Sozialistische Zeitung |
Dass der internationale Kampf gegen den globalisierten Kapitalismus, gegen das "Global Empire" wie es jüngst
Antonio Negri und Michael Hardt ausgedrückt haben, seit einiger Zeit wieder in Fahrt kommt, davon legen die entsprechenden Demonstrationen von Seattle bis
Davos Zeugnis ab. Dass diese Bewegungen zwar machtvoll agieren, es ihnen jedoch an übergreifenden politischen Forderungen und entsprechender
theoretischer Fundierung mangelt, auch das wird zunehmend thematisiert. Weniger zur Kenntnis genommen wird dagegen in Deutschland, dass es bereits eine
umfangreiche internationale Diskussion über politische Theorien und Strategien gibt, die sich nicht in der Diskussion zu den Interventionen Pierre Bourdieus
erschöpft. Exemplarisch zu nennen sind hier die Jahrbücher des Socialist Register, Kim Moodys Workers in a Lean World, Boris Kagarlitzkis
dreibändiges Werk Recasting Marxism sowie zuletzt das besagte Buch von Hardt/Negri, Empire.
Es war deswegen ein besonderes Ereignis, als sich vom 2. bis 4.Februar etwa ein dutzend namhafter
internationaler Marxisten ausgerechnet in Essen trafen, um die theoretische und politische Aktualität Lenins zu diskutieren. Der Initiator der Konferenz, der
slowenische Psychoanalytiker und Philosoph Slavoj Zizek, hatte sich zwar auch um deutsche ReferentInnen bemüht, doch ohne Erfolg.
Dass Themen der politischen Theorie eine traditionelle Leerstelle im deutschen Marxismus
markieren, mag dazu beigetragen haben, kann jedoch die Scham über diesen Befund nicht mindern. Noch bedrückender ist jedoch, dass sich unter den
etwa 150 Zuhörenden wenig deutsches Publikum befand. Auch hier lassen sich Erklärungen finden, bspw. in der sicherlich mangelnden
Öffentlichkeitswerbung im Vorfeld der Konferenz oder in der Tatsache, dass die Tagungssprache Englisch war. Doch auch dies kann nicht darüber
hinwegtäuschen, dass die deutsche Linke noch immer bemerkenswert provinziell ist.
Entsprechend nachvollziehbar ist, dass die Konferenz an einem alles andere als linken Ort abgehalten
wurde. Träger war das renomierte, hauptsächlich aus Mitteln des Landes NRW und der Privatwirtschaft finanzierte, Kulturwissenschaftliche Institut, ein
interdisziplinäres Forschungskolleg für fachübergreifende Debatten und Forschungen im Bereich kulturwissenschaftlicher Grundsatzprobleme. Hier
leitet der charismatische und überaus produktive Zizek als ausgewiesener linker Intellektueller seit einem Jahr eine Studiengruppe über die
"Antinomien der postmodernen Vernunft".
Worum es bei der Konferenz "Gibt es eine Politik der Wahrheit nach Lenin?"
ging, hatte Zizek bereits im Vorfeld deutlich gemacht. Heute sei es leichter, so sein Konferenzaufruf (siehe SoZ 2/01), "sich das Ende der Welt vorzustellen, als
den weitaus moderateren Wandel der Produktionsweise". So frei sich die schöne neue Welt des "Dritten Weges" gebe, faktisch gebe es in ihr
keine wirklichen Wahlmöglichkeiten mehr. Unterschiede reduzierten sich "letztlich auf entgegengesetzte kulturelle Attitüden", bei denen
multikulturalistische und sexuelle "Offenheit" gegen traditionelle Werte stünden. Der provozierende, "gegen seine liberalen
Verleumder" gerichtete Rekurs auf Lenin sei deswegen dem "unbedingten Willen" geschuldet, "in die Situation einzugreifen, nicht im
pragmatischen Sinn einer ‚Anpassung der Theorie an die Anforderungen der Realität durch notwendige Kompromisse, sondern ganz im Gegenteil, durch
das Verbannen aller opportunistischen Kompromisse die unzweideutig radikale Position einzunehmen, aus der es allein möglich ist, in solcher Weise
einzugreifen, dass der Eingriff die Koordinaten der Situation verändert".
Dass mit diesem Anliegen Tabubruch begangen wird, machten gleich mehrere Redner deutlich. Der
in England lehrende französische Philosoph Eustache Kouvelakis erinnerte daran, dass die Situation Mitte der 70er Jahre eine deutlich andere war. "Lenin
und die Philosophie" wurde breit und zwar nicht nur auf der Linken diskutiert, Lenin gar als Philosoph allgemein anerkannt.
Sebastian Budgen (London) zeigte in seinem Beitrag über "Lenin und die
Leninologen" auf, inwiefern Lenin ein Opfer der zwei in den letzten Jahrzehnten vorherrschenden geschichtswissenschaftlichen Trends wurde. Habe es seit den
70er Jahren eine große Welle von Studien zur revolutionären Sozialgeschichte des roten Oktober gegeben, die aufzeigen, dass es sich bei der
sowjetrussischen Revolution um ein echtes Massenphänomen und keine politische Verschwörung einer intellektuellen Minderheit handelte, so seien auf
der anderen Seite unzählige Lenin-Biografien erschienen, die in Lenin überwiegend einen Geschichte machenden Psychopathen sehen. Sehen Letztere
die Geschichte von Individuen gemacht, schlimmer noch: von einem Individuum, so vernachlässigen Erstere die Rolle der Individuen, und damit auch die Rolle
Lenins. Die politische Dimension der Geschichte und damit der Ort Lenins in der Geschichte werde deswegen von beiden vernachlässigt oder verfälscht.
Damit sprach Budgen jenen Aspekt Lenins an, der wie ein roter Faden die Konferenz durchzog. Lenins Bedeutung in Geschichte und Theorie der sozialen Bewegung
ist seine eigenständige und originelle Thematisierung der Politik.
Hieß es noch bei der Ankündigung der Konferenz, dass es nicht um die Frage gehe, was
Lenin wirklich getan habe, sondern darum, was heute gegen das Global Empire zu tun sei, so bewiesen allerdings die Diskussionen des Wochenendes, dass sich diese
beiden Fragen kaum gegeneinander ausspielen lassen.
Der historische Lenin
In seinem Eröffnungsbeitrag ging Zizek besonders auf die Situation 1914/15 ein, als Lenin durch den Kriegsausbruch und die kampflose Unterordnung
der internationalen Sozialdemokratie in seinen Grundfesten vollkommen erschüttert wurde. In dieser Situation der totalen Niederlage die Zizek mit der
heutigen vergleicht habe sich Lenin interessanterweise für viele Monate von der praktischen Politik zurückgezogen und in der Bibliothek
eingegraben, um ausgerechnet den vom klassischen Marxismus der II.Internationale weitgehend ignorierten Philosophen Hegel zu studieren. Dieser
ungewöhnliche Schritt, mittels theoretischer Arbeit zu einem neuen Fundament auch für die praktische Politik zu gelangen, habe sich zuerst philosophisch
und bald schon politisch bewährt.
Der US-amerikanische Soziologe Kevin Anderson vertiefte dieses Thema und zeigte den zentralen
Stellenwert auf, den die Leninsche Entdeckung der Hegelschen Dialektik gerade auch für seine politische Theorie hatte. Nicht nur, dass Lenins
theoretische Erneuerung wesentlich für seine politische Wendung zu den "Aprilthesen" gewesen sei. Sie stehe auch in engstem Zusammenhang mit
seiner Imperialismus-Studie und der damit verbundenen Thematisierung der nationalen Frage in der imperialistischen Epoche. Die Leninsche Betonung des
Unterschieds zwischen dem durch und durch reaktionären Nationalismus der Unterdrücker und dem partiell progressiven Nationalismus der
Unterdrückten sei eine fruchtbare Anwendung dialektischen Denkens und eine gewisse Vorwegnahme des späteren "westlichen Marxismus".
Auch Kouvelakis betonte diesen historischen Bruch und die "Einsamkeit Lenins" im
weltgeschichtlichen Moment der Katastrophe und zeigte auf, dass Lenin damit auch seine alten Positionen bezüglich des Streits zwischen Materialismus und
Idealismus in Frage stellte. Was er früher vehement abgelehnt hatte den "dritten Weg" jenseits der beiden , theoretisierte er nun in
seinen berühmten philosophischen Notizbüchern.
Schon bei Marx, aber auch noch bei Kautsky und im klassischen Marxismus, so der Pariser Philosoph
Daniel Bensaïd, war Politik vor allem an das konstante Wachsen des industriellen Proletariats gebunden. Politik löste sich gleichsam auf im scheinbar
automatischen Wachstum der Klasse. Lenins zuerst im Kontext der alten Orthodoxie formulierte Werke brechen jedoch mit dem alten Sinn. Das Wachstum der Klasse
steht nicht mehr im Vordergrund, die Klasse selbst wird nicht mehr monolithisch gesehen, sondern heterogen. Diese Heterogenität schlage in den real
existierenden politischen Pluralismus innerhalb der Arbeiterbewegung um.
Politische Strategien bekommen vor diesem Hintergrund eine zentrale Rolle, Risse und
Diskontinuitäten werden ebenso betont, wie der ideologische Kampf und das Gespür für den konkreten historischen Moment. Die Zeit ist nicht
mehr homogen, der Aufstand als konzentrierteste Form der Politik ist nur zum richtigen Zeitpunkt möglich, in kurzen historischen Momenten. Zentral wird so
für Lenin das dialektische Verhältnis von Klasse und Partei, der Versuch, die Spannung zwischen beiden produktiv, d.h. Geschichte machend zu wenden.
Der britische Politikwissenschaftler Alex Callinicos griff mit seinem Beitrag zu Lenin und Max
Weber Slavoj Zizek an. Der hatte im Einladungstext zu politischem Hass und Unversöhnlichkeit gegen die liberale Linke aufgerufen und den ideellen
Leninisten gerühmt, "alle Konsequenzen der Verwirklichung seiner politischen Projekte zu tragen, wie unangenehm sie auch sein mögen".
Gegen diesen Kultus der abstrakten Konsequenz wandte Callinicos ein, dass sich Strategien als verheerend erwiesen hätten, die Mittel und Zwecke in der
sozialistischen Politik undialektisch trennen. Nicht das abstrakte Ende rechtfertige die Mittel. Vielmehr hängen die Mittel davon, ab, welches Ende man
anstreben wolle. Der Emanzipation der Massen sei mit abstrakter Konsequenz und Gewalt nicht näher zu kommen. Hier liege die besondere Bedeutung gerade
Leo Trotzkis, der in den 30er Jahren, in einer noch katastrophaleren Situation historischer Niederlagen darauf beharrte, sich den falschen, realpolitischen Alternativen
von "Stalinismus oder Faschismus" nicht unterzuordnen.
Entlang dieser Unterschiede deutete sich eine tieferliegende Auseinandersetzung innerhalb des
Kongresses an. Betonten die eher "maoistisch" Argumentierenden wie Zizek, Kouvelakis, Sylvain Lazarus und Alain Badiou (beide Paris) die
"Rehabilitierung des revolutionären Sinns", so hinterfragten die eher "trotzkistisch" Argumentierenden wie Anderson, Bensaïd, Budgen
und Callinicos solchen vermeintlich verkürzten Leninismus. Anderson antwortete bspw. auf die vehemente Verteidigung Maos und der chinesischen
Kulturrevolution durch Badiou, dass dessen Theoretisierung des Einen, das sich immer in zwei teile (Mao: "Eins teilt sich in zwei"), das sei , was Hegel
die reine Negativität genannt habe. Eine solche reine Negativität sei jedoch undialektisch und habe im maoistischen Desaster geendet.
Lenin heute
Mit dieser Auseinandersetzung war der Übergang vom historischen zum aktuellen Lenin, zum Kampf gegen das Global Empire markiert. Einig waren
sich fast alle Anwesenden, dass wir seit Seattle in einer Zeit der politischen Wende leben. Umstritten war jedoch, wie wir in diese eingreifen sollten. Tendierten die
"Maoisten" eher dazu, die Rolle von Parteien und Organisationen klein zu reden und die grundlegende Arbeit an der Theorie stärker zu betonen, so
hielten die "Trotzkisten" dagegen.
Alex Callinicos hob hervor, dass es bis Seattle unangefochten geheißen hätte:
"There is no alternative Es gibt keine Alternative." Seitdem ertöne jedoch immer mehr die Frage an die Demonstrierenden, was denn ihre
Alternative sei. Damit sei ein Klimawechsel signalisiert. Und die Tatsache, dass man auf diese Frage noch keine klare und einheitliche Antwort habe, zeige an, dass
wir uns in einem Zustande des Vakuums befänden. Leninisten, so Callinicos hätten in solch einer Zeit vor allem zwei Aufgaben, zum einen die Analyse
der kapitalistischen Entwicklungstendenzen und zum anderen das Aufwerfen der Frage nach der politischen Organisierung im weitesten Sinne des Wortes.
Ähnlich griff auch Bensaïd ein und betonte, dass die um sich greifende Parole "Die Welt
ist keine Ware" einen klaren Hinweis auf den antikapitalistischen Charakter der neuen Bewegungen gebe.
Das blieb nicht unwidersprochen. Vor allem Zizek meldete seine Zweifel an, ob wir es hier mit einer
wirklichen tragfähigen und nicht integrierbaren Alternative zu tun hätten. Solange ein Bill Clinton, wie in Seattle geschehen, großspurig
verkünden könne, dass er die "Sorgen der Straße" vernommen hätte, beginne wirklicher Widerstand damit, sich dem
drängend aufgeworfenen "Was machen wir denn jetzt?" zu widersetzen. Eine Rückkehr zu Lenin könne keine Rückkehr zu alten
Konzeptionen sein, sondern nur eine totale Erneuerung im Angesicht totaler Niederlagen.
Andere Akzente setzte der am Kulturwissenschaftlichen Institut arbeitende Österreicher Robert
Pfaller. Er brachte einen typischen deutschen Ansatz ins Spiel, als er die "reaktionären Massen" thematisierte und der Frage nachging, warum die
Unterdrückten und Entrechteten sich in ihre Situation nicht nur einfügen, sondern dies auch noch mit masochistischem Spaß täten. Diesem
Asketismus der Opfer könne nur mit dem ideologischen Kampf für einen progressiven Hedonismus begegnet werden. Dem konterte Zizek damit, dass er
darauf hinwies, dass jeder oppositionelle Hedonismus ebenso der herrschenden Askese unterworfen sei und als solcher keinen emanzipativen Ausweg weise.
Callinicos schließlich wies darauf hin, dass die Pfallersche These, die Opfer des herrschenden Systems nähmen mit perverser Freude die von oben
auferlegte Askese hin, weder im heutigen Österreich, noch unter dem Faschismus auf beide bezog sich Pfaller sachlich stimme.
Doug Henwood, der New Yorker Herausgeber des Left Business Observer, stellte in seinem eher
feuilletonistischen Überblick über die Bewegungen der letzten Jahre die provozierende Frage, ob diese neuen internationalen Graswurzelbewegungen
nicht vielmehr mit dem spanischen Anarchismus der 30er Jahre zu tun hätten als mit den Bolschewiki von 1917.
Mehr symbolischen als intellektuellen Nährwert brachte eine dreiviertelstündige
Telefonschaltung zu Antonio Negri nach Italien, in dem Negri Fragen zu seinem neuen strategischen Wurf gegen das Global Empire beantwortete. Da jedoch die
Organisatoren das von Negri vorliegende Thesenpapier erst zeitgleich mit der Telefonübertragung vorlegten, blieb das Frage-Antwort-Spiel den Insidern
vorbehalten. Auch das eher verschlungene Plädoyer des namhaften US-amerikanischen Marxisten und Literaturwissenschaftlers Fredric Jameson, dass die
Revolution noch immer lebendig sei, verhallte sanft.
Dass man die Aktualität Lenins in heutiger Zeit nicht unabhängig von der Reflexion diskutieren kann, was der historische Lenin getan und
gedacht hat, hat sich auf der Konferenz ebenso erwiesen wie die Schwierigkeit, beides gleichzeitig zu tun. Dass diese Schwierigkeit am Wochenende gerade bei jenen
zu Unmut führten, die stärkere Handlungsanleitungen für den politischen Alltag suchten, ist nicht nur normal, sondern war, so Zizek in seinem
Abschlussstatement, auch eingeplant. Psychoanalytiker, der er ist, sei es ihm von Beginn an darum gegangen, "zu enttäuschen".
Trotzdem bleibt, dass es gerade die Mischung aus gelehrter Geschichte, politischem Denken und
Engagement war, die das Wochenende zu einem Ereignis der besonderen Art machte einem Ereignis, dem man sich mehr Aufmerksamkeit durch deutsche
Linke gewünscht hätte. Zumindest teilweise wird sich dies jedoch nachholen lassen, denn die (hier nicht vollständig vorgestellten)
Konferenzbeiträge sollen demnächst im Suhrkamp-Verlag veröffentlicht werden.
Christoph Jünke
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