Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.03 vom 31.01.2001, Seite 15

Daniel Singer

September 1926 - 2.Dezember 2000

Am 2.Dezember 2000 starb Daniel Singer, sozialistischer Aktivist, Journalist und Autor zahlreicher Bücher wie France in May 1968 (1970) und zuletzt Whose Millennium? Theirs or Ours? (Monthly Review Press, 1999) (siehe SoZ 1/00, S.16). Geboren in Warschau im September 1926 wurde Singer ein radikaler Sozialist in der Tradition Rosa Luxemburgs und ein leidenschaftlicher Internationalist. Aus der Zerstörung Europas im Zweiten Weltkrieg und der Vernichtung der jüdischen Gemeinschaft in Polen zog er die Schlussfolgerung, dass die Alternative "Sozialismus oder Barbarei" Realität geworden war. Bei den folgenden Texten handelt es sich um zwei Botschaften, die für eine zu Ehren Singers veranstaltete Gedenkfeier verfasst wurden.

Bis zum Schluss blieb Daniel Singer trotz der Verheerungen durch "Neue Philosophen" und der von "humanitären Kriegstreibern" hervorgerufenen Zerstörungen ein klarsichtiger Repräsentant von Sozialismus und Internationalismus. Ihm war ein gründliches und inspirierendes Verständnis der Menschheit eigen. Seine intellektuellen Anstrengungen waren der Sache der Unterdrückten, die keine Stimme haben, gewidmet — in den Spalten der New Yorker liberalen Wochenzeitung The Nation ebenso wie in seinen Essays für die linke Zeitschrift Monthly Review.
Er war ein hervorragender Journalist, und seine spezielle Gabe bestand in der Kunst sich, ohne sich jemals zu wiederholen, klar und deutlich zu äußern, was vielleicht die Tatsache erklärt, dass er, obwohl in Paris lebend, keine regelmäßige Kolumne in der französischen Presse hatte. Daniel gehörte zu den Intellektuellen, deren Produktion in den offiziellen Kreisen mit Vorurteilen betrachtet wird. Es waren profane Texte, die sich, ohne je nihilistisch zu werden, weigerten den herrschenden Werten Reverenz zu erweisen.
Ich traf Daniel zum ersten Mal im Haus seiner Mutter, Esther Singer. Als junges Mädchen hatte sie Rosa Luxemburg gehört und den noch jungen Isaac Deutscher Zugang zu den Marx-Bändern auf ihrem Bücherregal verschafft. Daniel‘s Vater war einer der prominentesten Journalisten Warschaus in der Zwischenkriegszeit und schrieb brillante Essays für die größte Tageszeitung der Stadt. Den bedeutendsten politischen Einfluss übte Isaac Deutscher auf ihn aus.
Esther hatte mich in den späten 60er Jahren mit Daniel bekannt gemacht, und wir wurden sofort Genossen, trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheit. Wir werden alle seinen Optimismus vermissen, seine Weigerung, Kompromisse zu machen, und eine Beharrlichkeit, die vollständig frei von Dogmen war.
Ich glaube, er hätte folgende Worte Lessings gemocht: "Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur lass mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. Lass mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten zurückzugehen! Es ist nicht wahr, dass die kürzeste Linie immer die gerade ist." [G.E.Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780), §91.]

Tariq Ali


Daniel Singer war ein Leuchtfeuer für uns amerikanische Linke, die glauben, dass die Kämpfe für die menschliche Freiheit — im großen wie im kleinen Rahmen — unteilbar sind. Von den Ereignissen im Mai/Juni 1968 in Frankreich über die großartige polnische Erhebung von 1980, die Solidarnosc hervorbrachte, die größte Gewerkschaft der Geschichte, bis zum vergangenen turbulenten Jahrzehnt, war Daniel ein Chronist der besten Art — leidenschaftlich, engagiert, parteilich, doch aufgeschlossen, immer optimistisch, doch kritisch, und niemals in irgendeiner Weise sektiererisch.
Daniel verstand, dass der Sozialismus "nicht gescheitert ist, denn er ist nie versucht worden", wie er es auszudrücken pflegte; doch erkannte er die vielen Wege, in denen der Sozialismus als Bewegung versäumt hatte, sein Potenzial zu erreichen. Er begriff sowohl das instinktive Streben zum Sozialismus, das jeder wirklichen Bewegung der Arbeiterklasse innewohnt — besonders in seiner geliebten Analogie der polnischen Arbeiterklasse mit Molières Gestalt, "die Prosa sprach, ohne es zu wissen" —, aber auch, dass dieses Streben nicht erfolgreich sein kann, wenn es nicht bewusst wird und selbstständig geäußert wird.
Die wunderbaren Bücher und Artikel, die uns Daniel hinterlassen hat, werden ihren Beitrag zur Erneuerung der sozialistischen Bewegung leisten. Doch für diejenigen von uns, die das Glück hatten, ihn persönlich gekannt zu haben, sind diese Werke nur ein Teil seines Vermächtnisses. Wir werden Daniel sehr vermissen — als Freund wie als Genossen.

David Finkel

Aus: Against the Current (Detroit), Nr.90, Januar/Februar 2001.

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04


zum Anfang