Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.03 vom 31.01.2001, Seite 3

ATTAC

Eine andere Welt ist möglich

"Ein neuer Internationalismus" — dieser Begriff ist seit dem Frühsommer 1999 im Spektrum der französischen sozialen Bewegungen zum Selbstläufer geworden. Damals hatten Delegationen aus 80 Ländern an einem Kongress in der Pariser Vorstadt Saint-Denis teilgenommen, der unter dem Motto "Die Diktatur der Märkte : Eine andere Welt ist möglich" stand.

Besonders stark vertreten waren südkoreanische Gewerkschafter, brasilianische Landlose und Intellektuelle, indische Aktivisten gegen die Umtriebe multinationaler Konzerne — und natürlich Abordnungen aus den anderen EU-Ländern. Hauptträger der dreitägigen Zusammenkunft war das Netzwerk ATTAC, das in den letzten Tagen und Wochen — rund um den EU-Gipfel in Nizza — erneut mit mehr oder minder spektakulären Aktionen von sich sich reden gemacht hat.
Erste Regungen einer neuen Kritik an den weltwirtschaftlichen Strukturen prägten das Jahr 1994. Damals befand sich Westeuropa, und besonders Frankreich, in der wirtschaftlichen Tiefphase, die auf die Rezession 1992/93 folgte. Die Notwendigkeit, soziale "Opfer" zu bringen, wurde allerorten mit der notwendigen "Anpassung an die internationale wirtschaftliche Realität der Globalisierung und der verschärften Konkurrenz" begründet. Zugleich blamierte sich im selben Jahr ein bisheriges "Modell" neoliberaler Stukturanpassung. Mexiko, bis dahin Musterschüler der internationalen Finanzindstitutionen wie IWF und Weltbank, tauchte zum Jahreswechsel 1994/95 tief in die so genannte "Tequila-Krise". Die spekulativ angelegten Kapitalien der Finanzmärkte verliessen das Land — u.a. nach dem Ausbruch der zapatistischen Rebellion — kurzfristig, beutelten seine Währung und tauchten Mexico in die Krise.
Le Monde diplomatique hatte sich bereits seit Jahren mit kritischen Analysen zum Funktionieren der Weltwirtschaft profiliert. Ein Leitartikel des Chefredakteurs Ignacio Ramonet unter dem Titel "Die Märkte entwaffnen" lancierte im Dezember 1997 die Idee, "auf weltweiter Ebene" eine Nichtregierungsorganisation (NGO), "eine pressure group der Bürger zu schaffen, um Druck auf die Regierungen zu machen, damit sie endlich diese internationale Solidaritätssteuer" einführen. Gemeint war die durch den US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler James Tobin Ende der 70er Jahre vorgeschlagene Steuer in Höhe von 0,1% auf internationale spekulative Kapitalflüsse.
Ramonet schlug auch sogleich einen möglichen Namen für diese zu gründende NGO vor, nämlich ATTAC — als Kürzel für "Aktion für eine Tobin-Steuer als Hilfe für die Bürger" (Action pour une taxe Tobin d‘aide aux citoyens). Die Initialien sollten, aufgrund ihrer sprachlichen Nähe zum französischen Wort attaque, zugleich den Übergriff zur "Gegenattacke" signalisieren, nach Jahren des Diskurses über die "notwendige Anpassung an die Globalisierung".
Im März 1998 fand ein erstes Treffen zwischen Journalisten der Le Monde Diplomatique, anderen Publikationen, gewerkschaftlichen Strukturen und Basisinitiativen stand. Anfang Juni 1998 folgte dann die offizielle Gründung von ATTAC Frankreich. Mittlerweile bestehen Ableger oder assoziierte Initiativen in einer Reihe von Ländern, die teilweise direkt den Namen "Attac" übernommen haben, z.B. in der Schweiz, und ansonsten eng an ihr "Modell" angelehnt sind. Dies gilt sowohl für europäische Länder (Belgien, Niederlande, Spanien, Portugal und die Schweiz, mit jüngeren Neugründungen in der BRD und in Schweden, als auch für eine Reihe aussereuropäischer Länder).
Selbst in einer fast das gesamte politische Leben erstickenden Diktatur wie Tunesien entstand eine ATTAC-Variante namens RAID (Sammlung für eine internationale Entwicklungsalternative), die jedoch zu einer der Hauptzielscheiben polizeistaatlichen Terrors geworden und im Jahr 2000 weitgehend zerschlagen worden ist.

Vier Eckpfeiler

Doch innerhalb der sich entwickelnden ATTAC-Bewegung wurde man sich alsbald darüber klar, dass die Tobin-Steuer allein keine hinreichende Antwort auf die gravierenden Ungleichheiten in der Weltwirtschaft bieten kann. Im Laufe der Monate weitete sich folglich der Daseinszweck der französischen ATTAC-Initiative erheblich aus, und binnen eines Jahres umfasste dieser nunmehr vier grosse Themenfelder. Zum einen bleibt das Engagement für die Tobin- Steuer ein Eckpfeiler des ATTAC-Engagements. Zum zweiten gewann die Frage nach vollständiger Schuldenstreichung für die ehemals kolonialisierten, und noch immer ungleichem Tausch ausgesetzten, Länder der Dritten Welt an Bedeutung.
Zum dritten Stützpfeiler der ATTAC-Bewegung wurde die Tätigkeit zwecks Überwachung der internationalen Finanzinstitutionen, und namentlich der Welthandelsorganisation (WTO), des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Innerhalb dieser Organe sind die reichsten Industrieländer tonangebend, während die Drittweltländer — aber auch zunehmend gesellschaftliche Bereiche in den Industriestaaten selbst — neoliberalen Stukturanpassungsprogrammen unterworfen werden. Viertens führt ATTAC den Kampf gegen das Vordringen der Finanzmärkte und der spekulativen Kapitalblase — dazu gehört das Engagement gegen die Einführung privater Rentenfonds, wie sie in den USA dominieren.
Insbesondere hat ATTAC sich in diesem Rahmen den Kampf gegen die "Steuerparadiese" auf die Fahnen geschrieben, die sich auch innerhalb der EU ausbreiten und wo die dem Produktionszyklus entzogenen Kapitalien geparkt werden: Monaco, Liechtenstein und Teile des britischen Territoriums. Letzteres Engagement hat die ATTAC-Initiative anlässlich des EU-Gipfels in Nizza erneut unterstrichen, als sie einen Abstecher in das nur 20 Kilometer entfernte Monaco unternehmen. An der Grenze des, mit Frankreich assoziierten, Zwergstaats hielt zwar ein martialisch ausgerüstetes französisches Polizeiaufgebot die Aktivisten vom Grenzübertritt ab. Doch direkt am Grenzstreifen errichteten die ATTAC-Aktivisten aus Pappkarton eine hohe "Mauer des schmutzigen Geldes", die sie — durch die europäischen Medien vielbeachtet — symbolisch zum Einsturz brachten.
ATTAC war zu keinem Zeitpunkt eine monolithische Organisation. Neben Einzelpersonen — ATTAC Frankreich zählt bereits über 26000 individuelle Mitgliedschaften — können auch juristische Personen ATTAC beitreten. Zu den rund tausend, die derzeit dem Netzwerk angehören, zählen namentlich die unabhängige Erwerbslosenorganisation AC!, Gewekschaftssektionen wie die CGT-Gewerkschaft der höheren Angestellten (UGICT) und die linke CFDT-Transportbranche (FGTE), mehrere der linken Basisgewerkschaften SUD, Publikationen wie Le Monde diplomatique und die Satirezeitung Charlie Hebdo, die linksalternative Bauerngewerkschaft CP und die Anti-Rassismus-Organisation MRAP.

Zwei Grundströmungen

Angesichts dieser Heterogenität verwundert es nicht, dass auch keine einheitliche politische Ausrichtung existiert, auf die das gesamte ATTAC- Netzwerk verpflichtet wäre. Prinzipiell lassen sich zwei grössere Grundströmungen wiederfinden.
Die eine, die zu Anfang — den Verlagschef der Le Monde Diplomatique, Bernard Cassen, der bei der Gründung 1998 zum ATTAC-Vorsitzenden gewählt wurde — im Vordergrund zu stehen schien, spricht sich für eine stärkere poilitische Regulierung der Weltökonomie aus. Diese könne nur durch die Nationalstaaten — eventuell in einer Union wie der EU zusammengeschlossen — erfolgen, deren Rolle gegenüber den internationalen Finanzmärkten gestärkt werden müsse. Im Hintergrund steht die Idee einer Rückkehr zu einem Klassenkompromiss, wie er im Zeitraum 1945—1975 bestand, bevor er durch die Anfänge der neokapitalistischen "Globalisierung" unterhöhlt wurde.
Auf der anderen Seite stehen eher bewegungsorientierte, internationalistische Ansätze, die nicht auf die Nationalstaaten und ihre Regierungen setzen, sondern diese tendenziell als Instrument der dominierenden ökonomischen Kräfte begreifen. Im Vordergrund steht die weltweite Verflechtung sozialer Bewegungen und Oppositionskräfte.
Auf einem internationalen Zusammentreffen unter dem Titel "Ein Jahr nach Seattle", das ATTAC zusammen mit einem dutzend Partnerinitiativen Ende November und Anfang Dezember des vergangenen Jahres im Pariser Parc de la Villette abhielt, kamen die politischen Differenzen diesmal klar zur Aussprache.
Auf dem Podium stellte der marxistische Intellektuelle Michael Löwy aus Paris gegenüber den Regulierungsbefürwortern klar, die anzustrebenden "Alternativen zum Neoliberalismus" seien in seinen Augen notwendigerweise "Alternativen zum Kapitalismus selbst". So halte er die Idee einer Rückkehr zum nationalstaatlichen Klassenkompromiss der Jahre 1945—1975 für illusionär. Im Übrigen darf man nicht vergessen, dass dieser Kompromiss in den Industrieländern "auf der Grundlage einer Serie imperialisticher Kriege beruhte, das war auch die Periode des Algerien- und Vietnamkriegs".
Die Suche nach linken Alternativen, jenseits der Forderung nach neuem Spielraum für die Nationalstaaten, beherrschte im Wesentlichen die Tagung, die rund 2000 Teilnehmer zählte. Die Mehrheit der Rednerinnen und Redner — ob die ägyptische Feministin Nawaal El Sawaadi, der Vertreter der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), Carlos de Oliveira, oder der südkoreanische Universitätsprofessor Oh Se-Chul — sie alle widmeten ihre Beiträge der Notwendigkeit eines "neuen linken Projekts".
Catherine Samary, Wirtschaftsprofessorin in Paris und Mitglied der LCR, ging ihrerseits hart mit französischen Vorrednern von PS und KP ins Gericht, darunter die Europaparlamentarierin Béatrice Marre und L‘Humanité-Chefredakteur Patrick Le Hyaric, die zuvor die EU als mögliches Regulierungsorgan der internationalen Ökonomie ausmalten und dabei verschwiegen, welche reale Rolle die EU in der Weltwirtschaft spielt.
Auch in diesen Tagen erlebt der "neue Internationalismus" grosse Momente. So vom 25. bis zum 31.Januar im brasilianischen Porto Allegre — die Grossstadt wird vom linken Flügel der PT regiert und experimentiert zurzeit mit Elementen sozialer Basisdemokratie — anlässlich des weltweiten "Sozialen Forums". ATTAC zählt zu den Mitverantstaltern, ebenso wie zu den Organisatoren der Schweizer Demo gegen das "Weltwirtschaftsforum" in Davos am 27.Januar.
Unterdessen zeigt sich in Frankreich der mächtige Unternehmerverband der Metallindustrie, die UIMM — sozialpolitisches Gehirn des Kapitalverbands MEDEF — besorgt über die Ausbreitung der "globalisierungskritischen Bewegung". In ihrer "Monatszeitschrift für wirtschaftliche und soziale Aktualität" hebt die Kapitalistenvereinigung den "radikal neuen" Charakter der Antiglobalisierungsbewegung hervor. Die Verflechtung mit dem radikaleren Teil der Gewerkschaftsbewegung, das enorme Medienecho dieser Initiativen und die "geschickte Nutzung des Internet" lassen die Metallunternehmer das Schlimmste fürchten: "Zwar spielt sich diese Bewegung ausserhalb der Betriebe ab, doch wird sie über kurz oder lang Auswirkungen auf diese zeigen — und die Unternehmen sind kaum darauf vorbereitet, ihr standzuhalten."

Bernhard Schmid

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