Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.02 vom 17.01.2001, Seite 7

Die Europäische Union im Würgegriff

der Konkurrenz BRD—Frankreich

von WINFRIED WOLF

Der EU-Gipfel in Nizza endete wie das Schießen in Hornberg: Die Teilnehmer gingen auseinander, wie sie zusammengekommen waren - ergebnislos. Immerhin: geschossen wurde weder in Hornberg, noch in Nizza. Und das war nicht immer so. Deutlicher wurde auf dem Gipfel in Nizza jedoch: Die Spannungen in der Europäischen Union im allgemeinen und diejenigen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland haben enorm zugenommen. Dahinter stehen nicht irgendwelche persönliche Ressentiments zwischen Chirac und Schröder oder Fischer und Védrine. Dahinter steht vielmehr ein grundsätzliches Problem und ein antagonistischer Widerspruch. Das Problem: Seit Gründung der EWG 1956 gelang es nicht, in Westeuropa ein europäisches Kapital herauszubilden. Die maßgeblichen Konzerne sind weiterhin national — und hier vor allem deutsch, französisch, britisch oder italienisch. Damit liegt jedoch zwischen dem Ziel führender, vor allem deutscher Kapitalkreise in Europa, eine in jeder Hinsicht "schlagkräftige" Konkurrenz zum Block USA (NAFTA) aufzubauen, eine kaum überwindbare Mauer — eben bestehend aus einer Vielzahl "nationaler" Kapitale und Konzerne, die sich hinter 15 Nationalstaaten verschanzen. Der antagonistische Widerspruch: Es ist keine Tendenz erkennbar, diesen Widerspruch ernsthaft "politisch" zu lösen — und Formelkompromisse sind hier keine Lösung. Das ist die entscheidende Botschaft von Nizza. Gerade weil die Nationalstaaten weiter bestehen und gerade weil es kein europäisches Kapital gibt, herrscht Konkurrenz vor. Anstelle einer "politischen Lösung" versucht der mächtigste Nationalstaat in der EU, der deutsche, das Ziel, ein von den deutschen Konzernen beherrschtes Europa, mit allen Mitteln durchzusetzen. Das wiederum stößt auf erbitterten Widerstand - insbesondere auch demjenigen der zweitstärksten EU-Wirtschaftsmacht, von Frankreich. Wohlgemerkt: Dies ist kein Plädoyer für eine "europäische Integration". Jedes vereinte kapitalistische Europa — sei es ein deutsch-dominiertes oder eines basierend auf einer "politischen Lösung" — ist eine zusätzliche Bedrohung für den Frieden, erhöht die Macht der Konzerne, verstärkt die Ohnmacht der Arbeitenden, Arbeitslosen und der sozialen Bewegungen. Von daher gab es in Nizza nur einen überzeugenden Ansatz: Den auf den Straßen, den des Protestes gegen die Konzerne, den gegen jede Art eines kapitalistischen Europa-Projekts.
Im April 1965, hatte der Dachverband industrieller Unternehmer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, UNICE, ein Memorandum vorgelegt, in dem von der EWG-Kommission gesetzliche Erleichterungen für die internationale Verschmelzung von Unternehmen im EGW-Raum gefordert wurden. Ausdrücklich hieß es in der Denkschrift, dass die "Erweiterung des Umfangs der Industriebetriebe Hauptziel der EWG-Kommission" sein sollte. Ende 1967 sprachen sich der Vorsitzende des Bundesverbandes der deutschen Arbeitgeberverbände, Siegfried Blanke, und der stellvertretende Vorsitzende des französischen Arbeitgeberverbands CNPF, Ambroise Roux, gemeinsam für die "Bildung europäischer Gesellschaften" aus und forderten die EWG auf, sie in dieser Zielsetzung zu unterstützen.1
In der Zeit gab es für diese Kapitalkreise Anlass für den Optimismus, diese Ziele verwirklichen zu können. Die EWG entwickelte sich zu einer Zollunion. Die US-Regierung hatte zwei Gründe, die EWG zu fördern. Der erste war ein politischer: Die strategische Orientierung der USA galt der Stärkung und Stabilisierung Westeuropas als "Bollwerk" gegen die Sowjetunion. Der zweite war ein ökonomischer: Die US-Regierung ging davon aus, dass ihre Unternehmen aus einem freien Wirtschaftsraum Westeuropa mehr Vor- als Nachteile ziehen würden. Am 6.Dezember 1961 — die Herrschaft der USA befand sich auf dem Höhepunkt; der Kalte Krieg war vier Monate zuvor mit dem Bau der Berliner Mauer eskaliert — hielt US-Präsident John F. Kennedy eine Rede vor dem US-amerikanischen Industriellenverband. In dieser unterstrich er die US-Unterstützung für die EWG mit den folgenden Sätzen: "Der Gemeinsame Markt in Europa … sollte unser größter und … einträglichster Kunde sein. In demselben Augenblick, in dem wir dringend eine Steigerung unserer Exporte brauchen, um unsere Zahlungsbilanz zu schützen und unsere Truppen im Ausland zu bezahlen, entsteht jenseits des Atlantiks ein gewaltiger Markt."2
Das waren ausgesprochen gute Startbedingungen zur Sprengung der alten nationalstaatlichen Grenzen und zur Schaffung eines neuen Nationalstaats auf wesentlich größerer geografischer Fläche — und damit auch mit einem weit größeren inneren Markt und mit einem weit größeren "Nähr- und Resonanzboden" zur Bildung gewaltiger Konzerne.
Vier Jahrzehnte später ist festzustellen: Mit dem Wegfall der Sowjetunion haben die USA ihre Unterstützung für die EU aufgegeben. Es bildete sich eine massiv verstärkte Konkurrenz zwischen den drei Blöcken NAFTA (USA, Kanada und Mexiko), Japan und Westeuropa heraus. In der EU gibt es keine "europäischen" Konzerne. Die Nationalstaaten bestehen weiter, teilweise verstärken sich die Spannungen zwischen ihnen. Was es gibt sind künstliche Tendenzen, mit denen eine "Union" über die Einheitswährung Euro, eine Europäische Zentralbank und einen militärisch-industriellen Komplex erzwungen werden soll.
Derzeit ist es die US-Konkurrenz, die auf diese Schwachstelle im EU-Konzept verweist. Als Anfang der 90er Jahre der geplante Zusammenschluss der europäischen Fluggesellschaften KLM, SAS, Swissair und Austrian Airlines scheiterte, formulierte die führende US-amerikanische Wochenzeitung Business Week die bemerkenswerten Sätze: "Solche gemeinsamen Zusammenschlüsse sind exakt das, was Westeuropa heute benötig… Eine Restrukturierung der europäischen Industrie, die ohne Rücksicht auf nationalstaatliche europäische Grenzen erfolgte und transnationale Zusammenschlüsse einschließt, wäre exakt der letzte, entscheidende Schritt hin zu den Produktionseinheiten auf höherer Stufe, insbesondere im Fall von Industrien mit Überkapazitäten wie bei der Auto- und Luftfahrtindustrie. Es handelt sich jedoch um einen Schritt, den Europa offensichtlich nicht machen kann."3
Diese Beobachtung trifft zu. Offensichtlich gibt es in Europa keinen Prozess der Herausbildung eines "transnationalen, europäischen Kapitals". Was es jedoch gibt, ist ein gewaltiger Wirtschaftsblock, der zumindest die Potenzen eines solchen einheitlichen europäischen Nationalstaats zum Ausdruck bringt. Von den 200 größten Konzernen der Welt zählten 1999 77 zum Block NAFTA und immerhin 67 zur EU. Rechnet man die sechs Schweizer Konzerne hinzu, die zu den 200 größten zählen, dann sind rein rechnerisch NAFTA und EU auf diesem Gebiet so gut wie ebenbürtig — 77:73.
Oder auch: Drei Viertel der 200 größten Konzerne der Welt konzentrieren sich auf die beiden großen Wirtschaftsblöcke Nordamerika und Westeuropa (auf Japan entfallen weitere 40; auf den "Rest der Welt" gerade noch 10).
Doch die Parität NAFTA/EU ist eine oberflächliche. Denn im NAFTA-Block gibt es, anders als in der EU, eine die gesamte Region bestimmende und erdrückende Kapitalmacht — die der US-Konzerne. Dies wird allein dadurch bestätigt, dass bis auf einen (mexikanischen) Konzern alle in der Tabelle aufgeführten "NAFTA-Konzerne" aus der Gruppe der "200 größten Konzerne der Welt" US-Konzerne sind. In der EU kann die führende Wirtschaftsmacht BRD gerade mal 22 der 67 EU-Konzerne, die zur Gruppe der "200 Größten" zählen, auf sich konzentrieren.
Damit relativiert sich auch die Tatsache, dass die EU-Konzerne in der "Gruppe der 200 Größten" immerhin 34% des gesamten Umsatzes dieser "200 Größten" auf sich vereinen und damit nicht allzu weit hinter den NAFTA-Konzernen liegen, die 40% dieses Umsatzes auf sich konzentrieren. Auch aus der Tatsache, dass DaimlerChrysler der drittgrößte Industriekonzern und die Deutsche Bank mit der Einverleibung von Bankers Trust 1998 zur größten Bank der Welt wurde, lassen sich für ein Projekt Europa nur bedingt Vorteile beziehen. Denn es gibt schlicht keine einheitliche Gruppe von "EU-Konzernen", wohingegen in der NAFTA so gut wie alles von den US-Multis kontrolliert wird.
Das soll nicht heißen, dass es in der NAFTA keine Widersprüche geben würde. Auch hier haben Kanada und Mexiko ihre Nationalstaatlichkeit behalten. Die Tatsache, dass das US-Kapital in diesen beiden Nationalstaaten völlig dominiert, gibt auch Kräften Aufwind, die der NAFTA immer skeptisch gegenüber standen. In Kanada fühlen sich z.B. diejenigen Gruppen bestärkt, die bereits die Konstruktion dieses zweisprachigen Staats für artifiziell halten und sich einen "eigenen", frankofonen Staat, mit engerer Bindung an die EU, wünschen. In Mexiko wiederum versuchen Teile der herrschenden Klasse eine "Schaukelpolitik", indem sie mit der EU einen Freihandelsvertrag abschlossen und glauben, damit ein Gegengewicht zu den allmächtigen US-Konzernen schaffen zu können.
Doch selbst wenn es wieder zu einer Aufspaltung der NAFTA käme — die Macht der US-Konzerne und die Macht des US-amerikanischen Nationalstaats würde dabei höchstens angekratzt. Das ist der entscheidende Unterschied zur Europäischen Union. Kommt es nicht zur Fortentwicklung des fragilen Gebildes EU, wird dieses gar durch die widerstrebenden Interessen der nationalen Kapitale und der nationalen Regierungen auseinandergesprengt, dann haben die in Westeuropa beheimateten Konzerne keinerlei Chance, gegenüber der nordamerikanischen Konkurrenz bestehen zu können. Auf den Punkt gebracht lautet dies: Die US-Konzerne engagieren sich für die NAFTA, um ihre weltweit hegemoniale Position weiter auszubauen und abzusichern. Scheitern sie bei diesem Ziel, dann rücken sie im weltweiten Monopoly von der "Schlossstraße" auf die "Parkstraße". Die in Westeuropa beheimateten führenden Konzerne müssen jedoch das Projekt EU vorantreiben und Westeuropa auf die eine oder andere Weise zu einem faktisch neuen Nationalstaat umgestalten. Scheitern sie bei diesem Unterfangen, dann haben die meisten von ihnen die Schlacht um die Weltherrschaft, zu der sie antraten, verloren. Ohne einen ausreichend großen inneren Markt, ohne eine ausreichend starke Regional-National-Regierung, fehlt diesen Konzernen gewissermaßen die "Rüstung", um der Weltmarktkonkurrenz begegnen zu können.

Struktur der Konzernmacht in der EU

Anstelle von "europäischen Konzernen" gibt es in Westeuropa einen knallharten Konkurrenzkampf der einzelnen nationalen Kapitale, ausgedrückt in den jeweiligen nationalen Konzerne.
Spätestens seit den 80er Jahren geht es in Westeuropa um Hegemonialisierung anstelle von Homogenisierung. Dabei zeichnen sich gerade seit dem geschichtlichen Einschnitt 1989/90 maßgebliche Veränderungen ab.4
Zunächst lässt sich feststellen: Der addierte Umsatz der 100 größten Industrie- und Dienstleistungsunternehmen Westeuropas — außer EU-Konzernen sind das noch fünf Schweizer und zwei norwegische Unternehmen — stieg allein in den hier bilanzierten neun Jahren von umgerechnet 3219 Milliarden Mark im Jahr 1990 auf 5312 Milliarden Mark im Jahr 1999, das entspricht einer Steigerung um 65%, rund doppelt so viel, wie das westeuropäische Bruttoinlandsprodukt wuchs. Allein dies drückt die schnell wachsende Macht der Großkonzerne aus.
Sodann gab es eine weitere Konzentration auf die beiden führenden Nationalstaaten BRD und Frankreich: 1990 waren 52 der 100 größten Unternehmen in deutschem oder französischen Eigentum; auf sie entfiel damals bereits ein addierter Umsatz von 1613 Milliarden Mark, was 50% des gesamten Umsatzes der "100 Größten" entsprach. 1999 waren unter dieser Gruppe schon 56 deutsche oder französische Unternehmen; ihr addierter Umsatz entsprach 58% des gesamten addierten Umsatz der 100 größten Firmen.
Weiter fällt auf, dass die nächsten zwei großen Nationalstaaten, Italien und Großbritannien, gegenüber den zwei führenden Ländern deutlich zurückfielen. Entsprach der addierte Umsatz der italienischen und britischen Konzerne in dieser Spitzengruppe 1990 noch 31% des gesamten Umsatzes der "100 Größten", so lag er 1999 nur noch bei 23,6%. Auch der Umsatzanteil, den die niederländischen Unternehmen auf sich vereinen konnten, sank leicht, wohingegen die Konzerne mit Sitz in der Schweiz zulegen konnten.
Die übrigen Länder spielen im Konzert der Großen keine entscheidende Rolle und konnten ihre Positionen auch nicht ausbauen (die Zunahme der Zahl spanischer Unternehmen von zwei auf drei kann kaum als Aufstieg einer spanischen Wirtschaftsmacht gezählt weren; unter den drei spanischen Konzernen, die 1999 aufgelistet sind, befindet sich mit dem ölverarbeitenden Konzern Repsol nur ein Industriebetrieb, ein Unternehmen — Endesa ist Stromversorger, das dritte, "Telefonica", kam als Ergebnis der Privatisierungspolitik in die Liste). Finnland ist insofern interessant, als dieses Land 1990 mit dem Unternehmen Neste vertreten war. 1999 repräsentiert der heute international bekannte Elektronikkonzern Nokia dieses Land; Nokia erlebte einen kometenhaften Aufstieg und steht 1999 bereits auf Platz 56 der 100 Größten in Westeuropa — 1990 lag das Unternehmen noch auf Platz 202. In keinem anderen Land Europas dürfte im übrigen ein einziger Konzern ein derartiges Gewicht haben wie Nokia in Finnland — womit sich jeder Schnupfen, den Nokia erlebt, als Lungenentzündung für die "nationale" finnische Ökonomie erweisen wird.
Die Anfang des 21.Jahrhunderts verfügbaren Zahlen zum "Europa der Konzerne" unterstreichen nach dem Dargelegten eine enorme Erhöhung der Macht des großen Kapitals. Vor allem unterstreichen sie die überragende Kapitalkonzentration derjenigen Konzerne, die ihren Sitz in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland haben.

Deutscher Expansionismus — damals und heute

An diesem Punkt der Analyse angelangt, muss nochmals ein Schritt zurückgegangen werden. Das gesamte Projekt Europäische Union ist in erheblichem Maß ein Projekt der großen deutschen Konzerne und insbesondere der in Deutschland maßgeblichen politischen Kreise.
Ernest Mandel bemerkte dazu 1968: "Nach dem zweimaligen Scheitern einer gewaltsamen Expansion nach dem Osten versuchen heute die Produktivkräfte Westdeutschlands sich durch friedlich-kommerzielle Expansion nach Westen einen Weg aus ihren engen Nationalgrenzen heraus zu bahnen."5 Dass sich die Expansion längst nach West- und Osteuropa orientiert, wurde bereits mit der "neuen Ostpolitik" ab den 70er Jahren eingeleitet und mit der Rekapitalisierung der ehemaligen Warschauer Pakt-Straaten ab 1990 in großem Umfang ermöglicht. Hier sollte jedoch festgehalten werden: Diese Zielsetzung eines deutschen Expansionismus ergab sich nicht naturwüchsig; sie ist nicht Resultat neutraler Marktkräfte. Sie wurde explizit so formuliert — im deutschen Außenministerium, während des Zweiten Weltkriegs, in einer geheimen Denkschrift. In ihr finden sich die folgenden Sätze:
"Die Einigung Europas, die sich in der Geschichte seit langem abzeichnet, ist eine zwangsläufige Entwicklung. Die ungeahnten Fortschritte der Technik, die Schrumpfung der Entfernungen infolge der modernen Verkehrsmittel … und der Zug der Zeit, weite Zusammenhänge zu schaffen und große Räume gemeinsamer Erzeugung und Bewirtschaftung herzustellen, nötigen Europa zum engeren Zusammenschluss. Europa ist zu klein geworden für sich befehdende und gegenseitig absperrende Souveränitäten … Es besteht … das Ziel … einer europäischen Zollunion und eines freien europäischen Marktes, fester innereuropäischer Währungsverhältnisse mit dem späteren Ziel einer europäischen Währungsunion."6
Diese Zielsetzung der deutschen Diplomatie in der Nazi-Zeit wurde nach der deutschen Niederlage 1945 und der Teilung Deutschlands von den westdeutschen Kapitalkreisen verstärkt, weil nunmehr der militärische Weg der Expansion auf längere Zeit versperrt war. Und da das deutsche Bürgertum und die deutschen Konzerne und Banken nach dem Zweiten Weltkrieg international isoliert und diskreditiert waren, konnte auch der "friedliche" Weg der neuen Expansion nur behutsam, mit einem Höchstmaß an Diplomatie begangen werden. Vor allem benötigte die neue-alte Elite in Westdeutschland für dieses Ziel einen Bündnispartner, der erstens stark genug war, die deutschen Ziele durchzusetzen, der zweitens mit einem solchen Bündnis eigene Interessen verbinden konnte und der drittens unverdächtig war. Frankreich erwies sich hier als der ideale Partner: Eine Siegermacht, also unverdächtig. In Kontinentaleuropa Anfang der 50er Jahre wirtschaftlich führend; darüberhinaus über ausgedehnte internationale Einflüsse, vor allem in ehemaligen Kolonialgebieten, verfügend. Sodann: Frankreich war Atommacht.
Die deutsche Seite hatte damit nicht unbedingt ihren Dummen gefunden. Die französische Regierung ihrerseits war sich durchaus darüber im Klaren, was die Absichten der bundesdeutschen Regierung bei dem Angebot waren, die "Erbfeindschaft" zu beenden und eine bevorzugte Zusammenarbeit in Europa einzugehen. Doch so wie die französische Seite 1871, nach der Niederlage gegen Preußen, bereit war, mit Bismarck einen Teufelspakt zum gemeinsamen Vorgehen gegen die Pariser Kommune einzugehen, so willigte Ende der fünfziger Jahre die französische Regierung unter De Gaulle in einen solchen Teufelspakt mit der Regierung Adenauer ein. Die französischen Interessen, die mit der Achse Bonn—Paris erreicht werden sollten, können in fünf Punkten skizziert werden:
1. Hilfe der deutschen Politik und Wirtschaft bei der Konsolidierung der französischen Wirtschaft nach langer Besatzung, langen Kolonialkriegen (Indochina bis 1948 bis 1954, Algerien 1954 bis 1962), nach dem Verlust fast aller Kolonien und belastet von erheblichen Auslandsschulden. Der französische Staat reagierte darauf insbesondere mit breit angelegten Verstaatlichungen (Renault, Ölbranche, Banken). Die deutsche Hilfe sollte in der Entwicklung des deutsch-französischen Handels und damit in der Hilfe zu einer Umorientiertung der französischen Handelsbeziehungen bestehen.
2. Ausbau der französischen Militärmacht (Atomprogramm "Force de frappe") im Rahmen von Sonderstrukturen der EWG (Euratom, WEU, EWG-Weltraumprogramm; u.a. Entwicklung der Weltraumrakete "Ariane").
3. Zurückdrängung der damals starken Linkskräfte (KP und SP), was vor allem Resultat eines wirtschaftlichen Aufschwungs war (hieran waren auch die USA im Rahmen der Politik des Kalten Krieges interessiert).
4. Einbindung der bereits wieder überlegenen deutschen Wirtschaft in eine EWG, die politisch, militärisch und kulturell von Frankreich beherrscht sein würde.
Und schließlich und vor allem:
5. Schaffung eines stark von Frankreich beherrschten westeuropäischen Wirtschaftsraums als Antwort auf die neue Hegemonialmacht USA und in Abwehr der britischen Konkurrenz. Letzteres erscheint heute als Nebenaspekt; es spielte jedoch bis Anfang der siebziger Jahre eine entscheidende Rolle in der Europa-Politik. Denn auch gegen die britische Industrie, die vor ähnlichen Problemen wie die französische Wirtschaft stand (u.a. Verlust der Kolonien; hohe Auslandsschulden) hätte sich die französische Wirtschaft möglicherweise nicht halten können. Daher verfolgte Paris bis in die siebziger Jahre hinein die Politik des Veto gegen einen Beitritt Großbritanniens in die EWG. Auf diese Weise konnten sich die französischen Konzerne einen Großteil des westeuropäischen Marktes mit den deutschen "Partnern" teilen.
Letzteres war der entscheidende Nenner, auf den sich der "starke" und ausgesprochen national orientierte General de Gaulle, und der Rosenzüchter am Rhein, Konrad Adenauer, in ihren Europa-Konzeptionen geeinigt hatten. Dies wurde in Westdeutschland besonders deutlich von Franz-Josef Strauß artikuliert, dem aggressivsten Vertreter der deutschen Europa-Politik in den 70er und 80er Jahren, der zugleich eng mit der Rüstungsindustrie verbunden war. Sein Ziel war es, ein Europa der Konzerne gegen die US-Konkurrenz aufzubauen. "Warum die Amerikaner? Und warum nicht wir", fragte Strauß im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Jean-Jacques Servan-Schreibers Buch Die amerikanische Herausforderung, eine französische Kampfschrift für ein westeuropäisches Bollwerk gegen die USA.
Strauß sah klar, was einige Jahre zuvor John F. Kennedy offen zum Ziel der US-Politik erklärt hatte. Die EWG sei "zur Frontlinie der amerikanischen Industrie, zum Schlachtfeld ihrer Macht geworden". Die US-Konzerne seien in der Lage, "ihr Geschäft in Europa aufgrund ihres kolossalen Reichtums mit sehr viel mehr Gewandtheit und Schnelligkeit abzuwickeln als die europäische Konkurrenz". In einer anderen programmatischen Schrift umriss Strauß dieses Programm noch präziser und machte klar, dass es um Expansion nach Westen und nach Osten ging: "Mit dem Entschluss Frankreichs und Deutschlands, ihre Eigenverantwortlichkeit zu mehren, ihre Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu verringern, um so die Grundlage für eine dauerhafte atlantische Interdependenz und gleichzeitig für die Öffnung nach Osten zu schaffen, lässt sich die politische Einigung Westeuropas in Gang bringen … Unsere beiden Länder sollten ihre Mittel auf allen Gebieten der modernen Hochleistungstechnik für wirtschaftliche und militärische Zwecke zusammenlegen."7

Deutsch-französischer Machtkampf

Im Vorfeld der Konferenz von Nizza schrieb ein kluger Beobachter der Zeitung Financial Times: "Beobachter … erklären sich die versteifte französische Position mit der Angst, dass der Gipfel von Nizza und die Erweiterung der EU … das Ende eines ,französischen Europa‘ bringen könnte… Frankreichs politische Klasse fürchtet, das größer gewordene Deutschland könnte nach der Erweiterung eine Vormachtstellung in der EU einnehmen… Deshalb ist… die Frage, ob Deutschland mehr Gewicht im Europäischen Rat bekommen soll als Frankreich, zum Hauptstreitpunkt geworden… Chirac und Jospin lähmt die Angst, vom Gegner Verrat an Frankreichs Interessen vorgeworfen zu bekommen, wenn einer der beiden Konzessionen in dieser Frage anbietet."8
Der Hintergrund dieser Zuspitzung ist weniger in der Tatsache der nunmehr erheblich unterschiedlichen Bevölkerungszahl zu sehen. Er liegt vor allem in der wachsenden Kluft, die sich auf ökonomischen Gebiet auftut.
Bald nach Gründung der EWG war klar, dass es nicht zur Bildung europäischer Gesellschaften und auch nicht zu deutsch-französischen Konzernen kam. Das lag weniger am "bösen Willen" der einen oder anderen Seite, sondern daran, dass bei den entsprechenden Projekten der Wunsch der Vater der Gedanken war. Wie in der heutigen Debatte über die "Globalisierung" so wurde in der Europa-Diskussion der 60er und 70er Jahre der Tatsache, dass Nationalstaaten existieren, dass sie ein Produkt von hundert und mehr Jahren Geschichte sind und dass von ihnen objektive Tendenzen ausgehen, nicht Rechnung getragen. Hinzu kam, dass zumindest auf deutscher Seite der nationale Expansionismus zumindest immer eine wesentliche Tendenz in den herrschenden Kapitalkreisen war. So hieß es bspw. schon 1967 explizit in einer Stellungnahme des BRD-Industriellenverbands BDI, die EWG diene als "Resonanzboden … zur Verfolgung der spezifischen westdeutschen Anliegen".9 Aus dieser Sicht schuf die EWG nur den vergrößerten und durchlässigeren Raum für ein Wettrennen der nationalen Konzerne in die Spitzenposition.
Auch hier wäre es falsch, der französischen Seite vorzuwerfen, sie habe das nicht erkannt. Am 23.September 1971 erklärte de Gaulles Nachfolger im französischen Präsidentenamt, Georges Pompidou, unzweideutig: "Im Aufbau Europas verfügt Deutschland über eine überlegene Wirtschaftsmacht. Vor allem, weil seine Industrieproduktion um fast die Hälfte größer ist als unsere. Deshalb habe ich die Verdopplung unserer Industriekapazitäten in den nächsten zehn Jahren als vorrangiges Ziel gestellt."10
Die französische Regierung verkündete dieses Ziel keineswegs nur vollmundig. Sie hat gewaltige Mittel darin investiert, den Rückstand gegenüber der westdeutschen Wirtschaft zu verkleinern. In großen Sektoren der französischen Ökonomie galt bis vor kurzem planification und nicht der Markt; der Staat investierte in großem Maß in Forschung und Entwicklung — insbesondere in die Rüstung. Frankreich wies regelmäßig einen doppelt so hohen Anteil der Rüstungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt als die BRD auf. Bis vor wenigen Jahren war der größte Teil des französischen Finanzsektors in staatlicher Regie; er diente als Kommandozentrale, um die französische Wirtschaft entsprechend den vorgegebenen Zielen zu entwickeln.
Dennoch musste von Jahrzehnt zu Jahrzehnt festgestellt werden: Der Abstand zwischen beiden Ökonomien vergrößert sich; und ab einer bestimmten Kluft wirkte allein das Gesetz der Größe, das weitere Größe nach sich zieht. Mitte der 80er Jahre lag der Umsatz des ersten dutzends der führenden deutschen Unternehmen um knapp 30% über der vergleichbaren französischen Spitzengruppe. 1990 schon übertraf der Umsatz der führenden zwölf deutschen Unternehmen den Umsatz der französischen 12er Gruppe um 35%. Und Ende der 90er Jahre ist die entsprechende Marge auf knapp 60% (exakt auf 158%) angestiegen. Bei einem — wesentlich aussagekräftigeren — Vergleich der zwölf Industriekonzerne der beiden Staaten liegt der deutsche Umsatz 1999 sogar erstmals auf der doppelten Höhe des entsprechenden Umsatzes in der französischen Gruppe (exakt 199%).11
Es ist wichtig zu betonen, dass die Konzerne, die sich primär in der industriellen Produktion engagieren, in der kapitalistischen Struktur ein weitaus größeres Gewicht haben als alle Unternehmen zusammengenommen, also unter Einschluss des Dienstleistungssektors. Der gesellschaftliche Reichtum wird in der Industrie geschaffen. Und hier werden, mit der Rüstungsindustrie, auch die Kapazitäten zur Zerstörung dieses Reichtums hergestellt. Hier — und in den damit verbundenen Banken und Versicherungen — konzentriert sich die Macht. Insofern kommt dem Umstand, dass die führenden deutschen Industriekonzerne inzwischen doppelt so (umsatz-)stark sind wie die französischen, ein besonderes Gewicht zu.
Das lässt sich für den Finanzsektor ergänzen: Unter den 20 größten Banken der Welt befinden sich fünf deutsche, aber nur drei französische, wobei dazukommt, dass die Deutsche Bank weltweit die Nr.1 ist.
Interessant an der Entwicklung ist das folgende: Die französischen Konzerne wurden von den beiden deutschen 12er Gruppen ausgerechnet in der Zeit nach dem historischen Schnitt 1989/90 "abgehängt". Dabei musste die deutsche Ökonomie in den neunziger Jahren einen erheblichen Teil ihrer Kräfte auf die Integration der Gebiete der ehemaligen DDR konzentrieren. Gleichzeitig wurde gerade in dieser Periode die Expansion nach Mittel- und Osteuropa betrieben, was ebenfalls Energien und Kräfte bündelte und Westeuropa von einem Druck der deutschen Konzerne eher entlastete. Bei den Jahren 1990 bis 1999 handelte es sich gewissermaßen um eine Phase der Konsolidierung der deutschen Ökonomie.
In diesen zehn Jahren ist es der deutschen Diplomatie gelungen, die — auch aus bürgerlicher Sicht — berechtigten Sorgen in Paris zu begrenzen. Das hat im Übrigen auch eine Stange Geld gekostet — so wurden an Elf Aquitaine rund 200 Millionen Mark Schmiergelder im Rahmen der Übergabe der Ölindustrie in Leuna und des ostdeutschen Tankstellennetzes gezahlt; 2 Milliarden Mark staatliche Hilfe für diese französische Neuerwerbung kamen hinzu. Doch diese "Investition" hat sich für die Bundesregierung und die BRD-Konzerne und Banken gelohnt. Heute ist es für die maßgeblichen bürgerlichen Kreise der BRD ein zusätzlicher Glücksfall, dass seit Ende 1998 in der deutschen Europa-Politik ein sozialdemokratischer Kanzler und ein grüner Außenminister tonangebend sind. Das mag noch für einige Zeit dienlich sein, um eine noch größere Entfremdung oder gar einen Eklat zwischen Berlin und Paris zu vermeiden.

Achsenbruch

Dennoch ist ein Bruch der Achse Berlin—Paris inzwischen gut vorstellbar. Die objektiven Kräfte des Kapitals wirken in dieser Richtung. Eine völlig übermächtige Bundesrepublik Deutschland und deutsche Konzerne und Banken, die in der EU absolut tonangebend sind — das können sich das französische und das britische Großbürgertum nicht leisten. Das wird Gegenwehr hervorrufen. Doch wenn die Achse Berlin- Paris bricht, dann ist das gesamte hybride Gleichgewicht in Europa in Gefahr — eine Entwicklung, die im übrigen im Interesse der US-Regierung bzw. der US-Konzerne liegen dürfte.
Es war der kluge, bürgerliche US-Historiker Paul Kennedy, der bereits 1993 eine Aussage wagte, die sich im Jahr 2000 als noch wahrscheinlicher erweist. In seinem Buch "In Vorbereitung auf das 21.Jahrhundert" heißt es: "Sehr viel plausibler ist es, dass die ökonomische Bedeutung Deutschlands dem Land ein zunehmendes Gewicht in der EG und im Umgang mit Mittel- und Osteuropa geben wird. Das französisch-deutsche ,Duopol‘, das die EG-Politik der letzten Jahrzehnte bestimmt hat, wird wahrscheinlich so nicht mehr funktionieren … Es ist auch möglich, sich eine deutsche Dominanz in der zukünftigen Verteidigungsorganisation Europas vorzustellen, insbesondere in der Anschaffung von Panzern, Kampfflugzeugen und ähnlichem. Unterdessen ist eine pénétration pacifique Deutschlands auf den kommerziellen und finanziellen Sektor in Mittel- und Osteuropa wahrscheinlich unvermeidlich."12
Tatsächlich gibt es nicht erst seit Nizza, sondern bereits seit Mitte der neunziger Jahre eine Reihe von Misstönen im "deutsch-französischen Orchester", die als Vorboten für eine Klimaverschlechterung zwischen Paris und Bonn gewertet werden müssen. Als Mitte 1995 in Frankreich Massenstreiks — u.a. im öffentlichen Dienst — stattfanden, stichelte das US- Blatt International Herald Tribune, es sei die "devotion to the Deutsche Mark" gewesen, die zum Maastrichter Vertrag, zu den Stabilitätskriterien, zu einem rigiden Sparkurs auch der damaligen konservativen französischen Regierung… und damit zu den Streiks geführt hätten.
Diesen Artikel nahm Rudolf Augstein, der Herausgeber des Spiegel, zum Anlass, um in einem ausgesprochen deutsch-nationalen Ton zum Thema Deutschland-Frankreich zu formulieren. Augstein schrieb: "Frankreich hat sich in dem Bestreben, Deutschland nicht zu groß werden zu lassen, ein Zwangskorsett verpasst, in das die Franzosen … sich nicht einschnüren lassen wollen … Der deutsche Riese ist nicht so groß, wie man uns immer einredet. Man muss ihn nicht einbinden, nicht fesseln … Die Bundesrepblik hat besser gewirtschaftet als Frankreich. Das ist alles… Frankreich hat einen hausgemachten Nachholbedarf, zu dessen Bewältigung man ihm nur Glück wünschen kann."13 Der Spiegel wurde spätestens seit der "deutschen Einheit" ein entscheidendes Sprachrohr für die "nationalen Stimmungen" im deutschen Bürgertum.
Nach dem Regierungswechsel 1998 vertieften sich die Missstimmigkeiten zwischen Paris und Bonn/Berlin. Die Veröffentlichung des "Schröder-Blair-Papiers" — eine neoliberale Plattform mit modernistischem Sozialtouch — wurde von der inzwischen in Paris etablierten sozialistischen Regierung unter Lionel Jospin als Affront verstanden. Nicht wegen dessen Inhalt, sondern weil sich damit ein "Sonderverhältnis Berlin—London" und ein Ende des besonderen deutsch-französischen Bündnisses artikulieren würde. Die Wirtschaftswoche wusste damals zu berichten: "Das Schröder-Blair-Papier schlug in Frankreich wie eine Bombe ein … Noch nie seit den Anfängen der deutsch-französischen Verständigung in den späten Adenauer-Jahren waren sich die Partner so fremd wie heute bei einer rot-grünen Regierung … Das französische Nachrichtenmagazin Le Point prophezeit schon das ,deutsch-französische Requiem‘ … So weit wie der französische Airbus-Manager Philippe Delmas in seinem Buch ‚Vom nächsten Krieg mit Deutschland‘ ist es zwar noch nicht…"
Sicher ist es nicht so weit. Doch allein dass es einen solchen Buchtitel aus der Feder eines französischen Top-Managers in einem Staatskonzern gibt, deutet auf die Tiefe der Differenzen zwischen Paris und Berlin hin. Im übrigen wies dasselbe Blatt darauf hin, was eine der Ursachen der wachsenden Spannungen ist: "Dass die Freunde fremdeln hat einen tieferen Grund: Die deutsche Wiedervereinigung hat die europäische Machtsymmetrie entscheidend verändert."14
Das Scheitern der Konferenz in Nizza hatte im übrigen ein einprägsames Vorspiel. Im Frühjahr und Sommer 2000 versuchte die SPD-Grünen-Regierung eine Reparatur der Achse Berlin—Paris. Außenminister Fischer unternahm dabei in einer mit viel Wirbel angekündigten Rede einen diplomatischen Spagat. Einerseits bot er Frankreich eine Intensivierung der deutsch- französischen Zusammenarbeit an; "integrationswillige EU-Staaten" sollten ein "Gravitationszentrum" schaffen. Andererseits sollte das Ziel eines solchen Kerneuropas eine Europäische Föderation sein. Das erstere dürfte im Interesse französischer bürgerlicher Politik sein. Eine solche privilegierte Kooperation wird als Codewort für weitere wirtschaftliche Unterstützung verstanden. Das zweite jedoch steht in diametralem Widerspruch zur Politik in Paris. In einer "Föderation", so die Befürchtung, würde Frankreich überstimmt, würde Deutschland dominieren — und der Niedergang französischer Macht beschleunigt.
Als daher im Juni 2000 Frankreichs Präsident Jacques Chirac im Bundestag — im Berliner Reichstagsgebäude — sprach, wurde genau dieser Differenzpunkt deutlich. Chirac ging zwar auf Fischers Rede mit keinem Wort ein. Er betonte jedoch mehrmals die "Bedeutung der Nationalstaaten in Europa". Chirac wörtlich: "In Zukunft bleiben die Nationen erster Bezugspunkt der Völker." Das meint Chirac natürlich nicht in jeder Beziehung und das würde er nicht an jedem Ort so sagen — beispielsweise nicht in Korsika oder nicht im französischen Baskenland. Es geht nicht um Ideologie — es geht um harte Ökonomie, um den Unterbau, um ökonomische Macht und um die objektive Macht des nationalen Kapitals, die wiederum treibender Faktor für den ökonomischen — und gelegentlich militärischen — Expansionismus ist.15

Anmerkungen
1. Handelsblatt, 21.4.1967.
2. Angaben nach: Ernest Mandel, Die EWG und die Konkurrenz Europa—Amerika, Frankfurt 1967, S.37.
3. Business Week, 27.12.1993.
4. "Die 800 größten westeuropäisachen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen", Wirtschaftswoche, 27.12.1991, und "Die 500 größten westeuropäischen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen", Wirtschaftswoche, 22.6.2000.
5. Ernest Mandel, a.a.O., S.38.
6. Entwurf für eine Denkschrift des Auswärtigen Amts über die Schaffung eines "Europäischen Staatenbunds", Berlin, 9.September 1943; wiedergegeben in: Reinhard Opitz, Europastrategien des deutschen Kapitals. 1900—1945, Bonn 1994, S.965.
7. Franz-Josef Strauß, Entwurf für Europa, Stuttgart 1966, S.133f. Zuvor in: Jean-Jacques Servan-Schreiber, Die amerikanische Herausforderung, Hamburg 1968, S.32.
8. Financial Times, deutsche Ausgabe, 28.11.2000.
9. BDI-Jahresbericht 1966/67, Köln 1968, S.10.
10. Nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.2.1992.
11. "Die 800 größten westeuropäisachen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen", Wirtschaftswoche, 27.12.1991, und "Die 500 größten westeuropäischen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen", Wirtschaftswoche, 22.6.2000.
12. Paul Kennedy, In Vorbereitung auf das 21.Jahrhundert, Frankfurt 1993, S.347f.
13. Rudolf Augstein, "Die Schuldigen: Wir", Der Spiegel, Nr.50, 1995.
14. Friedrich Thelen, "Neues Deutschland", Wirtschaftswoche, 2.9.1999.
15. Nach: Financial Times, deutsche Ausgabe, 28.6.2000.


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