Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.03 vom 31.01.2001, Seite 16

Die Müllmenschen von Manila

Maria Naga kam vor mehr als fünfzig Jahren aus der Provinz Masbate nach Manila. Damals war sie gerade acht Jahre alt. Auf den Kokos-Plantagen ihrer Heimatinsel hatte es einfach keine Arbeit mehr für ihre Familie gegeben. In Manila half sie zunächst ihrer Mutter, Wäsche für andere Leute zu waschen. "Aber schon bald waren wir gezwungen, Müll zu sammeln, um zu überleben", berichtet die 60-Jährige. Denn das Geld reichte nicht aus, um die Familie durchzubringen. Seitdem ist sie Müllsammlerin. In den 70er Jahren zog sie mit ihrem Mann auf den Smokey Mountain, den Müllberg im Hafen von Manila. Ihr Mann starb bald darauf an einem Schlaganfall, und sie blieb mit ihren drei Kindern alleine, die fortan auch als Müllsammler arbeiten mussten.
"Morgens, wenn die Lkw die Abfälle der Stadt auf dem Berg abluden, begannen wir, mit Stangen darin herumzustochern, um nach allem zu suchen, was noch verwertbar schien", erzählt Maria Naga. "Wir sammelten leere Flaschen, Papier, Pappe, Plastiktüten und Metallteile und jeden Nachmittag versuchten wir, das zu verkaufen, was wir morgens gefunden hatten." Im Schnitt brachte das täglich zwischen 50 und 65 Pesos ein.
Mit dem kargen Tageslohn, umgerechnet nicht mehr als zwei bis drei Mark, hat Maria Naga ihre drei Kinder großgezogen. Als Behausung diente der Familie ein Verschlag aus Pappe und Wellblech an einem Abhang des Smokey Mountain, wo mit den Jahren eine ausufernde Slumsiedlung für mehr als 20000 Menschen entstanden war. Wie Maria Naga so stammen die meisten der "Müllmenschen von Manila" aus der philippinischen Provinz. Sie kamen in die Hauptstadt, um dem Elend auf dem Land zu entgehen, aber die meisten landeten in den ausufernden Slumvierteln der Zehn-Millionen-Metropole oder: auf dem Müll.

Wahrzeichen der Stadt

Der Smokey Mountain, 1954 erstmals als Müllhalde für das Hafenviertel Manilas genutzt, dehnte sich im Laufe der Zeit auf mehr als zwanzig Hektar aus und wuchs auf fast 40 Meter Höhe an. An der berühmten Manila-Bay gelegen und von jedem einlaufenden Schiff unübersehbar, wurde der Smokey Mountain in den achtziger Jahren zu einem unrühmlichen und international bekannten Wahrzeichen der Stadt.
Nach dem Sturz der Marcos-Diktatur im Jahre 1986 gab es unter der neuen Präsidentin, Corazon Aquino, erste Überlegungen, den Müllberg zu sanieren und die dort lebenden Menschen umzusiedeln. Doch erst ihr Nachfolger im Präsidentenamt, der ehemalige General Fidel Ramos, fasste 1992 einen konkreten Beschluss und kündete ein — Zitat — "international beispielhaftes" Vorhaben an: Das "Smokey Mountain Development and Reclamation Project". Es sollte den den Familien, die auf dem Müllberg leben, "angemessene Wohnungen und Arbeitsplätze liefern und sobald der Müllberg abgetragen ist, wird dort ein umweltfreundliches Viertel entstehen".
Dies alles sollte verwirklicht werden, ohne die Regierung auch nur einen einzigen Peso zu kosten. Der Bauunternehmer Ricardo Reyes erhielt den Auftrag, das Geländes zu sanieren und dort 30 mehrstöckige Wohnblocks für die Müllsammler zu bauen. Dafür durfte er unmittelbar vor dem Smokey Mountain Erde in der Bucht von Manila aufschütten und das so neu gewonnene, kostbare Land inmitten der Stadt gewinnbringend verkaufen. Dort sollten moderne Hafenanlagen, Industriegebiete und Einkaufszentren und damit bis zu 100000 neue Arbeitsplätze entstehen.
Bauherr Ricardo Reyes versprach, das ambitionierte Milliarden-Projekt in nur zwei Jahren umzusetzen. Bis dahin sollten die ehemaligen Bewohner des Müllberges in Übergangshäusern an der Radial Road 10 unterkommen, in einfachen Fertigbauten nur 500 Meter vom Smokey Mountain entfernt.
Das klang vielversprechend und brachte der philippinischen Regierung lobende Pressekommentare ein. Nur die Betroffenen, die Müllsammler vom Smokey Mountain, waren von Anfang an skeptisch. Viele von ihnen fürchteten, mit dem Müllberg auch ihre Existenzgrundlage zu verlieren. Sie glaubten nicht an die versprochenen Arbeitsplätze in den neuen Hafenanlagen und fürchteten, die Mieten in den von Ricardo Reyes geplanten vier- bis fünfstöckigen Neubauten nicht aufbringen zu können. Bei Demonstrationen forderten sie deshalb, das Gelände nach ihren eigenen Vorstellungen umgestalten zu können.
Doch den damals amtierenden Präsidenten Fidel Ramos, der schon unter Diktator Ferdinand Marcos die gefürchteten Foltereinheiten der Philippine Constabulary befehligt hatte, kümmerte dies wenig. Im Sommer 1995 drangen schwer bewaffnete Einsatzkommandos in die Slumsiedlung des Smokey Mountain ein, um die Hütten zu räumen und niederzureißen.

Kampf gegen die Armen

"Als sie zu meinem Haus kamen, habe ich mich mit Exkrementen eingerieben und auch dem ersten Polizisten eine Handvoll davon ins Gesicht geschleudert. Dann ging ich mit ausgebreiteten Armen auf sie zu", berichtet Maria Naga. Die Endringlinge hätten geschrieen: "Komm bloß nicht näher!" "Sie ekelten sich vor dem Gestank und sie haben mich nicht einmal verhaftet, wie sie es mit vielen anderen getan haben", erzählt die Müllsammlerin, "dabei haben wir nur mit Steinen und Scheiße versucht, unsere Häuser zu verteidigen". Die Polizei setzte andere Waffen ein: Tränengas und Gewehre. Und so gab es einen Toten und viele Verletzte.
Nach der gewaltsamen Räumung wurde der Müllberg durch Zäune abgeriegelt und seitdem wird das Gelände von bewaffneten Sicherheitskräften bewacht. Ende 1995 begannen Arbeiter damit, die 2 Millionen m3 Abfall, aus denen der Smokey Mountain bestand, abzutragen. Erdmassen zur Aufschüttung des Neulandes in der Hafenbucht wurden herangekarrt, und bald darauf wurde auch der Grundstein für die geplanten Neubaublocks gelegt. Bis 1998 entstanden auf einem planierten Teil der ehemaligen Müllkippe Rohbauten von einigen vier- bis fünfstöckigen Wohnblocks. Doch dann stockte das gesamte Projekt. Dabei trat 1998 mit Joseph Ejercito Estrada ein neuer Präsident an die Stelle von Fidel Ramos, der sich ausdrücklich für das Projekt ausgesprochen hatte.
Estrada verdankte seinen erdrutschartigen Wahlsieg zum einen seiner Popularität als Schauspieler in zahlreichen philippinischen Action-Filmen. Zum anderen versprach Estrada, die Macht der 50 reichen Familien, die bis dahin die philippinische Politik bestimmt hatten, zu brechen, Korruption und Misswirtschaft zu bekämpfen und täglich 1000 neue Häuser für die Ärmsten der Armen zu bauen. Deshalb gaben ihm auch die meisten Müllmenschen von Manila ihre Stimmen.
"Präsident Joseph Ejercito Estrada hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Smokey Mountain Projekt voranzutreiben und fertig zu stellen. An diesem Projekt wird sich sein Engagement zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen erweisen", hieß es noch nach seinem Amtsantritt in einer Regierungserklärung.
Doch sollten die Arbeiten auf der ehemaligen Müllhalde danach weitere zwei Jahre lang ruhen. Auch im Frühjahr 2000 war lediglich die Hälfte des Müllberges abgetragen, noch immer stand nur ein Teil der geplanten Wohnblocks im Rohbau und keiner davon war bezugsfertig. Die große Mehrheit der Müllsammler, 2500 Familien und damit 15000 Menschen, wartete weiterhin vergeblich in den völlig überfüllten Übergangshäusern an der Hafenstraße auf die Fortführung und Fertigstellung des Projekts. "Sie haben wohl den größten Teil des Geldes, der für das Projekt bestimmt war, in ihre eigenen Taschen gesteckt", vermuten einige.
Robert Aventajado, von Präsident Estrada ernannter Minister für Sonderaufgaben und zuständig für das Smokey-Mountain Projekt, weist diesen Vorwurf empört zurück. Aventajado residiert in Manilas Bankenzentrum Makati, im 26.Stock eines mit Marmor und Glas kostspielig ausgestatteten Hochhauses. Hier führt der füllige Geschäftsmann im maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug sein Unternehmen Asia-Pacific Planing and Evaluation und seine Regierungsgeschäfte.
"Präsident Estrada hat nach seiner Wahl eine sorgfältige Überprüfung des aller Projekt-Verträge angeordnet. Diese haben wir gerade abgeschlossen. Und bei den Neuverhandlungen haben wir auch dafür gesorgt, dass die Regierung einen Anteil der Gewinne vom Verkauf des neugewonnenen Hafengeländes erhält", so Aventajado im März zum Stand des seit Jahren ruhenden Smokey Mountain-Projekts.

Regierung sahnt ab

Tatsächlich galt das Augenmerk der philippinischen Regierung und des von ihr beauftragten Unternehmens "RII Builders" wohl von Anfang an weniger der Wohnungsnot der Müllsammler als den Milliarden-Gewinnen, die mit dem Verkauf des neugewonnenen Landes in der Manila-Bay zu erzielen waren. Nach Regierungsunterlagen beträgt der Wert dieser kostbaren Immobilie 18 Milliarden Pesos, das sind mehr als 600 Millionen DM. Bis zum Frühjahr 2000 war fast die Hälfte des Grundstücks verkauft.
Zur Fertigstellung der Wohnungen für die Müllsammler reichten die dabei erzielten Gewinne dem Unternehmer Ricardo Reyes offensichtlich trotzdem noch nicht. Immerhin machte Estradas Minister für Sonderaufgaben Aventajado noch im März 2000 den ehemaligen Bewohnern des Smokey Mountain ein weiteres, sehr konkretes Versprechen: Innerhalb von zwei Wochen sollte der Bau an den Wohnungen wieder aufgenommen werden und die ersten Bewohner sollten in spätestens sechs bis acht Monaten dort einziehen können.
Im November 2000 war diese Acht-Monate-Frist verstrichen. Aber weder wurden die Wohnblocks in der Zwischenzeit fertiggebaut, noch hatte Estrada das Projektgebiet besucht. Tatsächlich hatten Aventajado und sein Präsident im Sommer 2000 anderes zu tun, als sich um das Elend der Müllmenschen zu kümmern.
Als Minister für Sonderaufgaben war Aventajado auserkoren, mit den Kidnappern der Geiseln auf der südphilippinischen Insel Jolo zu verhandeln, und nach Berichten der philippinischen Presse soll er dabei einige Millionen Dollar Lösegelder selbst eingestrichen haben. Der philippinische Präsident Estrada soll derweil nicht nur Aktienmanipulationen und Steuerhinterziehungen seiner reichen Freunde und Wahlkampfhelfer gedeckt, sondern auch Bestechungsgelder in Höhe von 20 Millionen Mark von Betreibern illegaler Spielsalons angenommen und weitere Millionen von der staatlichen Tabaksteuer auf seine persönlichen Konten umgeleitet haben.
Gründe genug jedenfalls für den philippinischen Kongress, am 13.November ein Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten einzuleiten. Ein Novum in der Geschichte des Landes, das im Januar 2001 letztlich zur Entmachtung des korrupten Herrschers führte. Denn nicht nur bei der Oberschicht und den Militärs, sondern auch bei den Armen hatte Estrada jeglichen Kredit verspielt.
So landeten viele der verprellten, ehemaligen Müllsammler des Smokey Mountain während seiner Amtszeit dort, wo auch die Abfälle der philippinischen Hauptstadt seit der Schließung des berühmt-berüchtigten Müllberges hingekarrt wurden: in Payatas. Die Fahrt zu den neuen Müllkippen Manilas im Stadtbezirk Quezon City führt unweigerlich vorbei am Sitz des philippinischen Sozialministeriums und an dem pompösen Monumentalbau des philippinischen Kongresses. Nur etwa einen Kilometer Luftlinie von hier entfernt türmen sich in einem ehemals grünen Tal mehrere gigantische Berge von Abfällen auf, von denen jeder alleine größer und höher ist als es der Smokey Mountain jemals war.
Alle Zufahrtswege nach Payatas sind gesäumt von Müll und von einfach gezimmerten Lagerhallen, in denen tausende Menschen Abfälle sortieren. Ständig rattern die schweren Laster der Müllabfuhr über die holprigen Straßen hinunter, mehr als 30 je Stunde, mehr als 300 je Tag. 60000 Menschen leben und arbeiten in dem Müll-Inferno von Payatas. Das sind fast dreimal so viele wie ehemals auf dem Smokey Mountain.

Ein Grab für Estrada

Luz Golondrina, eine junge Frau mit einem kranken Kind im Tragetuch, ist eine von denen, die von dort nach Payatas kamen. "Wir gehörten nicht zu denen, die um den Smokey Mountain gekämpft haben, als die Räumungskommandos anrückten. Wir hatten Angst, sind aus dem Viertel geflohen und haben zu Gott gebetet, dass er uns helfen möge, einen anderen Platz zu finden, wo wir überleben könnten", erzählt sie. In Payatas teilen sie sich mit einer anderen Familie eine Hütte, die kaum drei mal einen Meter groß ist, und der Boden aus Abfällen ist nur notdürftig mit Kartonpappe ausgelegt, auf denen sie schlafen.
Während Luz Golondrina im Frühsommer 2000 am Rande des Müllberges erzählt, dass sie sich nicht einmal Medizin für ihre kranke Tochter leisten kann, ertönt plötzlich von oben ein dumpfer Knall, so wie von einer schweren Explosion. Sekunden später steigen riesige gelb-schwarze Rauchwolken auf und ein ganzer Abhang des Müllberges steht lichterloh in Flammen. Wie durch ein Wunder kommt bei diesem Brand niemand zu Schaden, obwohl Hunderte Menschen auf dem brennenden Berg gearbeitet haben. Doch in der Hölle von Payatas sind Wunder selten, und so kommt es nur drei Monate später zur Katastrophe.
Nach taifunartigen Regengüssen stürzt am 10.Juli 2000 einer der riesigen Abfallberge ins Tal hinunter und begräbt Hütten und Menschen unter einer Lawine von Müll. Mehr als 220 Tote werden in den Tagen danach aus den Abfällen geborgen. Die Leichen von mindestens 70 weiteren liegen auch zu Beginn des Jahres 2001 noch in einem stinkenden Grab aus Müll.
Auch die Müllhalden von Payatas, so hatte der philippinische Präsident Estrada nach seiner Wahl 1998 versprochen, sollten schnellstmöglich geschlossen werden. Doch geschehen ist danach zwei Jahre lang nichts. Denn viel zu viele einflussreiche Politiker verdienen gut an dem Geschäft mit dem Müll.
So müssen die Müllsammler zum Beispiel bei der Stadtverwaltung des Bezirks Quezon City erst eine Genehmigung einholen, bevor sie in Payatas nach wiederverwertbaren Abfällen suchen dürfen. Kostenpunkt: 50 Pesos — ein ganzer Tageslohn. Dem Sohn des dortigen Bürgermeisters, Mel Mathay, gehören die meisten der Mülllaster und er verdient an jeder Ladung Abfall, die nach Payatas geschafft wird. So bedurfte es schon einer Katastrophe mit mehreren hundert Toten, um die philippinische Regierung endlich dazu zu bewegen, die lebensgefährlichen Müllhalden von Payatas zumindest kurzzeitig zu schließen.
In mehreren Protestzügen forderten die Müllmenschen seitdem Ersatz für ihre verschütteten Unterkünfte und für ihre verlorene Arbeit. Und weil auch diese verzweifelten Forderungen ungehört verhallten, nutzten sie den 1.November, Allerheiligen, zu einer symbolischen Protestaktion. An diesem Gedenktag für die Verstorbenen begruben sie Puppen des Präsidenten Estrada, des Bürgermeisters von Quezon City und anderer philippinischer Politiker dort, wo noch immer dutzende Leichen ihrer Angehörigen verschüttet sind: im Müll von Payatas.
Die für die Katastrophe und das Elend der Müllmenschen verantwortlichen Politiker beeindruckte das wenig: weil es angeblich keine Alternative zur Beseitigung des Mülls in Manila gebe, und weil sie mit dem Müllgeschäft gutes Geld verdienen, verfügten sie nur eine Woche später, die Halden in Patayas wieder zu öffnen.

Karl Rössel (Rheinisches JournalistInnenbüro)

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