Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.04 vom 14.02.2001, Seite 11

Entschädigung wider Willen

Über den Umgang mit ZwangsarbeiterInnen in Deutschland

Der von Ulrike Winkler herausgegebene Sammelband Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte* beschäftigt sich mit der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus sowie mit der Entschädigungsdebatte der letzten Jahre. Der erste Teil, schreibt die Herausgeberin im Vorwort, soll über den Umfang, den wirtschaftlichen Nutzen und die Nutznießer der Zwangsarbeit informieren. Zudem, so Winkler weiter, sollen einzelne Branchen und die Rolle staatlicher und kommunaler Einrichtungen untersucht werden.
Exemplarisch werden die deutsche Kriegswirtschaft, die Kommunen, die Landwirtschaft und die Zwangsarbeit in Haushalten herausgegriffen. Auch die Rolle von der Arbeitsverwaltung und dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamts, das für die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen zuständig war, kommt nicht zu kurz. Es entsteht das Bild eines umfassenden Systems, das von staatlicher Seite bis in das kleinste Detail geplant war.
Die von den meisten Firmen in der Entschädigungsdebatte vorgebrachte Behauptung, sie hätten ZwangsarbeiterInnen zugewiesen bekommen und sich nicht dagegen wehren können, wird ad absurdum geführt: Firmen haben in der Regel bei staatlichen Stellen nach ZwangsarbeiterInnen nachgefragt. In seinem Aufsatz "Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft (unter besonderer Berücksichtigung der Rüstungsindustrie)" schreibt Dietrich Eichholtz, dass die Ruhrkonzerne bereits im Mai 1939 nach "Leute[n] aus der Tschechoslowakei" verlangt hätten.
Weiter schreibt er: "Kaum hatte der Krieg begonnen, so wurden aus der Industrie Forderungen nach polnischen Zwangsarbeitern erhoben. Am 12.September versandte die Fachgruppe Metallerzbergbau ein Rundschreiben, in dem sie die Betriebe aufforderte, ihren Bedarf an polnischen Kriegsgefangenen anzumelden … Andere Betriebe drängten die Arbeitsämter, ihnen zivile polnische Arbeitskräfte zu vermitteln."
Auch Städte hätten regelmäßig ZwangsarbeiterInnen angefordert, betont Karola Fings in dem Aufsatz "Kommunen und Zwangsarbeit". "Gerade die Städte, die direkt mit Luftangriffen konfrontiert waren, entwickelten rege Initiativen, um an Kriegsgefangenenkontingente zu gelangen."
Eichholtz betont, dass es sich bei der Zwangsarbeit um ein die ganze Wirtschaft umfassendes Phänomen gehandelt habe: "Erst das Scheitern der Wehrmacht vor Moskau und die Krise der Kriegswirtschaft, die sehr wesentlich eine Krise des ‚Arbeitseinsatzes‘ war, brachte die Wende zum Masseneinsatz ziviler und kriegsgefangener sowjetischer Zwangsarbeiter und zugleich die Ausdehnung der Massenzwangsarbeit auf die ganze deutsche Industrie."
Die öffentliche Debatte über die Entschädigung von ZwangsarbeiterInnen, um die es im zweiten Teil des Buches geht, drehte sich hauptsächlich um die zu bezahlende Summe und darum, welche Firmen und Institutionen dazu bereit waren. Die Gründe für eine Entschädigung traten hingegen in den Hintergrund. Zentrales Motiv war, dass die Firmen Rechtssicherheit in den USA erhalten. Zugleich sollte ein Schlussstrich gezogen werden.
Der Chefunterhändler der deutschen Delegation, Otto Graf Lambsdorff, brachte diese Zielsetzung in der ersten Lesung über das Gesetz zur Einrichtung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" im Bundestag auf den Punkt: "Die deutsche Wirtschaft erhält auf der Grundlage der Stiftung die für ihre Aktivitäten in den USA erforderliche Rechtssicherheit. Diese Rechtssicherheit berührt unmittelbar deutsche Exporte und Investitionen in Amerika. Damit werden auch Arbeitsplätze in Deutschland gesichert. Sie schützt schließlich auch die von den Sammelklagen gefährdeten deutsch-amerikanischen Beziehungen." So wird Lambsdorff von der PDS-Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke und Rüdiger Lötzer in ihrem Beitrag "Geblieben ist der Skandal — ein Gesetz zum Schutz der deutschen Wirtschaft" zitiert.
Jelpke und Lötzer beschreiben den Gang der Verhandlungen und die Position der an den Verhandlungen beteiligten Parteien. Zu Beginn waren weder die Wirtschaft noch die Bundesregierung zu Zahlungen bereit. Erst nach einer von verschiedenen Organisationen in den USA initiierten Anzeigenkampagne änderten sie ihre Haltung und boten zuerst 6 Milliarden Mark, dann 8 Milliarden und zuletzt 10 Milliarden an. Ausschließlich wirtschaftlicher Druck auf deutsche Firmen, unter anderem DaimlerChrysler und Bayer, war also für die Zahlungsbereitschaft ausschlaggebend.
Dass die Summe von 10 Milliarden Mark — 5 Milliarden sollen von der Bundesregierung beigetragen werden, 5 Milliarden von der Wirtschaft — nur ein Bruchteil der eigentlich zu zahlenden Summe ist, betont Thomas Kuczynski in dem Aufsatz "Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im ‚Dritten Reich‘". In einem Gutachten hat Kuczynski 180 Milliarden Mark als eigentlich zu zahlende Entschädigung errechnet. Eine Summe, die von Lambsdorff als unseriös bezeichnet wurde.
Kuczynski merkt an, dass weder vonseiten der Delegation noch von der Wirtschaft eine Zahl in den Raum gestellt worden sei: "Sie werden sich auch hüten, dazu etwas zu sagen, denn ihre Taktik ist auf ein einziges Zahlungsziel ausgerichtet: Es wird so wenig wie möglich bezahlt — am besten gar nichts." Auch Kuczynski stellt fest, dass die eigentlichen Gründe für die Bereitwilligkeit zu zahlen nichts mit der Floskel der "moralischen Geste" zu tun hätten, "eine Floskel, die übrigens hervorragend geeignet ist, das eigentliche, nämlich das deutsche Exportinteresse zu bemänteln".
Den Abschluss des Sammelbands bildet der Beitrag "Ressentiment und Rancune: Antisemitische Stereotype in der Entschädigungsdebatte" von der gruppe 3 frankfurt a.m.. Der hauptsächlich in der Presse benutzte Gegensatz zwischen "sie" und "wir" diene dazu, "sie", d.h. die ÄnwältInnen der ZwangsarbeiterInnen, mit antisemitischen Stereotypen zu belegen. In der Frage der Honorare für die AnwältInnen werde bspw. bewusst das Stereotyp "geldgierig" und "jüdisch" angebracht.
Die AutorInnen kommen zu folgendem Ergebnis: "Versucht man durch eine Untersuchung der Zuschreibungen von Eigenschaften, welche den ‚jüdischen Anwalt‘ ausmachen sollen, das geformte Bild wieder zu fragmentarisieren, so erhält man wesentliche Figuren eines jahrhundertealten Antisemitismus." Und: "Es zeigt sich, dass der antisemitische Diskurs keine Angelegenheit von Altnazis und deutschnationalen Zirkularen ist. Er wird von Positionen der Macht aus vorangetrieben und von der Bevölkerung mitgetragen."

Volker Elste

*Ulrike Winkler (Hg.), Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte, Köln (PapyRossa) 2000, 29,80 Mark.

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