Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.03 vom 31.01.2001, Seite 1

Frankreich

Widerstand bringt Erfolg

"Tous ensemble" — alle zusammen, wie die Forderung auf der Linken seit langem lautet — haben die französischen Gewerkschaftsverbände am 25.Januar zu einem Aktionstag aufgerufen. 400000—500000 kamen, um in Paris, Marseille, Lyon, Lille und über 50 weiteren Städten gegen den Unternehmerverband MEDEF zu demonstrieren. In Paris demonstrierten die gewerkschaftlichen Vorstände an der Spitze des Zuges, der zum Sitz von MEDEF führte.
Es ging darum, den Versuch zu vereiteln, das französische Rentensystem auszuhebeln. Ein 1982 zwischen Regierung, Gewerkschaften und Unternehmern geschlossenes Abkommen ermöglichte, durch Einzahlung in Zusatzkassen schon mit 60 Jahren in Rente zu gehen. Das Abkommen lief am 31.12.99 aus. Das ganze Jahr 2000 über wurde darüber verhandelt, wie es weiter gehen soll. Der Unternehmerverband weigerte sich, das Abkommen zu verlängern, mit dem Argument, die Jungen könnten die Leistungen für die wachsende Zahl von Rentnerinnen und Rentnern nicht erwirtschaften. Er forderte deshalb, die Rente nicht schon nach 40, sondern erst nach 45 Beitragsjahren auszuzahlen — unabhängig vom Alter.
Paradoxerweise wird diese Forderung in einer Situation erhoben, wo die Zusatzkassen Überschüsse aufweisen, die, hochgerechnet, bis zum Jahr 2020 annähernd 6 Milliarden DM betragen sollen.
Den Unternehmern wurde vorgehalten, dass sie Ältere, die Arbeit suchen, oft gar nicht erst einstellen und sogar staatliche Hilfe verlangen, um Beschäftigte über 50 in Rente schicken zu können. Dennoch blieb MEDEF stur bei seiner Forderung. Die Regierung setzte 1999 eine Arbeitsgruppe ein, die über die Zukunft der Rente beraten sollte; doch der Vorsitzende von MEDEF, Ernest-Antoine Seillière, weigerte sich, daran teilzunehmen.
Im öffentlichen Dienst reichen 37,5 Beitragsjahre, um Anspruch auf Rente zu haben. Unter dem konservativen Ministerpräsidenten Edouard Balladur wurde 1993 für die Privatindustrie die Beitragsdauer von 37 auf 40 Jahre heraufgesetzt.
Was diesmal jedoch das Fass zum Überlaufen brachte, war, dass Seillière die MEDEF- Mitglieder aufgefordert hatte, ab Anfang dieses Jahres keine Beiträge mehr an die Zusatzkassen abzuführen, aus denen die Frührenten gezahlt werden. Seillière wollte erzwingen, dass die Kassen für die Altersrenten mit den Zusatzkassen für Frührentner zusammengelegt werden und ein Rentenanspruch nicht mehr ab einer bestimmten Altersgrenze, sondern erst ab 45 Beitragsjahren gewährt wird. Sein Verband war darüber jedoch geteilter Meinung.
Die französische Regierung drohte damit, die geltende Regelung per Dekret aufrechtzuerhalten. Aber die in Frankreich zahlenmäßig schwachen Gewerkschaften, die alle zusammen nicht mehr Mitglieder zählen als die IG Metall allein, würden ihre Stellung in den paritätisch zusammengesetzten Gremien der Sozialversicherung verlieren, wenn diese "verstaatlicht" würde. Sie riefen deshalb zu einem Aktionstag auf — mit durchschlagendem Erfolg.
MEDEF musste einen Rückzieher machen. Gleich am nächsten Tag blies Seillière zum Rückzug und verkündete neue Einsichten: "Es ist schockierend, dass Tausende von Erwerbstätige, die 40 Jahre lang Beitrag gezahlt haben, nicht vor dem 60.Lebensjahr in Rente gehen können." Seillière hatte darauf gesetzt, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst gegen die in der Privatwirtschaft, die Jungen gegen die Alten ausspielen zu können und hatte geglaubt, die Demonstrationen als Werk der Ewiggestrigen — Staatsdiener und Alte — denunzieren zu können. Es erhob sich aber das gesamte Frankreich, die Demagogie lief ins Leere. Die angedrohte Verlängerung der Lebensarbeitszeit war sogar ein wesentlicher Ansporn für die hohe Beteiligung an den Demostrationen.
Der mächtige Deutsche Gewerkschaftsbund, der bereits wegen seiner blamabel schlechten Beteiligung an der Demonstration in Nizza "für ein soziales Europa" Hohn und Spott erntete, wird sein Ansehen in Europa durch seine Zustimmung zur Riesterschen Rentenreform gewiss nicht steigern. Ermöglicht diese "Reform" den Unternehmern doch künftig, weniger als die Erwerbstätigen zur Finanzierung der Alterssicherung beizutragen.
Die zehntausende von Kolleginnen und Kollegen, die vor allem in Baden-Württemberg, aber auch in zahlreichen anderen deutschen Städten ohne Unterstützung der gewerkschaftlichen Haupt- und Bezirksvorstände gegen Riesters Reform auf die Straße gegangen sind, haben so etwas wie eine Ehrenrettung der deutschen Gewerkschaftsbewegung betrieben. Diese Bewegung ist bemerkenswert: Sie fußt auf dem Engagement der Vertrauensleute in den Betrieben, dort, wo es eine eigenständige gewerkschaftliche Präsenz in den Betrieben noch gibt — hauptsächlich im Metallbereich; sie fußt auf dem Engagement der Gewerkschaftslinken, die ihre betriebliche Verankerung nicht verloren hat; und sie fußt auf den großen Konzentrationen der Belegschaften, vor allem in der baden-württembergischen Automobilindustrie. Diese Mobilisierung ist eine schallende Ohrfeige für alle jene "Linke" — auch sog. "radikale" Linke — die die Arbeiterbewegung längst für tot erklärt haben und das neue "revolutionäre Subjekt" lieber unter den prekär Beschäftigten, wenn nicht gar unter den neuen "Selbstständigen" suchen. Von diesen Schichten aber gab es keinen Widerstand gegen die Renten"reform".
Das letzte Wort ist allerdings auch in Frankreich noch nicht gesprochen. Der dortige Unternehmerverband will dasselbe wie die Unternehmer hierzulande auch: keinen Pfennig Beitrag mehr in die Rentenkassen einzahlen, gleichgültig wie hoch die Gewinne und die Produktivitätssteigerungen ausfallen. Und er will die Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung zugunsten einer privaten Altersvorsorge senken. Wenn die volle Rente erst nach längerer Lebensarbeitszeit ausgezahlt werden kann, müssen sich all diejenigen nach einer privaten Zusatzrente umsehen, die die Beitragsjahre nicht erreichen.
MEDEF setzt nun darauf, seine Ziele in Absprache mit der CFDT, die er für eine "Reformgewerkschaft" hält, doch noch zu erreichen. Die CFDT favorisiert eine Rente "à la carte", die mit einer Absenkung der gesetzlichen Rentenansprüche einhergehen würde. Eine Mitgliedschaft, die man auf die Straße geholt hat, wird ihren Vorstand aber eher beim Wort nehmen wollen. Die CFDT-Führung hatte vor der Demonstration vollmundig erklärt: "Wie werden kein Quartal, nicht einen Tag Beitragsdauer mehr hinnehmen!"

Jakob Moneta/Angela Klein

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