Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.26 vom 21.12.2000, Seite 10

Schifffahrt

Die nächste Katastrophe ist absehbar

Die Arbeit auf dem Meer ist eine Quelle gigantischer Profite in der Hand mächtiger Lobbies. Ins Blickfeld des Interesses gerät dieses wenig analysierte Geschäftsfeld meist nur nach ökologischen Katastrophen. So wie nach dem Schiffsunglück vor der Atlantikküste Frankreichs, bei dem Anfang November ein Tanker mit hochgiftigen Chemikalien versank.
70% der Weltbevölkerung leben innerhalb von 100 Kilometern Küstenstreifen, die wichtigsten Großstädte der Welt sind Hafenstädte. Die Flussmündungen, in denen sich die Verschmutzung durch Industrie und Landwirtschaft in die Meere ergießt, sind zerbrechliche Kettenglieder des gefährdeten ökologischen Gleichgewichts.
Die wesentliche Meeresverschmutzung ist Folge einer bestimmten Produktionsweise an Land, die Verseuchungen durch "Unfälle" mache nur einen Teil davon aus.
Die Verschmutzung durch Ölteppiche hat bloß einen Anteil von 2% an der gesamten Meeresverunreinigung.
Innerhalb der letzten 30 Jahre nahm der Verkehr auf See um 430% zu. Gleichzeitig sanken in den letzte 10 Jahren die Transportkosten um 34%.
Dieser Rekord an Rentabilitätssteigerung wurde durch mehrere Faktoren bedingt: Die Produktionskosten der Schiffe — die Werften, in denen von stark gewerkschaftlich organisierten Arbeitern mit besten Materialien hochwertige Produkte hergestellt wurden, sind zerschlagen; unterbezahlte — oder gar unbezahlte — Mannschaften ohne Arbeitsrechte, die sich sprachlich nicht verständigen können, weil sie unterschiedlicher Herkunft sind (auf manchen Schiffen werden bis zu 14 Sprachen in einer Mannschaft gesprochen); Druck der Reeder auf die Mannschaften, bei jedem Wetter zu fahren; jährlich werden sechs Millionen Tonnen Erdöl und andere verschmutzende Chemikalien ins Meer geleitet, 14 Tankschiffe versinken weltweit pro Jahr; die Schiffe werden bis zum letzten Augenblick genützt — Seefahrtsexperten sind der Ansicht, dass 40% der Schiffe, die derzeit in Betrieb sind, laut Gesetzen bereits aus dem Verkehr gezogen sein müssten.
1978, die Amoco Cadiz: 220000 Tonnen Erdöl breiten sich vor der bretonischen Küste aus. Für spätestens 2012 werden Schiffe mit doppelter Ladekapazität in Europa versprochen, die USA führten sie bereits sechs Monate nach dem Unglück der "Amoco Cadiz" ein.
Die — wenn auch wenigen — uneinheitlichen Regelungen des Schiffsverkehrs veranlassen die Reedereien, die der US-amerikanischen Küstenwache aus dem Weg gehen wollen, entlang der französischen Atlantikküste zu fahren. Jeden Tag werden vor der Bretagne 600000 Tonnen Kohlenwasserstoffe, 30000 m3 Gas und 170000 Tonnen chemische, toxische oder radioaktive Materialien transportiert, das sind 25% des gesamten Schiffstransport der Welt.
Roseline Vachetta, Europaabgeordnete der LCR, der französischen Sektion der IV.Internationale, sagte im Rahmen einer internationalen Konferenz über die Sicherheit der Meere, dass die französische Regierung ein deutliches Zeichen setzen könnte, indem sie die Vergabe von Flaggen aus Gefälligkeit (Schiffe fahren oft aus steuerlichen oder juristischen Gründen unter "fremder" Flagge) reduziert und das Personal für die Kontrolle von Schiffen aufstockt.
Frankreich müsste zudem die Zahl der Hochseeschlepper, die bei der Sicherheit eine wichtige Rolle spielen, verdoppeln. Anstatt die Werften zu zerschlagen, müsste die Industriepolitik zum Ziel haben, sichere Schiffe zu bauen, durch neue Konstruktionen und zuverlässige Reparaturen den katastrophalen Zustand der Handelsflotte zu verbessern.
Natürlich können nicht alle Lösungen auf nationaler Ebene gefunden werden, auch die Europäische Union muss zu einer Wende gedrängt werden. In erster Linie geht es darum, den Öffentlichen Dienst an den Küsten zu stärken, um die Schiffe besser kontrollieren, wenn notwendig, auch enteignen und "Schrottschiffe" unbenutzbar machen zu können.
Es stehen auch rechtliche und exekutive Möglichkeiten aus, Verursacher von Meeresverseuchung die gesamten Kosten bezahlen zu lassen, vor allem für diejenigen Menschen, die vom Fischfang leben und ihre Existenzgrundlage verlieren. Dazu wäre auch eine Klassifizierung und Kontrolle der Schiffe nötig, die von den maritimen Transportlobbies unabhängig agiert.
Im Vorjahr war es die Erika, die das Meer vor der Bretagne mit Öl verseuchte, Anfang November — nur zehn Monate später — drohten aus dem gesunkenen Tanker Levoi Sun giftige Chemikalien auszuströmen. "Ölverseuchung, Nitratverseuchung, wahnsinnige Rinder — wir haben die Nase voll!", riefen tausende DemonstrantInnen am 2.November in der westfranzösischen Hafenstadt Brest. Die ersten Demonstrationen anlässlich ölverschmutzter Meere legten den Schwerpunkt noch auf die Forderung nach Mitteln zur Säuberung der Strände.
Heute gehen die Proteste viel weiter, wenden sich auch gegen die Gefahr durch billige, aber verseuchte Futtermittel, gegen die Gefahr, die von den Atom-U-Booten droht — in Brest liegen alle französischen Atom-U-Boote, ohne dass eine unabhängige Behörde Messungen durchführen darf.
In mehreren Städten demonstrierten die Menschen nach dem Unfall der Levoi Sun, neben Umweltorganisationen, der LCR und den Grünen hatte auch die CGT-Marinegewerkschaft zu den Protesten aufgerufen, denn neue Gefahren drohen: Ein weiteres "Schrottschiff", die Han, fährt vor der französischen Küste.
Und eine wirklich große Katastrophe scheint nicht mehr ausgeschlossen, denn weltweit fahren 1500 Chemietransporter auf dem Meer, viele von ihnen nicht sicherer als die gesunkene Levoi Sun und etliche davon mit weitaus gefährlicherer Fracht.

Aus: Rouge, Nr.1897, 9.11.2000.

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04


zum Anfang