelischen Joch befreit von den
Straßenblockaden und den Siedlungen. Aber dies ist bei weitem nicht das Programm von Yasser Arafat. Er ist bis zum letzten Gewehr von den USA
und Israel abhängig. Ohne ihre Zustimmung hat er kein Geld, um seinen Haushalt zu bezahlen.
Fehlende revolutionäre Führung
Tatsächlich kann er ohne ihre Zustimmung nicht einmal reisen, telefonieren oder das Licht anmachen, denn all diese Dinge bleiben unter
israelischer Kontrolle. (Beispielsweise hat Barak zweimal in diesem Monat den Flughafen von Gaza geschlossen.) Arafat ist deshalb nicht in der Position, den
amerikanischen Rahmen zu verwerfen und für einen lang andauernden Guerillakrieg zu votieren.
Stattdessen versucht er Zeit zu gewinnen in der Hoffnung, dass die USA ihm
schließlich den kleinen Zipfel mehr zugestehen, den er haben will.
Auf der einen Seite hat er bisher keinen Staat ausgerufen und die Brücken hinter sich
abgebrochen. Andererseits weigert er sich, ein Abkommen zu unterzeichnen, um den Konflikt zu beenden.
Der enge Raum zwischen diesen beiden Alternativen ist in gefährlicher Weise
flüchtig, wie die aktuelle Explosion zeigt. Angesichts des Fehlens einer unabhängigen, revolutionären Führung kann die neue
Intifada nur zu einem langwierigen Konflikt führen. Das zentrale Problem ist somit weiterhin: die arabische Straße, besonders die
palästinensische Straße, hat keine politische Alternative zur gegenwärtigen Führung.
Die palästinensische Opposition z.B. hatte sieben ganze Jahre, um sich auf diesen
Moment vorzubereiten. Statt ein Programm anzubieten, das sich gegen die Korruption richtet, demokratische Freiheiten garantiert, die wirtschaftlichen
Abkommen von Oslo annulliert, die Arbeiterinnen und Arbeiter verteidigt, die Siedlungen abschafft, die Gefangenen befreit stattdessen richtet die
Opposition ihre Anstrengungen auf einen "Dialog" mit der PA, durch den sie versucht, diese dazu zu bringen in den Gesprächen mit Israel
eine härtere Position einzunehmen.
Es kann keine Alternative zu Oslo geben, solange Yasser Arafat und die PA am Ruder sind.
Diese Führung windet sich gegenwärtig unter dem Druck der Massen, sie manövriert, um an der Macht zu bleiben. Sie hat das Volk
betrogen und beraubt. Aus diesen Gründen ist ein Führungswechsel für das palästinensische Volk die dringendste Notwendigkeit.
Yacov Ben Efrat
Ursprünglich erschienen in: Challenge, eine zweimonatlich in Jaffa (Israel) erscheinende Zeitschrift, die Berichte und Analysen zum
palästinensisch-israelischen Konflikt enthält.
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