Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.04 vom 14.02.2001, Seite 16

Aufklärung im Zeitalter der Postmoderne

Für Studierende, sagen wir mal der Soziologie, soll es ja an manchem Institut für ein sehr gut ausreichen, wenn einzige Grundlage des Foucault-Referats das Foucault-Bändchen aus der Einführungsreihe des Junius-Verlags war. Ebenso wie diese Reihe wenden sich die Einstiege des Westfälischen Dampfboots eher an ein studentisches Milieu. Die im Lamuv-Verlag herausgegebene Reihe bspw. hat demgegenüber Menschen zu Adressaten, die beim entsprechenden Thema bei Null beginnen und eine einfache Sprache bevorzugen. Was all diese Einführungen jedoch gemeinsam haben, ist ihre trockene Aufmachung. Sie liegen Quadranten entfernt, was die Nähe zu zeitgemäßen Lesegewohnheiten angeht.
Seit einem Jahr versucht der Rotbuchverlag diese Quadranten hinter sich zu lassen und präsentiert eine Einführungsreihe, die nicht nur besticht durch ein handliches Format und eine Covergestaltung, die einen hohen Widererkennungswert garantiert. Rotbuch 3000 bietet auf 96 Seiten Artikel von nicht mehr als 4—5 Seiten in ein paar überschaubaren Abschnitten. Was woanders zwischen den Zeilen steht, finden wir hier am Rand. Dort sorgen Zitate, Zeichnungen und Fotos für Auflockerung und Konnotation zugleich. Am Ende jedes Themas gibt es dann noch die wichtigen Adressen, die Empfehlung weiterführender Literatur und, bei den hipperen Autorinnen und Autoren, ausgewählte Internetadressen.
Im ersten Jahr der Reihe sind zwölf verschiedene Titel erschienen. Für das erste Halbjahr 2001 sind sechs weitere geplant. Etwas willkürlich erscheint die Auswahl der Themen. Reagierte die Reihe im Frühjahr 2000 auf die EXPO mit einem tagespolitischen, kritischen und vor allem nicht lehrerhaften Beitrag von Ralf Strobach — Mitstreiter im Anti-EXPO-Widerstand Hannover — auf das Spektakel in Hannover, so versuchte Jost Müller fast zeitgleich eine rote Sternenkarte der Galaxie des Sozialismus anzufertigen. Auch das Alter der Zielgruppe dürfte schwanken. Katja Leyrers Ausführungen zu Sexualität, ein wirkliches Schmuckstück in dieser Reihe, kann sicherlich mit dem Etikett "empfohlen ab 14" versehen werden. Thomas Seiberts kompakte Einführung in den Existenzialismus, sucht sicher seinesgleichen, streift aber im Vorbeiflug dermaßen viele Philosophen, Rebellen und historische Ereignisse, dass es nach der Vorbildung verlangt. Nicht ein Studium aber, eine gute Lehrerin vorausgesetzt, wäre ein Jahr Leistungskurs Philosophie durchaus hilfreich. Vielleicht ist diese unstrukturiert erscheinende Abwechslung von Themen durchaus gewollt und soll uns neugierig machen auf Neuerscheinungen dieser Reihe, da sie noch einige Überraschungen verspricht.
Auch wenn für viele Bereiche populäre, gut recherchierte Überblicke gegeben werden, wird sicherlich der Beitrage von Vanessa Radek und Beat Weber zur Börse der Renner dieser Reihe. Hier treffen Aufmachung, Titel und Bedürfnis zusammen. Worüber wird heute wie selbstverständlich geredet, ohne Ahnung davon zu haben, von Leuten, für die SMS eine Literaturgattung ist und die wirklich froh sind, dass es jede Menge Bilder gibt, wenn sie 96 Seiten lesen sollen. Da wird diese historische Darstellung der Funktionsweise der Börse wahrscheinlich oft genug zur sprichwörtlichen Perle, die vor die Sau geworfen wird.

Gentechnologie

Wichtiger in Sachen Aufklärung sind allerdings Sabine Riewenherms Ausführungen zur Gentechnologie. Für eine kritische, allgemeinverständliche Darstellung sowohl der grünen (Landwirtschaft) wie auch der roten (Medizin) Gentechnologie quasi in einem Rutsch, war es schon lange Zeit. Hier finden wir eine allgemeinverständliche Vorstellung der Grundlagen, einen Ausflug zum Augustiner Gregor Mendel in seinen Erbsengarten, aber vor allem eine Vorstellung der Anwendungsgebiete und der Interessen, die hinter diesen Anwendungen stehen.
Wie die Reihe insgesamt, benutzt sie einen populärwissenschaftlichen Stil, der sich wohltuend abhebt, von offizieller Propaganda und naivem "unheimlich und böse" Getue. Leider fehlt dann oft eine schärfere Zuspitzung der Aussagen. Die Benennung der Kontinuität von Gentechnik und Eugenik über den Nationalsozialismus hinaus gehört zu einem dieser Themen, die schärfer hätten formuliert werden sollen. Ebenso der Zusammenhang des Neoliberalismus mit der Patentierung von Genen und die Ausbeutung der Dritten Welt, der kaum benannt wird.
Während Tabellen und Zeichnungen auch hier als sinnvolle Illustrationen auftauchen, war bei der Auswahl der Bilder scheinbar ab und zu Ratlosigkeit angesagt: Was sagt uns z.B. ein Schwarz-Weiß-Bildchen von ein paar Erbsenschoten, selbst wenn uns die Bildunterschrift aufklärt: "Nicht Mendels Erbsen, sondern konventionell angebaute Erbsen von einem Berliner Marktstand" oder ein nicht einmal 5 x 8 cm großes Bild, wo es erst nach dem Lesen der Bildunterschrift "Immer mehr Biotechnologie-Firmen gehen an die Börse" schwant, dass es sich auf dem Bild um den Innenraum einer Börse handeln soll. Aber das sind selbstverständlich Kleinigkeiten gemessen an dem Wert des Buches in der Auseinandersetzung mit der herrschenden Gentechnologieunterstützung besonders im medizinischen Bereich.

Hacker

Grundlage für Boris Gröndahls Hacker waren die Ausstellungen: "Hacker — Datenreisende zu verbotenem Wissen" und "Tüftler, Freaks und Firmengründer — Die Geburt des PC" im Heinz Nixdorf Forum in Paderborn. "Anstatt sich an Ausgrenzungen unter Hackern zu beteiligen, versteht dieses Buch ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen als Zeichen für Veränderungen im technischen, politischen, juristischen und ökonomischen Umfeld." Unter diesem Motto beschreibt Boris Gröndahl die Ziele des Hackens unter den Stichworten: Technikvergnügen, Zugang, Respekt, Politik und Geld. Das Technikvergnügen nennt er Einstiegsdroge. Den Zugang zu Wissen, das ihm vorenthalten wird, ist das spannend spielerische Element dabei, den Respekt erfährt der Hacker (es geht um Jungs), wenn er möglichst gut im Knacken der Schlösser zum vorenthaltenen Wissen ist. Die rebellische Attitude, die oft damit verbunden wird, bezeichnet Gröndahl als Vulgäranarchismus. Das Geld steht nicht im Mittelpunkt der Hacker (in der Ersten Welt), da sie mit ihren Fähigkeiten auch legal genug Kohle verdienen können. Anders sieht es in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion oder in vielen Ländern des Südens aus.
So plätschert diese Bändchen leicht lesbar vor sich hin, was bei der Gentechnik das Bild von der Börse ist, schafft hier ein Bild einer Messe, wo jeder auch glauben würde, wenn es als Betriebsfeier in einem Großraumbüro gekennzeichnet wäre. Spannend wird dieser Band dort, wo Gröndahl beginnt die Geschichte des Hackertums zu erzählen. Besonders die Geschichte der studentischen Gruppen im Massachusetts Institute of Technologie (MIT) in Boston gibt einen erhellenden Einblick.
Sicher zu diskutieren ist das Schlussresumee: "Hacker sind eine vielfältig einzusetzende Projektionsfläche für Medien, Industrie und Sicherheitsbehörden. Ihre fundamentale Bedeutung liegt jedoch darin, dass sie sich die Informationstechnik angeeignet haben, und zeigen, wie man sie für seine Zwecke einsetzten kann." Nicht nur das hier Informationstechnik auf ihre digitale Variante reduziert wirde, es bleibt völlig nebulös was das für Zwecke sind. Ist es demgegenüber nicht auch wahr, dass der Hacker ähnlich dem Cyberpunk "trotz seines gegenkulturellen Habitus auf den nihilistischen Zukunftsängsten der weißen Mittelklasse beruht", wie Gröndahl Andrew Ross zitiert.

Sexualität

Das eigentlich klassische Aufklärungsbuch in dieser Reihe macht vor, wie Form und Inhalt am Anfang des neuen Jahrhunderts zusammen glänzen können. Beginnend beim Konkretem (Verlieben Eifersucht etc) steigt es auf bis zum abstrakten Feld der Genderdebatte. Die Illustration macht deutlich, dass Sexualität auch etwas mit Humor, Kunst aber auch mit Verletzung und Angst zu tun haben kann. Dazwischen liegt vor allem der Raum des historischen Werdegangs der Sexualität, und es gelingt Katja Leyrer der Sexualität den biologistischen Fummel auszuziehen, mit der sie nicht nur von Stammtischmännerrunden verunstaltet wird. Überhaupt räumt sie in einer klar verständlichen Sprache mit Klischees und Dichtungen auf, die im Rahmen des Backlash wieder zum Allgemeingut vor allem unter Jungens werden. Je näher sie jedoch der Frage von Sex und Gender kommt, um so mehr verlässt sie die Verständlichkeit der ersten Seiten. Muss sie wahrscheinlich auch, denn hier geht es um eine Diskussion von Themen, die bei der emanzipatorischen Linken wenig abgeschlossen ist.
Ein Wehrmutstropfen ist die fehlende Auseinandersetzung zu Macht und Sexualität. Unter dem Abschnitt Gewalt und Missbrauch fertigt sie dieses Thema mit zwei Sätzen ab. Eine Verkürzung von Macht und Sexualität auf den Zusammenhang mit Gewalt und Missbrauch, ist gerade in einem aktuellen Aufklärungsbuch eine arge Verkürzung. Was bedeutet Respekt im Gegensatz zu Beliebigkeit und maulhaltender Duldung von sexistischen Machtstrukturen. "Die Bilder männlicher Erotik, die auf Frauen zielen sind so unterschiedlich wie die Formen männlicher Macht", formulierte Mariana Vandervelde in Sex Macht Lust. Gerade diese unterschiedlichen Formen männlicher Macht, die nicht erst seit Emimem wieder in erotischem Licht erscheinen, hätten einer Beleuchtung bedurft.
Kommt Katja Leyrers Sexualität als Geschenk daher, so wird es sicherlich erst, wie bei solchen Geschenken durchaus üblich bekichert oder ignoriert. Doch sobald die Öffentlichkeit sich zurückzieht, wird es sicherlich verschlungen. Das ist erstens gut so und zweitens gilt das nicht etwa nur für 14- bis 15-jährige Jugendliche.

Migranten

Eigentlich wäre der Titel Arbeitsimigration die richtige Wahl gewesen. Der Beitrag von Mark Terkessidis beginnt zwar mit der Definition von Migration: "Im Fremdwörterbuch des Duden wird der Begriff Migration erklärt als ‚Wanderung von Individuen oder Gruppen im sozialen oder geografischen Raum‘". Dann beginnt allerdings diese Einwanderung vor erst 100 Jahren. Böse Zungen könnten da ja fragen, wo sind denn die ersten 30000 Jahre Migration geblieben. Es geht also um die Einwanderung von Menschen, die als Arbeitskräfte gerufen wurden aber als Menschen kamen (Max Frisch). Die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts wird dann auch noch sehr stiefmütterlich abgehandelt. Zwangsarbeit während des Ersten Weltkriegs und während des Nationalsozialismus werden zwar erwähnt, doch leider wird z.B. die Kontinuität der italienischen "Gastarbeiter" die im Nationalsozialismus in Wolfsburg hinter Zäunen untergebracht waren, zu denen, die im Rahmen des ersten Anwerbeabkommens (1955) mit Italien in den 60er Jahren nach Deutschland kamen, nicht dargestellt.
Um so verdienstvoller stellt Terkessidis die Einwanderung von Menschen ab den 60er Jahren dar, die gezwungen waren, oder auch freiwillig nach Deutschland kamen, um hier zu arbeiten. Der ökonomische Zwang, der in den 60er Jahren zu den Anwerbungen führte, die Unterbringung in Lagern, aber auch: dass bspw. bei Volkswagen 65% der italienischen Arbeiter vor dem Ablauf des befristeten Arbeitsvertrags abgehauen sind, weil es einfach nicht zum Aushalten war. Auch mit dem Mythos, dass es nur junge Männer waren, die angeworben wurden, räumt Terkessidis auf. Die Frauen, die 1973 bereits ein Drittel der Angeworbenen ausmachten. Sie arbeiteten vor allem in Textil- und Nahrungsmittelindustrie, wurden aber einfach nicht wahrgenommen.
Nach einem Ausflug in die Statistik, der ambivalenten Politik der IG Metall und der Kriminalisierung, die die Arbeitsmigration spätestens seit den 70er Jahren begleitet nähert sich diese Einführung der Debatte um das Staatsbürgerrecht. Vergeblich wird die Leserin oder der Leser allerdings die Auseinandersetzung zur Greencard suchen. Die Auseinandersetzung zwischen republikanischen und völkischem Rassismus wird auf die Frage von Einbürgerung und die "Belange der Bundesrepublik Deutschland" beschränkt.
Migranten erhält vor allem durch seinen statistischen Bestandteil einen besonderen Wert in einer antirassistischen Arbeit mit Jugendlichen.
Insgesamt ist es dem Rotbuchverlag mit dieser Reihe gelungen, dass Aufklärung in postmodernen Zeiten immer noch en vogue ist. Das dabei die einzelnen Teile sich dennoch zu einem größeren Ganzen formen ist allerdings aufgrund der Verschiedenartigkeit der Themen und der Autorinnen und Autoren schwer vorstellbar. Sicherlich würde in diesem Sinnen eine Gruppierung bei einer Fortführung der Reihe Sinn machen.

Tommy Schroedter

Bisher erschienen in der Reihe Rotbuch 3000 die Titel: Börse, Doping, Drogen, Existenzialismus, EXPO 2000, Gentechnologie, Hacker, Migranten, Polizei, Popmusik, Sexualität und Sozialismus.
Für das erste Halbjahr 2001 sind geplant: Fotojournalismus, Jüdisches Leben nach 1945, Neue Ökonomie, Popliteratur, Science Fiction und Wasser.
In analyse & kritik Nr. 446 ist eine ausführliche Besprechung der beiden Bücher zu "Sozialismus" und "Existenzialismus" zu finden.

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