Sozialistische Zeitung |
Unzufriedenheit darüber, was aus dem Studium der Ökonomie geworden ist, führt zu einer rasch
wachsenden Revolte unter Studierenden der Wirtschaftswissenschaften in Frankreich, Großbritannien, den USA und anderswo. Innerhalb weniger
Monate hat diese neue Bewegung beträchtliche Fortschritte bei der Bloßstellung der Nutzlosigkeit der orthodoxen Ökonomie in den
heutigen kapitalistischen Gesellschaften erzielt. Die Studierenden suchen begierig nach Antworten auf die aktuellen Fragen, wie die sich ausdehnende
Globalisierung, die zunehmende Herrschaft der internationalen Finanzwelt, der wachsende Gegensatz zwischen armen und reichen Ländern und
zwischen Arm und Reich in jedem Land.
Aber die orthodoxe Wirtschaftswissenschaft liefert keine plausiblen Antworten auf
irgendeine dieser Fragen eine Tatsache, die die sich ausweitende Rebellion unter den Studierenden in zahlreichen Ländern nährt. Bevor
wir über diese neue Unzufriedenheit berichten, müssen wir einiges darüber sagen, wie sich die ökonomische Wissenschaft seit der
klassischen Epoche in ein Studium verändert hat, das zunehmend irrelevant wird.
Marx und Engels und ihre klassischen Vorläufer verstanden die politische
Ökonomie als Studium der Produktion und Verteilung dessen, was Leo Huberman, Herausgeber von Monthly Review, unsere "weltlichen
Güter" nannte. Für sie war es offensichtlich, dass Produktion und Verteilung gesellschaftliche Tätigkeiten sind und dass der
Charakter der gesellschaftlichen Verhältnisse von Produktion und Verteilung für die Ökonomen von größtem Interesse ist.
Die politische Ökonomie von Marx und Engels unterscheidet sich gründlich von
der der anderen klassischen Theoretiker, aber es wäre keinem der klassischen Theoretiker je eingefallen, Produktion und Verteilung isoliert von den
gesellschaftlichen Verhältnissen zu betrachten, welche die Menschen miteinander eingehen, während sie ihre Produkte herstellen und für
ihre Verteilung in einen Wettbewerb treten.
Doch genau dies tun die modernen, "neoklassischen" Ökonomen. Sie
gehen von einem isolierten, autonomen und vollständig selbstgenügsamen Individuum aus. Dieser Homo economicus hat unbegrenzte
Wünsche und wird niemals befriedigt. Doch eine schrankenlose Zufuhr an Gütern kann nicht produziert werden, weil die Ressourcen
"knapp" sind. Deshalb muss jedes Individuum seine Wahl treffen, und die Ökonomie ist die Wissenschaft von dieser Entscheidungsfindung
des Individuums.
Auf diese Weise wird die Ökonomie auf das Studium der Verhältnisse zwischen
den Individuen und den Dingen reduziert. Eine solche Prozedur ist für die Techniken der Mathematik sehr empfänglich. Man braucht bloß
anzunehmen, dass jedes unserer unersättlichen, seine Wahl treffenden Individuen nur darauf bedacht ist, sein Wohlergehen oder seine
"Nützlichkeit" (auf die Kapitalisten angewandt Profit genannt) zu vergrößern. Dann wird die Ökonomie zum Problem
der Maximierung von etwas, das Zwängen (Knappheit) unterworfen ist, und die Werkzeuge der Mathematik können angewandt werden, um die
Bedingungen herauszufinden, die erforderlich sind, um dieses Maximum zu erreichen.
Eine solche Wirtschaftswissenschaft ist lediglich in der Lage, banale Resultate zu erzielen.
Und da sie die für das Subjekt zentralen gesellschaftlichen Verhältnisse als einmal gegeben hinnimmt, wird sie schnell zu einer ideologischen
Stütze des Status quo.
Ökonomen erlangten zunehmend Ruhm nicht, indem sie halfen, bedeutende
gesellschaftliche Probleme zu lösen, sondern dadurch dass sie Meister der mathematischen Manipulation wurden. Schließlich wurde die Disziplin
faktisch von abstrakten mathematischen Modellen übernommen und fast vollständig von der Realität geschieden. Ihre Nützlichkeit
liegt dabei nicht in ihrer praktischen Anwendbarkeit, sondern lediglich in ihrem Anschein von Wissenschaftlichkeit, der dazu dient, ihre ideologische Funktion
zum Erhalt des Status quo zu verbergen.
Diese Verwandlung der Ökonomie in eine Art Pseudo-Physik verlief nicht ohne
Widerstand. In den 30er Jahren drückte die Große Depression viele Ökonomen nach links, ähnliches geschah in den 60er Jahren.
Heute beginnt eine neue Revolte. Ausgehend von Frankreich, wo über 800 Studierende und 150 Professoren Petitionen unterzeichnet haben, womit sie
gegen die "exzessive mathematische Formalisierung" der Wirtschaftswissenschaft protestieren, hat sich eine anti-neoklassische Bewegung
über ganz Europa und sogar bis in die USA ausgedehnt.
Französische Zeitungen und Magazine berichten, dass Studierende nun die
Ökonomie als eine Form des "Autismus" betrachten, die von der Wirklichkeit geschieden ist und sich in "imaginäre
Welten" verliert. Doch anders als autistische Menschen, die sich ihrer sozialen Isolation nicht erwehren können, scheint die neoklassische
Ökonomie darin zu schwelgen und all jenen den Eintritt in ihre Sphäre zu verwehren, die unorthodoxe Ideen propagieren. Auf einer
Versammlung in Cambridge (England) beklagten die Teilnehmenden die "Stalinisierung" ihrer Disziplin. Seit einiger Zeit haben Schulen Kurse zur
"Geschichte des ökonomischen Denkens" aus den Lehrplänen entfernt, damit die Studierenden die Orthodoxie nicht in Frage oder in
einen historischen Zusammenhang stellen.
Die Entwicklungen sind ermutigend und wir spenden den rebellischen Studierenden und
Lehrenden Beifall. Während ihr Ziel jetzt einfach darin besteht, die Ökonomie für andere Ideen zu öffnen, eine
"postautistische" Ökonomie zu schaffen, sind wir zuversichtlich, dass sie in dem Maße, wie sie erfolgreich sind, unvermeidlich auf
die Theorie über den Kapitalismus stoßen werden, die die tiefsten Einsichten vermittelt: den Marxismus.
Aus: Monthly Review (New York), November 2000.
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