Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.26 vom 21.12.2000, Seite 4

Hungerstreik in der Türkei

Tote befürchtet

Während der Druck auf die türkische Regierung zugenommen hat, den Forderungen der Gefangenen nachzugeben, machen Ultrarechte in der Türkei und im Ausland mobil.
Anfang Dezember sah es fast so aus, als käme es zu einem Kompromiss zwischen der türkischen Regierung und den fast 1000 hungerstreikenden Gefangenen. Der türkische Ministerpräsident Ecevit erklärte, dass die Einführung der Isolationszellen vorerst zurückgestellt werde. Außerdem hatte er die Freilassung kranker Gefangener in Aussicht gestellt. Doch die Vorschläge erhielten keine wirklichen Zugeständnisse: Schon mehrmals machten Regierungsvertreter klar, dass für die Einführung der Isolationszellen noch Schulungen von Personal und einige Gesetzesänderungen notwendig seien, die mehrere Monate Zeit brauchten. Auch die Freilassung von einigen tausend Gefangenen ist schon seit längerem erbittertes Streitthema in der türkischen Koalition.
Justizexperten wiesen darauf hin, dass für die gegenwärtig über zehntausend politischen Gefangenen niemals genügend Einzelzellen zur Verfügung stehen. Von der geplanten Amnestie sollen in erster Linie Gefangene der Mafiastrukturen und noch inhaftierten Terroristen der faschistischen Grauen Wölfen profitieren. Hingegen dürften linke Gefangene nur in den Genuss der Amnestie kommen, wenn sie sich verpflichten, die bestehenden Verhältnisse anzuerkennen und ihren ursprünglichen politischen Zielen abzuschwören.
Ob die Gefangenen des Öcalan-Flügels der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die diese Voraussetzungen eigentlich schon erfüllt haben, in den Genuss der Amnestie kommen sollen, ist in der politischen Arena von Ankara noch offen.
Das Militär und die rechtsextreme Regierungspartei MHP wollen davon nichts wissen. Sicher ist jedenfalls, dass alle führenden Aktivisten und Aktivistinnen der noch aktiven linken Organisationen von der Amnestie ausgeschlossen blieben. Sie sind die eigentliche Zielgruppe für die neu errichteten Isolationsgefängnisse nach EU-Norm.
Daher bezeichneten die hungerstreikenden Gefangenen die Regierungserklärung als leicht durchschaubare Demagogie und setzen ihren Kampf fort. Währenddessen machen auch in der Türkei MHP und andere rechte Gruppen gegen die Gefangenen und die Solidaritätsbewegung mobil. Am 12.Dezember griffen Graue Wölfe, die Terrorabteilung der MHP, eine Solidaritätsdemonstration für den Widerstand der Gefangenen an, die anschließend auch noch von der Polizei mit Schlagstöcken zusammengeschlagen wurde.
Es gab zahlreiche Schwerverletzten und vielen Festnahmen. In Istanbul marschierten am 12.Dezember mehr als 3000 Polizisten in Uniform auf, um gegen jeglichen Kompromiss in der Gefangenenfrage mobil zu machen und die Position der Ultrarechten in der Regierung zu stärken.
Am 9.Dezember wurde der in Belgien lebende Migrant aus der Türkei, Safer Dereli, in der Rotterdamer Innenstadt von türkischen Faschisten erstochen. Wie in vielen anderen europäischen Städten haben auch in der Rotterdamer Innenstadt türkische Linke in einem Zelt auf einem öffentlichen Platz den Gefangenenwiderstand in der Türkei mit einen Solidaritätshungerstreik unterstützt. Dabei gab es wiederholt Angriffe türkischer Faschisten auf das Zelt der Aktivisten.
Anfang Dezember erreichten die Attacken einen Höhepunkt. Das Komitee gegen Isolationshaft (IKM) macht auch den türkischen Staat für den Tod von Dereli mitverantwortlich. Schließlich ist die MHP Teil der Regierungskoalition in Ankara. Die Hamburger IKM-Sprecherin Selda Delgiz erinnert daran, dass in einem Istanbuler Armenviertel ein Jugendlicher von der Polizei erschossen wurde, als er Solidaritätsplakate für die Hungerstreikenden klebte.
Die rechte Offensive ist eine Antwort auf den innenpolitische Unterstützung, die die Forderung der hungerstreikenden Gefangenen in den letzten Wochen erfahren hatte. Führende Intellektuelle hatten in mehreren türkischen Städten mit Solidaritätshungerstreiks begonnen und ihre Vermittlung in dem Konflikt angeboten. Auch die Ärztekammer sowie verschiedenen linke Parteien unterstützen die Forderungen der Gefangenen.
Auch im Ausland nimmt die Solidarität weiter zu. Am 20.Dezember traten die Gefangenen der Guerilla-Organisationen Grapo und PCE(r) in einen einwöchigen Solidaritätshungerstreik und riefen politische Gefangene aus anderen Ländern dazu auf, sich an der Aktion zu beteiligen.
Doch die Zeit wird knapp. Das Leben mehrerer Gefangener, die durch vorangegangene Widerstandsaktionen sowie polizeilicher Folter in schlechter gesundheitlicher Verfassung sind, ist mittlerweile akut bedroht. Viele Angehörige befürchten, dass sich eine Situation von 1996 wiederholen könnte. Damals starben zwölf Gefangene, bevor die Regierung ihren Forderungen nachgegeben hatte.

Peter Nowak

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