Sozialistische Zeitung |
Einer ihrer Initiatoren, der slowenische Philosophieprofessor Slavoj Zizek, hat im Vorfeld der Konferenz einen Beitrag verfasst, den
wir im Folgenden stark gekürzt wiedergeben.
Bis vor zwei oder drei Jahrzehnten wurde die produktive Beziehung des Menschen zur Natur und
ihren Ressourcen als eine Konstante betrachtet, während Theoretiker und politisch Aktive damit beschäftigt waren, sich alternative Formen der sozialen
Organisation von Produktion und Handel vorzustellen. Heute betrachtet niemand mehr ernstlich mögliche Alternativen zum Kapitalismus, während die
populäre Vorstellung von Visionen des kommenden Zusammenbruchs der Natur, des Endes von allem Leben auf der Erde heimgesucht wird es ist
leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen, als den weitaus moderateren Wandel der Produktionsweise: als wenn der liberale Kapitalismus das Reale wäre,
der irgendwie selbst unter den Bedingungen der globalen ökologischen Katastrophe überleben würde… Diese paradoxe Tatsache sagt uns eine
Menge über den neuen "postpolitischen" ideologischen Konsens, der heute herrscht; seine grundlegende Prämissen sind die Akzeptanz des
globalen Kapitalismus als das einzige Spiel, das gespielt werden kann, und des liberal-demokratischen Systems als die endgültig gefundene optimale politische
Organisation der Gesellschaft.
Das Zwei-Parteien-System, die vorherrschende Form der Politik in unserer postpolitischen Ära,
ist die Erscheinung einer Wahl, wo es grundsätzlich keine gibt. Beide Pole konvergieren in ihrer Wirtschaftspolitik, während ihre Differenz sich letztlich
auf entgegengesetzte kulturelle Attitüden beschränkt: multikulturelle, sexuelle "Offenheit" versus traditionelle Werte. […]
Die liberal-demokratische Hegemonie wird von einer Art ungeschriebenem
"Denkverbot" gestützt: in dem Moment, in dem man zeigt, dass man an einem politischen Projekt arbeitet, das ernsthaft die bestehende Ordnung in
Frage stellt, kommt sofort die Antwort: "Es ist zwar gut gemeint, aber es wird sicher zu einem neuen Gulag führen!" Die "Rückkehr zur
Ethik" in der heutigen politischen Philosophie beutet als ultimative Abschreckung schamlos die Schrecken des Gulag oder des Holocaust aus und erpresst uns,
damit wir jedes ernsthafte radikale Engagement aufgeben. […]
Von den liberalen Renegaten ist ein solcher Rückzug zu erwarten. Symptomatischer ist, wie
auch selbsternannte "postmarxistische" Radikale bei diesem Spiel mitspielen. Sie akzeptieren den Topos der multikulturalistischen Toleranz
gegenüber dem Anderen als Brennpunkt des politischen Kampfes; sie unterstützen die Kluft zwischen Ethik und Politik, verweisen die Politik auf den
Bereich der Lehren, pragmatischer Erwägungen und Kompromisse, die immer und per Definition dem bedingungslosen ethischen Anspruch nicht entsprechen.
Die Auffassung von Politik, nach der diese nicht nur eine Reihe bloßer pragmatischer Interventionen darstellt, sondern eine Politik der Wahrheit, wird als
"totalitär" abgetan. Der Ausbruch aus dieser Sackgasse, die erneute Bekräftigung der Politik der Wahrheit heute, muss die Form einer
Rückkehr zu Lenin annehmen. Warum Lenin, warum nicht einfach Marx? Ist die richtige Rückkehr nicht die Rückkehr zu den richtigen
Ursprüngen?
"Rückkehr zu Marx" ist bereits eine akademische Mode. Welchen Marx
bekommen wir dabei? Einerseits den Marx der "Kulturstudien", den Marx der postmodernen Sophisten, des messianischen Versprechens; andererseits den
Marx, der die Dynamik der heutigen Globalisierung vorausgesehen hat und sogar von der Wall Street beschworen wird. Was diese beiden "Marx" gemein
haben, ist die Leugnung der Politik: das "postmoderne" politische Denken stellt sich klar gegen den Marxismus, es ist im Wesentlichen postmarxistisch.
Der Bezug auf Lenin befähigt uns diese beiden Fallgruben zu vermeiden. [...]
Lenins Politik ist der wahre Gegensatz nicht nur zum Pragmatismus des Dritten Wegs, sondern auch
zur marginalistischen linken Haltung, die Lacan le narcissisme de la chose perdue [den Narzissmus der verlorenen Sache] nannte. Was einem wirklichen Leninisten
und einem politischen Konservativen gemein ist, ist die Tatsache, dass sie das ablehnen, was man liberal-linke "Verantwortungslosigkeit" nennen
könnte (große Projekte von Freiheit, Solidarität usw. befürworten, aber kneifen, wenn es darum geht, den Preis dafür in der
Anwendung konkreter und oft "grausamer" Maßnahmen zu zahlen): wie ein authentischer Konservativer hat ein wahrer Leninist keine Angst zur Tat
zu schreiten, alle Konsequenzen der Verwirklichung seines politischen Projekts zu tragen, wie unangenehm sie auch sein mögen.
Kipling (den Brecht sehr bewunderte) verachtete die britischen Liberalen, die Freiheit und
Gerechtigkeit befürworteten, während sie stillschweigend auf die Konservativen setzten, für sie die notwendige schmutzige Arbeit zu erledigen;
dasselbe lässt sich von dem Verhältnis der liberalen Linken (oder "demokratischen Sozialisten") gegenüber leninistischen
Kommunisten sagen: liberale Linke lehnen den sozialdemokratischen "Kompromiss" ab, sie wollen eine wirkliche Revolution, doch sie schrecken
zurück vor dem aktuellen Preis, der dafür zu zahlen ist, und nehmen lieber die Haltung der "schönen Seele" ein und behalten subere
Hände. Im Gegensatz zu dieser falschen Position der liberalen Linken ist ein Leninist wie ein Konservativer authentisch in dem Sinne, dass er für die
Konsequenzen seiner Entscheidung vollständig einsteht, d.h. sich vollständig bewusst ist, was es bedeutet, die Macht zu übernehmen und sie
auszuüben.
Darin bestand die Größe Lenins, nachdem die Bolschewiki die Macht
übernommen hatten: im Gegensatz zu dem in einem Teufelskreis gefangenen hysterischen revolutionären Eifer derjenigen, die es vorziehen in der
Opposition zu bleiben und lieber (offen oder insgeheim) vermeiden, die Last der Verantwortung zu tragen, übernahm er in heroischer Weise die Aufgabe, den
Staat effektiv zu leiten und alle nötigen Kompromisse einzugehen, aber auch die erforderlichen harten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Macht
der Bolschewiki nicht zusammenbrechen würde.
Die Rückkehr zu Lenin ist das Bemühen, den einzigartigen Moment wieder zu erlangen,
wenn sich das Denken bereits in eine kollektive Organisation umsetzt, aber noch nicht in einer Institution (Kirche, stalinistischer Partei-Staat) erstarrt. Es geht nicht
darum, nostalgisch die "guten alten revolutionären Zeiten" wieder aufzuführen oder das alte Programm pragmatisch an "neue
Bedingungen" anzupassen, sondern unter den gegenwärtigen weltweiten Bedingungen die leninistische Geste der Initiierung eines politischen Projekts zu
wiederholen, das die Totalität der globalen liberal-kapitalistischen Weltordnung untergräbt. Diese Aufgabe sollten wir im Geist unbarmherziger (Selbst-
)Kritik ohne sekteriererische A-priori-Ausgrenzung in Angriff nehmen.
Slavoj Zizek
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04