Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.03 vom 31.01.2001, Seite 6

Konsens

in der Rentenrevolution

Die IG Metall feiert ihren Erfolg, und DGB-Vorstandsmitglied Putzhammer lässt wissen, dass nunmehr "mit den Gewerkschaften zu tun" bekomme, wer die rot-grüne Reform noch verhindern wolle. Demgegenüber beschließt z.B. die ÖTV- Kreisdelegiertenversammlung Minden-Lübbecke (NRW) einstimmig (!) eine Rüge an ihre Bundesführung, weil die Ziele der Bundesregierung zum Umbau der Altersicherung, gegen die sich die gewerkschaftlichen Proteste richteten, "nicht verändert" worden seien.
Der ewige Streit darum, ob das Glas des Kompromisses halb leer oder halb voll ist? Mitnichten. Unverändert bricht die rot-grüne Rentenreform gleich mit drei Grundsätzen der sozialstaatlichen Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und vollzieht damit einen fundamentalen Systemwechsel in der sozialen Sicherung.
Es bleibt dabei, dass die paritätische Finanzierung des bisherigen GRV-Rentenniveaus aufgegeben wird, um die Arbeitgeber zu entlasten. Bis 2030 soll die Belastung der ArbeitnehmerInnen für ein annähernd gleiches Sicherungsniveau wie heute auf 15% steigen (11% GRV-Beitrag plus 4% Privatvorsorgeprämie), während die Arbeitgeberbeiträge bis 2010 sinken und bis 2030 auf höchstens 11% steigen. Ohne Reform müssten beide Seiten 2030 12% Beitrag zahlen.
Es bleibt dabei, dass das Prinzip der Lebensstandardsicherung — 1957 in die GRV eingeführt und nach "herrschender Meinung" bei einem Rentenniveau von etwa 70% realisiert — entfällt. Das sinkende Rentenniveau reduziert die GRV zu einer "Grundabsicherung". Wer seinen im Erwerbsleben erarbeiteten Lebensstandard im Alter annähernd halten oder dem Sozialamt entkommen will, kann dies nur noch über Privatvorsorge erreichen.
Es bleibt dabei, dass die "ordnungspolitische Zentralität" der GRV für die Alterssicherung geschleift wird. Die GRV wird nicht mehr für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung das zentrale System der Alterssicherung sein, das auch denjenigen, die kein oder nur geringes Vermögen erwerben können, einen würdigen Lebensabend sicher. Sie wird gezielt abgebaut, um eine Privatvorsorge auf den spekulativen Finanzmärkten aufzubauen, die kein Solidarprinzip kennt.

Rentenniveau "geriestert"

Was haben die Gewerkschaften erreicht? Sie behaupten, ein Rentenniveau von mindestens 67% dauerhaft gesichert zu haben (SPD-Grüne vorher: 64%). Nun sind aber beide Zahlen Ergebnis der neuen Riester‘schen Formel zur Berechnung des für die GRV maßgeblichen "Nettolohns". Da werden die freiwilligen 4% Privat-Prämie wie ein Pflichtbeitrag zur Sozialversicherung vom Bruttolohn abgezogen. Bezogen auf das so geminderte Nettoentgelt sieht die Prozentzahl des davon abgeleiteten Rentenniveaus um gut 3% besser aus. Nach dem bisherigen Berechnungsmodus planten SPD-Grüne eine Absenkung auf ca. 61% (2030), die jetzt auf ca. 64% gemildert wurde. Auch dieses Niveau liegt immer noch um gut ein Prozent unter dem, was sich bei Einführung des "Blüm-Faktors" ab 2002 für 2030 errechnen lässt.
Die weniger starke Niveaukürzung wird dadurch ermöglicht, dass der "Ausgleichsfaktor" zur gezielten Kürzung der Neurenten ab 2011 entfällt, dafür aber die Bestandsrenten stärker gekürzt werden. Die Hauptlast der Kürzungen wird nicht mehr der jüngeren Generation zugeschoben, sondern gleichmäßiger auf Alte und Junge verteilt — "Gerechtigkeit im Unrecht".
Die Gewerkschaften haben einen Bestandsschutz für bisherige Formen der betrieblichen Alterssicherung erreicht und die Gewichtung zwischen individueller und betrieblicher Privatvorsorge zugunsten betrieblicher Pensionsfonds verschoben. Damit ist die gewerkschaftliche Erfolgsstory zu Ende.
Auch die betrieblichen Pensionsfonds sind nach Gesetz allein von den ArbeitnehmerInnen zu speisen: durch den "Rechtanspruch" auf Umwandlung von bis zu 4% des Bruttoentgelts in Betriebsvorsorgebeiträge. Auch die betrieblichen Pensionsfonds finden auf den Finanzmärkten statt. Bänker freuen sich schon öffentlich auf profitable Geschäfte. Bisherige Betriebsrentenmodelle, die als freiwillige Sozialleistung vom Arbeitgeber allein oder zumindest paritätisch finanziert wurden, werden Auslaufmodelle. An die demonstrative Hoffnung der Gewerkschaften, die Finanzierungsparität noch per Tarifvertrag zu retten, mag glauben, wer will.
Die SPD-grüne Rentenreform hat zwei klare Gewinner: die Arbeitgeber und besonders die Finanzdienstleister. Zu ihren Gunsten werden der GKV in großem Stil Geldmittel vorenthalten und umverteilt.

Wiederbelebung der Altersarmut — und die ist weiblich

Trotz staatlicher Zuschüsse werden Geringverdienende oft nicht in der Lage sein, sich im erforderlichen Umfang dauerhaft privat zu versichern. Die sozialpolitischen Auswirkungen der SPD-grünen Reform treffen die Frauen am härtesten. Sie haben ohnehin die niedrigeren Erwerbseinkommen und die niedrigeren Renten. Vor allem sie werden durch die Kürzung des Rentenniveaus bei mangelnder Privatvorsorge in Altersarmut und Sozialhilfe gedrückt. In der Privatvorsorge sind Frauen wegen ihrer durchschnittlich höheren Lebenserwartung "schlechte Risiken". Sie werden höhere Beiträge zahlen müssen oder weniger Privatrente erhalten. "Solidarveranstaltungen" wie die verbesserte Anrechnung von Kindererziehungs- und Pflegezeiten sind der privaten Versicherungswirtschaft fremd. Zudem wird die Hinterbliebenrente, auf die ganz überwiegend Frauen angewiesen sind, bei Verschlechterung der Bemessungsgrundlagen um 5% auf 55% der Rente des Verstorbenen gekürzt. Die neuen Kinderzuschläge können das meist nicht kompensieren. Durch die Niveaukürzung hart getroffen sind auch Langzeiterwerbslose, seit ihre Rentenanwartschaften mit Eichels Sparpakt um rund zwei Drittel gekürzt wurden.

Privatrente unsicherer

Das Kapitaldeckungsverfahren ist keineswegs besser geeignet als das Umlageverfahren, den finanziellen "Risiken" der demografischen Entwicklung zu begegnen. Wenn zukünftig immer mehr Ältere ihre Privateinlagen zwecks Alterseinkommen auflösen, aber immer weniger Junge einzahlen, gehen die Renditen in den Keller und das Kapital wird tendenziell entwertet. Finanzierungsverfahren können nicht das ökonomische Prinzip außer Kraft setzen, dass der Konsum der Nicht-Erwerbstätigen während einer Periode stets aus der Produktion der gleichen Periode finanziert werden muss.
Zusätzlich belastet wird die Alterssicherung mit den spekulativen Risiken der Finanzmärkte. Schon jetzt gibt es verbreitete Besorgnis über eine "Spekulationsblase", deren Platzen dramatische wirtschaftliche Folgen annehmen kann. Der Aufbau der privaten Altersvorsorge — nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen EU-Staaten — wird den Finanzmärkten gigantische zusätzliche Geldmittel zufließen lassen. Die spekulativen Risiken wachsen. Kommt es zum Crash, ist die Privatrente futsch.

Shareholder-Revolution

Die paritätische Finanzierung der Sozialversicherung und ihr Solidarprinzip war Ausdruck des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsgebots und der Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Der Umstieg von der solidarischen GKV auf kapitalgedeckte Privatvorsorge markiert einen fundamentalen Systemwechsel weg vom Sozialstaat. Die staatlichen Zuschüsse für die Privatvorsorge von Einkommensschwächeren sind weniger eine "soziale Leistung" als eine Förderung der Finanzwirtschaft aus Steuergroschen der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Die radikalen Neoliberalen setzen darauf, dass die Privatvorsorge auf Grund eines radikalisierten Äquivalenzdenkens und individueller Kosten-Nutzen-Kalküle der Versicherten aus der "neuen Arbeitnehmermitte" den damit eröffneten Systemwettbewerb zu Lasten des Solidarsystems gewinnen wird. In den USA waren es die riesigen, renditesuchenden Vermögen der betrieblichen Pensionsfonds, die in den 80er Jahren den hochspekulativen junk bonds zum Durchbruch verhalfen und das neue Regime der Finanzmärkte etablierten. Auch die Strategen der Neuen Mitte setzen auf die Ellenbogenmentalität: Sie glauben, dass mittel- bis gutverdienende Beschäftigte in gesicherten Arbeitsverhältnissen — die "neue Arbeitnehmermitte" — den Systemwechsel honorieren, weil sie damit ihre individuelle Alterseinkommensposition verbessern können.
Erwünschte Nebenwirkung: Das Interesse der (betrieblich oder individuell) Privatversicherten richtet sich auf die Prosperität der spekulativen Finanzmärkte. Die honorieren bekanntlich die shareholder-value-Strategien gewinnsteigernder Arbeitsplatzvernichtung und Großfusionen. Das Interesse des Arbeitnehmers im Betrieb gerät in Gegensatz zu seinem Interesse als Privatversichertem.
Die Neue-Mitte-geführte EU orientiert bereits auf ein System privater, kapitalgedeckter "Zusatz"-Krankenversicherungen, und auch in Deutschland haben die Diskussionen um einen Umbau der Kranken- und Pflegeversicherung nach dem Muster der Rentenreform längst begonnen.

Soziale Alternativen sind machbar!

Noch wichtiger als detaillierte Kritik ist indes, die Machbarkeit sozialstaatlicher Alternativen hervorzuheben, um die lähmende Suggestion von SPD- Grün, es gebe "keine Alternative", zu durchbrechen. Das reale Problem der GRV ist unverändert die Massenerwerbslosigkeit. Bis eine Neue Vollbeschäftigung erreicht wird, mit der die Finanzbasis der Sozialversicherung wieder selbsttragend wird, muss sie auf der Einnahmeseite unterstützt werden. Hierzu gibt es aus der Oppositionszeit von SPD-Grün zahlreiche meist langjährig diskutierte Vorschläge, die alle auf die Revitalisierung des Verfassungsgrundsatzes von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums hinauslaufen: ergänzende Wertschöpfungsabgabe der Arbeitgeber; Kompensation der vereinigungsbedingten GRV-Sonderbelastungen durch eine Abgabe auf Großvermögen; Ausweitung der Versicherungspflicht auf alle Erwerbstätigen, Beitragspflicht für Vermögenseinkommen und Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze — bei Begrenzung der zusätzlich erzielbaren (Höchst-)Renten. Die Einnahmeverbesserungen können auch Reformen finanzierbar machen: um die Lebensstandardsicherung nicht nur beim fiktiven "Standardrenter" zu erreichen, um "unstete" Erwerbsverläufe besser abzusichern und eine eigenständige Alterssicherung für Frauen zu schaffen.

Daniel Kreutz

Daniel Kreutz war Sozialpolitiker der Grünen in NRW.



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