Sozialistische Zeitung |
Seit der neuesten Welle neonazistischer Gewalt in Deutschland geistert ein Begriff durch die Reden staatstragender Politiker,
der ansonsten eher in gebildeten Kreisen Konjunktur hat: die "Zivilgesellschaft". Diese solle so übereinstimmend die Herren
Thierse, Schröder und viele andere doch bitte "der Gewalt" entgegentreten. Das Motiv solcher Reden ist leicht zu erraten: Der
Staat mit seinem riesigen Repressionsapparat wird aus seiner Verantwortung entlassen, "wir alle", die guten Staatsbürgerinnen und
Staatsbürger, sind aufgefordert, kostenneutrale "Bürgerarbeit" zu leisten zum Wohle des Ansehens und der
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Gemeinwesens.
Manche Linken, denen das Gerede von der "Zivilgesellschaft" schon
länger gegen den Strich geht, mögen die heuchlerischen Predigten zum Anlass nehmen, den Begriff endgültig aus ihrem Vokabular zu
streichen. Das wäre schade denn als analytische Kategorie könnte er durchaus von Nutzen sein. Vorausgesetzt, man einigt sich auf eine
einigermaßen klare Definition, was Zivilgesellschaft bedeutet.
Umstritten ist der Begriff in der Linken schon länger: Zauberwort für die einen,
ist er den anderen Synonym für Renegatentum und grüne Realpolitik. Joachim Kolb hat in seinem lesenswerten Artikel "Antifa-
Bündnisse ohne bürgerliche Loblieder" (analyse & kritik, Nr.439) den Begriff der Zivilgesellschaft aufgenommen; sein Thema sind
die "Möglichkeiten und Grenzen einer zivilgesellschaftlichen Bekämpfung von Rechtsextremismus in Ostdeutschland" (Unterzeile).
Kolbs Plädoyer: Die "in weiten Teilen Ostdeutschlands mit dem Rücken zur Wand stehende Linke" solle sich auf "partielle
Bündnisse mit zivilgesellschaftlichen Akteuren" einlassen.
Dieser allgemeinen Orientierung soll hier ebenso wenig widersprochen werden wie Joachim
Kolbs konkreten Vorschlägen für eine antifaschistische "Gegenstrategie"; diese Vorschläge wären gesondert zu
diskutieren. Ich möchte den Artikel vielmehr zum Anlass nehmen, den Begriff Zivilgesellschaft mit Inhalt zu füllen Joachim Kolbs
Definition scheint mir allzu willkürlich. Er schreibt:
"Gemeinhin meint Zivilgesellschaft eine Vielfalt gesellschaftlicher Gruppen, Initiativen
und Bewegungen, die weitgehend unabhängig von staatlichen, parteipolitischen oder privatwirtschaftlichen Institutionen wirken. Die
Zugehörigkeit zu diesen gesellschaftlichen Gruppen ist freiwillig, die Organisationsstruktur demokratisch. Achtung der allgemeinen Menschenrechte,
Toleranz gegenüber anderen Meinungen und Wertvorstellungen, Anerkennen der Grundsätze des bürgerlich-demokratischen
Gesellschaftsmodells und des demokratischen Rechtsstaats gehören ebenfalls zu den zivilgesellschaftlichen Prinzipien. Auch ein konsequentes Agieren
nach dem Legalitätsprinzip und eine aus der Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols resultierende unbedingte Gewaltlosigkeit in den eigenen
Handlungsansätzen bilden den gemeinsamen Nenner, der die Zivilgesellschaft einerseits von rechtsextremen Strukturen abgrenzt, sie andererseits aber
auch von revolutionär-antifaschistischen Politikkonzepten unterscheidet."
Diese Definition mag mehr oder weniger verbreitet sein, ihr Urheber irrt aber, wenn er sich
dabei auf Antonio Gramsci als den wichtigsten Theoretiker der Zivilgesellschaft beruft.
Insbesondere behauptet Gramsci an keiner Stelle seiner umfangreichen Schriften, dass die
Zivilgesellschaft per se von moralischen Werten wie Toleranz, Achtung der Menschenrechte, Gewaltlosigkeit, Demokratie oder Legalität geprägt
wäre. Gramsci hat den Begriff Zivilgesellschaft nicht mit Wunschvorstellungen gefüllt, sondern aus der Praxis der revolutionären
Bewegungen seit 1917 abgeleitet. Sein Ausgangspunkt ist die Frage, warum die Revolution im relativ rückständigen Russland siegte, im
wirtschaftlich und kulturell höher entwickelten Westen aber scheiterte.
Gramscis Antwort auf diese Frage ist beinahe zum Klassiker-Zitat geworden: "Im
Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallerthaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein
ausgewogenes Verhältnis, und beim Wanken des Staates entdeckte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein
vorgeschobener Schützengraben, hinter dem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand."
Bewegungskrieg und Stellungskrieg
Das heißt: die im Westen existierende Zivilgesellschaft in ihrer konkreten Verfasstheit am Ende des Ersten Weltkriegs war
ein Hindernis für die Revolution bzw. (allgemeiner gesprochen) für grundlegenden sozialen Fortschritt. Der in Russland geführte
revolutionäre "Bewegungskrieg" bewaffneter Aufstand und anschließender Bürgerkrieg musste im Westen
durch den "Stellungskrieg" ersetzt werden, um auch die hinter den "Schützengräben" liegende "robuste Kette von
Festungen und Kasematten" einnehmen zu können.
Gramsci stellte den italienischen Kommunisten 1924, im zweiten Jahr nach dem
Regierungsantritt der Faschisten, die Aufgabe, die Mehrheit zu erobern. Gegen Strömungen in der Kommunistischen Partei Italiens, "die aus
Fanatismus die Situation anheizen wollen", müsse "im Namen der ganzen Partei" gekämpft werden weil die Zeit
für die Entscheidungsschlacht um die Macht nicht reif sei. Die Eroberung der Mehrheit aber ist nur möglich durch eine "Hinwendung zu
den Massen" und durch die Auseinandersetzung mit all den Instanzen, die für die ideologische Beeinflussung dieser Massen zuständig sind.
Die Gesamtheit der nichtstaatlichen Organisationen, die die öffentliche Meinung und
damit den "Alltagsverstand" prägen, nennt Gramsci Zivilgesellschaft. Zu ihr zählen die Kirche, die Gewerkschaften, die Presse als
"der dynamischste Teil dieser ideologischen Basis", aber auch "die Bibliotheken, die Schulen, die Zirkel und Clubs verschiedener Art bis
hin zur Architektur, zur Anlage der Straßen und der Straßennamen".
In der Klassengesellschaft dienen die "zwei großen ‚Ebenen von
Überbauten" der Absicherung der Hegemonie die Zivilgesellschaft ebenso wie die "politische Gesellschaft" (der Staat).
Organisiert erstere den "‚spontanen Konsens" der Beherrschten, so sichert der "staatliche Zwangsapparat ‚legal die Disziplin
derjenigen Gruppen, die weder aktiv noch passiv ihren ‚Konsens geben." Anders ausgedrückt: "Zwischen der ökonomischen
Basis und dem Staat mit seiner Gesetzgebung und seinem Zwangsapparat steht die ‚Zivilgesellschaft."
Diese letzte Formulierung klingt etwas schematisch und könnte, isoliert betrachtet,
denjenigen Intellektuellen Recht geben, die aus Eigeninteresse die Zivilgesellschaft zum entscheidenden Kampfplatz zwischen Fortschritt und Reaktion
überhöhen. Sabine Kebir widerspricht solchen mehr oder weniger gewollten Missverständnissen. Sie zeigt, dass Gramsci die
ökonomische Bedingtheit der Zivilgesellschaft sehr wohl gesehen hat und dass er in seiner Analyse von Staat und Revolution an Lenin anknüpft.
Zudem hebt sie hervor, dass Gramscis Unterscheidung in "zivile" und
"politische Gesellschaft" vor allem "methodischen Erkenntnischarakter" hat. Gramsci schreibt nämlich: "Im konkreten
Leben sind politische und Zivilgesellschaft ein und dieselbe Sache." Ein verwirrendes Zitat, das einer Erklärung bedarf.
Zwar wandte sich Gramsci in seinem Kampf gegen den ökonomischen
Determinismus vehement gegen die Tendenz eines vulgären Marxismus, "jede Schwankung der Politik und der Ideologie als einen unmittelbaren
Ausdruck der Basis darzustellen und zu erklären"; ebenso schrieb er den "Überbauten" eine relative Autonomie zu
allerdings ohne den marxistischen Materialismus in Frage zu stellen. Die in dem fraglichen Satz behauptete Identität von "ziviler" und
"politischer Gesellschaft" erklärt sich aus dem Streben des Staates, die Zivilgesellschaft zu integrieren. Gramsci spricht daher vom
"integralen Staat", dessen "sämtliche Institutionen in der doppelten Bestimmtheit von ,Zwang und ,Konsens bzw. von
,Diktatur und ,Hegemonie betrachtet werden müssen." Die herrschende "gesellschaftliche Gruppe" herrscht durch
"Hegemonie, gepanzert mit Zwang". Ihre Überlegenheit manifestiert sich als "Herrschaft" und als "intellektuelle und
moralische Führung".
Die "freiwillige" Unterwerfung der Mehrheit in den kapitalistischen Staaten
dort, wo die Zivilgesellschaft am weitesten entwickelt ist beruht allerdings erst in zweiter Linie auf dem Wirken zivilgesellschaftlicher
Akteure. In den "modernen bürgerlichen Demokratien" ist das "Konsenspotenzial in hohem Maße ökonomisch
bedingt", schreibt Kebir in völliger Übereinstimmung mit Gramsci. "Konsens" wird geschaffen durch ökonomische
Zugeständnisse, die allerdings mit Gewalt (Arbeitsdisziplin, Unterdrückung von Arbeitskämpfen usw.) kombiniert werden. Beispielhaft
zeigt Gramsci dies an dem modernsten Wirtschaftssystem seiner Zeit, dem der USA: "Die Hegemonie kommt aus der Fabrik und braucht nur eine
minimale Menge von professionellen Vermittlern der Politik und der Ideologie."
Dass die Hegemonie ökonomisch bedingt ist, gilt auch nach dem Ende der
fordistischen Entwicklungsstufe, die Gramsci vor Augen hat. Allerdings müsste man nach dem Bedeutungsverlust "der Fabrik" wohl
allgemeiner "die Lohnarbeit" sagen: Der Zwang zur Erwerbsarbeit diszipliniert nicht nur, er schafft darüber hinaus Normen, die auch von
den Besitzlosen übernommen werden. Ein Verstoß gegen diese Normen kann, je nach Schwere, auf unterschiedliche Weise geahndet werden.
Bei kollektiver Widersetzlichkeit der "subalternen Klassen" (Gramsci) allerdings
schreckt auch der demokratisch verfasste Staat nicht vor dem Einsatz offener Gewalt zurück. So auch in den revolutionären Krisenjahren nach
dem Ersten Weltkrieg, als sich Gramsci zufolge "die Zivilgesellschaft zwar als kampfentscheidendes System von
,Schützengräben herausgestellt hatte aber die gewaltsame Niederschlagung der revolutionären Herde, die in vielen Teilen
Europas aufflammten, dennoch notwendig gewesen" war.
Das von Gramsci entwickelte Konzept der Zivilgesellschaft geht zwar über Lenin
hinaus, knüpft aber direkt an dessen Staatstheorie an. Mit gewissem Recht könnte man Gramscis einschlägige Texte unter dem Titel
"Zivilgesellschaft und Revolution" zusammen fassen in Anspielung auf Lenins Schrift Staat und Revolution aus dem Jahre 1917, die
schon damals zumindest ergänzungsbedürftig war. Dass Gramsci bei aller Originalität seiner Ideen aus der leninistischen
Tradition kam und bis zu seinem Tode (1937) Revolutionär blieb, kann nicht oft genug betont werden gegenüber diversen
Erbschleichern, die ihn für sich reklamieren (angefangen von den korrupten Craxi-"Sozialisten" in Italien bis hin zu Peter Glotz und
ähnlichen sozialdemokratischen "Querdenkern", für die schon die Bezeichnung "Reformisten" ein unverdienter
Ehrentitel wäre).
Spekulationen, "wo denn Gramsci heute stehen würde", sind
natürlich müßig. Nicht müßig ist die Frage, ob seine revolutionären Gedanken für die unscheinbare linke
Tagespolitik nutzbar gemacht werden können z.B. für den antifaschistischen Kampf. Für den historischen Kampf der Resistenza
haben sie de facto keine Rolle gespielt.
Auch die offizielle Geschichtsschreibung der italienischen KP ist mit Vorsicht zu
genießen: Danach wäre Palmiro Togliatti, als Gramscis "engster Kampfgenosse", auch dessen Testamentsvollstrecker, wären
der reformistische "italienische Weg zum Sozialismus" und später Berlinguers "Eurokommunismus" Umsetzungen von
Gramscis strategischen Wegweisungen.
Bündnispolitik
Wer als Linker von der Zivilgesellschaft spricht, in der es "Bastionen" zu gewinnen gelte, spricht damit zumindest implizit auch von
Bündnispolitik. Auch dafür ist Gramsci ein wichtiger Bezugspunkt, seine praktische politische Tätigkeit vor seiner Inhaftierung im
November 1926 eingeschlossen. Als der Streit um Italiens Eintritt in den Ersten Weltkrieg tobte, traf er sich mit pazifistischen Katholiken eine
Provokation für die italienischen Sozialisten, die so Gramsci wörtlich lieber einen "dummen Antiklerikalismus"
pflegten. Nach dem Krieg suchte er Kontakt zu den ehemaligen Soldaten, die sich um den nationalistischen Dichter und Abenteurer Gabriele
DAnnunzio scharten, wurde aber von DAnnunzio nicht vorgelassen. Den Futuristen Filippo Marinetti, einen ideologischen Wegbereiter des
Faschismus, lud er persönlich zum Vortrag in die Turiner "Sektion des russischen Proletkult".
Mit einigem Recht ließe sich fragen, ob nicht so weit nach rechts greifende
Bündnisbemühungen mehr schaden als nutzen. Im Prinzip kommt es aber Gramsci bei der Arbeit in der Zivilgesellschaft nicht auf
Bündnisse um ihrer selbst Willen an. Ausgangspunkt ist vielmehr der "Geist des Bruchs", ein klarer Trennungsstrich zwischen Fortschritt
und Reaktion: "Was kann man seitens einer Klasse, die die Erneuerung anstrebt, diesem gewaltigen Komplex von Schützengräben und
Befestigungsanlagen der herrschenden Klasse entgegenstellen? Den Geist des Bruchs, d.h. die fortschreitende Aneignung des Bewusstseins der eigenen
historischen Persönlichkeit, den Geist des Bruchs, der danach streben muss, sich von der führenden Klasse auf die potenziell verbündeten
Klassen auszudehnen: All das erfordert eine komplizierte ideologische Arbeit, deren erste Bedingung die richtige Kenntnis des Gebiets ist, dem die
Menschenmassen zu entreißen sind."
Der Erforschung des feindlichen ideologischen "Gebiets" hat Gramsci sich
schon während seiner Turiner Zeit und später auch in den Gefängnisheften mit großer Energie gewidmet; das zeigen die vielen
Theaterkritiken, Rezensionen von "Trivialliteratur" und Zeitschriftenschauen, die er verfasst hat. Heute, da die Ideologieapparate ungeheuer
angewachsen sind und mit ihnen die Zahl der "professionellen Vermittler von Ideologie und Politik" , ist diese Aufgabe um so
größer. Viel wäre gewonnen, wenn die Linke sich mehr und systematischer mit der "Massenkultur" auseinander setzen
würde statt diese, wie meist üblich, offensiv zu ignorieren.
Dass bei Gramsci dafür allenfalls methodische Hinweise zu finden sind, sollte klar
sein. Gramsci war kein Verfasser politischer Ratgeber in allen Lebenslagen. Lernen können wir von seiner Bereitschaft, die Ideologien und ihre
Wirkungen zu untersuchen, um sie besser bekämpfen zu können. Lernen können wir auch, dass zwei Dinge zusammen passen, die in der
radikalen Linken gern als unvereinbar betrachtet werden: die Bereitschaft, den Blick auf die Gesellschaft insgesamt zu richten und gleichzeitig an
einer revolutionären Politik des "Bruchs" festzuhalten. Bei der Gramsci-Lektüre erscheint das ganz einfach im Prinzip
zumindest.
Js
Gekürzt aus: analyse & kritik (Hamburg), Nr.441, 31.8.2000.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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