Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.04 vom 14.02.2001, Seite 15

Hunger!

Willem Breuker Kollektief: Hunger! (1999, BVHAAST)

Im Jahre 1999 erschien die Geburtstagsplatte "Hunger" is a landmark CD, celebrating the 25th anniversary of the Willem Breuker Kollektief. Das musikalische Fest bestritten vor allem Blasinstrumente (von verschiedenen Saxofonen über Posaune und Tuba bis zur Mundharmonika), die Sängerin Loes Luca und weitere Musikerinnen und Musiker (Geige, Ukulele, Bass, Klavier, Synthesizer, Vocals).
Auf der CD sind zwei von Willem Breuker komponierte Suiten ("Vuurpijl", "Hunger") und ein Stück vom Drummer Rob Verdurmen ("A daily stroll" — ein netter spätromantisch bis free-jazzig klingender Spaziergang). Die anderen Stücke wurden von weiteren Ensemblemitgliedern für das Willem Breuker Kollektief arrangiert. Sie stammen aus dem Fundus "klassischer" Komponisten des 19.Jahrhunderts (Chopin, Rossini und der ziemlich unbekannte John Roger Thomas), 20er Jahre Jazz (ganz wundervoll Lore Lynn Tryttens singende Säge auf "Yes, we have no bananas"!) und französischer Chansons (Boris Vian!).
Was ist diese Musik: Klassik? Jazz? Tanzmusik (Walzer und Tango sind nicht zu überhören und auch "To Europe" geht schwer ins Tanzbein)? "Wir spielen einfach Musik und machen dabei noch eine Reihe anderer Dinge, die man von Musikern weniger gewohnt ist. Ob das nun Jazz, E- oder U-, A-, C- oder D-Musik ist, finde ich dabei völlig uninteressant. In letzter Zeit sage ich immer: Ich spiele Menschenmusik", beschreibt Willem Breuker den eigenwilligen Stil des Musikerkollektivs.
Die Faszination, die vom Willem Breuker Kollektief ausgeht, liegt im Gesamtkonzept der Band begründet: der Mischung aller musikalischen Stile, der Verbindung von Kunstmusik mit Formen der populären Musik. Dabei entsteht eine mit viel Humor perfekt vorgetragene "Musikclownerie", die in der internationalen Jazz-Szene ihresgleichen sucht.
Das Willem Breuker Kollektief ist einer der "Altvorderen" der alternativen Blasmusikbewegung der 70er Jahre, als Gruppen wie das "Sogenannte linksradikale Blasorchester" (Frankfurt), die "Rote Note" (Freiburg) oder "Trotzblech" (Tübingen) die alltagspraktische Demotauglichkeit dieser Musik (die Instrumente transportabel, die Musik ohne Strom, aber trotzdem laut!) erprobten. Noten der Arrangements von Willem Breuker kursierten jedenfalls in der Szene. Und "volkstümlich" — was der Blasmusik oftmals nachgesagt wird — ist nicht gleich reaktionär.
Bemerkenswert, wenn MusikerInnen sich heute noch als "Kollektiv" bezeichnen — und es auf der Platte "Hunger" auch tatsächlich sind, in dem Sinne, dass nicht nur des Bandleaders Kompositionen und Arrangements zu Gehör gebracht werden, sondern auch die der anderen. Bemerkenswert auch, dass sie ihre Platten auf dem eigenen, von Willem Breuker gegründeten Label BVHAAST veröffentlichen. Allerdings ist zu anzunehmen, dass die MusikerInnen nicht alle von den Einnahmen des Willem Breuker Kollektiefs leben müssen, sondern ihre Brötchen im E-Musik-Business verdienen.
Auffällig an "Hunger" ist der selbstverständliche, keineswegs missionarisch-plakative, sondern eher untergründig-subtile politische Anspruch. Das Cover erinnert an sozialistische Kunst der 20er Jahre. Im Text zur CD verweist Willem Breuker darauf, dass er im ausserordentlich kalten Hungerwinter 1944/45 unter der Nazi-Besatzung geboren wurde, trotzdem gedieh und später mit den sozialistischen Idealen des Nachkriegsholland aufwuchs.
Hunger schließlich, die Titel-Suite, ist ein vierteiliges musikalisches Bild von Auflehnung, Revolte, Kampf um das Nötigste zum Leben, angefangen mit "Distant thunder" über "Bread riot" und "Red sunrise" zu "Time is an empty bottle of wine". Letzteres, mein Lieblingsstück, ist in meinen Ohren die musikalische Übersetzung des Begriffs "Spätkapitalismus" — gar nicht zynisch gemeint, obwohl das auch anklingt, sondern eher hoffnungsvoll. Die GenossInnen vom früheren "Roten Morgen" mögen‘s an der Stelle verzeihen, dass wir nach dem "Red Sunrise" immer noch im Kapitalismus leben — in diesem Sinne ist das Finale von Hunger eine musikalische Anleitung zur permanenten Revolution!

Dorothea Mann

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