Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.05 vom 01.03.2001, Seite 14

Nationale Unterdrückung — ein für Deutsche unbekanntes Wesen?

Zunächst grüße ich in Heribert Sommer von der Redaktion der Marxistischen Kritik nicht nur den willkommenen Mitdiskutanten, sondern auch den Bruder im Geiste Feuerbachs. Einleitend mahnt er mich in seinem Beitrag in SoZ 3/01 in Erinnerung an diesen für uns beide offenbar wichtigen Denker, in Zukunft "religiöse Vokabeln zu meiden". Von "Sünden" gewisser führender PDS- Mitglieder zu sprechen war sicherlich leichtfertig von mir. Ich gelobe Besserung, falls der Genosse Heribert Sommer mir für diesen Fall Absolution erteilt (oh je...).
Die entscheidende Kontroverse — und angesichts der Verwirrung in weiten Teilen der deutschen Linken darüber lohnt sich eine Diskussion — ist: Gibt es nationale Unterdrückung und daher auch nationale Befreiungskämpfe oder nicht? Ich teile Heribert Sommers positiven Bezug auf die "klassenkämpferisch-kosmopolitische Sicht des Kommunistischen Manifests" und habe dies auch in dem von ihm kritisierten Artikel (SoZ 25/00) zum Ausdruck gebracht.
Trotzdem, aber nicht in Widerspruch dazu, bejahe ich die genannte Frage. Heribert Sommer scheint der Meinung zu sein, dass es nationale Unterdrückung nicht gibt, und dass jeglicher positive Bezug auf die Anliegen nationaler Befreiung in die Irre führt.
Heribert Sommer schreibt vorsorglich, meine Position würde wahrscheinlich "scholastischen Quellenstudien standhalten". Das ist in der Tat so, und ich verzichte darum auf den stattlichen Blumenstrauß von Zitaten (Marx, Engels, Lenin...), der dies belegen könnte (ich verweise stattdessen auf die Beiträge von Michael Löwy und Andreas Kloke auf den "Gelben Seiten" der Inprekorr-Ausgaben von September/Oktober und November/Dezember 1999, die in dieser Hinsicht reiches Material und gediegene Beiträge zum Thema "Marxismus und nationale Frage" liefern).
Nur eines: Heribert Sommer scheint zu glauben, Trotzkis Theorie der "permanenten Revolution" fuße auf einer Leugnung der nationalen Fragen. Das ist mitnichten so, im Gegenteil. Trotzki ging von der Tatsache nationaler Unterdrückung und von der Solidarität mit den Anliegen nationaler Befreiungsbewegungen aus. Seine Idee war, das Proletariat könne und müsse die Lösung aller "demokratischen Fragen" (nationale Fragen, Agrarfrage usw.) betreiben und gerade darum an die Macht kommen und den Weg zum Aufbau des Sozialismus beschreiten.
Je kosmopolitischer deutsche Linke werden, desto mehr wird es ihnen gelingen, die typischen Attribute deutscher Linker abzulegen. Zum Beispiel den Aberglauben an die Allmacht von (falschen) Ideen. Bei vielen deutschen linken Leugnern nationaler Unterdrückung liest sich die Sache so, als seien Nationen reine Fiktionen, "konstruiert", um den Klassengegensatz zu vertuschen. Man müsse sich diese falsche Idee nur aus dem Kopf schlagen, und schon trete der Klassenkampf in Reinform hervor und der Überwindung der Nationalstaaten zusammen mit der Klassengesellschaft stehe nichts mehr im Wege. Eine naive Vorstellung!
Um dies an einer Analogie zu verdeutlichen: Marx entlarvte die kapitalistische Warenwelt als eine Welt "falschen Scheins", die Verhältnisse zwischen Dingen und zu Dingen (Geld zumal) vorspiegelt, wo es sich in Wirklichkeit um Verhältnisse zwischen Menschen handelt.
Nichts lag den spezifisch deutschen Linken an den Unis der 70er Jahre näher, als zu glauben, die kapitalistischen Verhältnisse seien in dem Moment abgeschafft, wo sich die Leute diese falsche Idee aus dem Kopf geschlagen haben. Entsprechend geharnischt waren ihre Kapital-Kurse, in denen von "Logik", "Ableitung", "Destruierung falschen Scheins" viel, aber von der von Marx kritisierten gesellschaftlichen Wirklichkeit wenig zu hören war. Sie verstanden nicht, dass Marx nicht einfach "Schein", sondern "realen Schein" meinte: eine sicherlich verkehrte Welt, aber keine fiktive, die auf geistiger Verblendung fußt. Auch die Nation ist zu überwindender "falscher", aber doch höchst "realer Schein".
Heribert Sommer kritisiert, dass ich "nationale Unterdrückung" nicht "definiere". Das ist auch nicht nötig: wenn sie real ist, kann und muss sie beschrieben werden. Es gibt offenbar auch unter Linken zu wenig Einfühlung in die Lage von Menschen von unterdrückten Nationalitäten (und die Vielfalt der Nationalitäten ist kein falscher Schein, sondern Teil des menschlich-kulturellen Reichtums).
Ist es so schwer vorstellbar, was es bedeutet, wenn z.B. die eigene Muttersprache und kulturelle Überlieferung kriminalisiert oder marginalisiert wird, wenn man wegen seiner Herkunft systematisch benachteiligt wird usw.? Gerade die Unterdrückung "als..." ruft die Identifikation "als..." sogar dann hervor, wenn sie vorher kaum bewusst war.
Und was die imperialistische Unterdrückung der armen Länder betrifft, so ist doch ganz unabhängig von den Superreichen und Kapitalisten in den armen Ländern (die sind Klassenfeinde, natürlich!) das Gefühl in der großen Mehrheit der Bevölkerung dieser Länder höchst real und berechtigt, dass es ihnen nicht zuletzt deshalb so sehr schlecht geht, weil sie das Pech haben, in diesem immens benachteiligten Teil der Welt zu leben (und nicht nur, weil sie Lohnabhängige, arme Bauern oder besitzlose Arme sind).
In der Auflehnung gegen nationale Unterdrückung wird der Klassenkampf gerade dann besonders effizient vernebelt, wenn die Sozialistinnen und Sozialisten die Legitimität dieser Auflehnung bestreiten. Umgekehrt ist der Kampf gegen jeglichen Nationalismus (sogar gegen den Nationalismus in unterdrückten Nationalitäten oder Nationen) und für die Entwicklung von Klassenbewusstsein viel leichter, wenn gerade die Sozialistinnen und Sozialisten der Unterdrückernationen für diese Unterdrückung sensibel sind und jegliche Gegenwehr gegen sie unterstützen.
Meine Frage an Heribert Sommer lautet: Wie kann ein deutscher Linker, Mitglied ausgerechnet der Unterdrückernation mit der schrecklichsten Unterdrückergeschichte, die Tatsache nationaler Unterdrückung nicht sehen?

Manuel Kellner

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04


zum Anfang