Sozialistische Zeitung |
Vor dem großen Terror. Stalins Neo-NÖP* heißt der dritte Band von Wadim S. Rogowins Reihe "Gab es eine
Alternative?", die in Deutschland im Essener Arbeiterpresse-Verlag erschienen ist. Der Untertitel des Buches, Stalins Neo-NÖP, ist jedoch
irreführend. Vor dem großen Terror ist kein Buch über "realsozialistische" Ökonomie, voll mit Wirtschaftsstatistiken und
trocken. Vielmehr handelt es sich um politische Geschichte spannend geschrieben und gut verständlich.
Der 1998 verstorbene Rogowin, Professor am Soziologischen Institut der Russischen Akademie der
Wissenschaften, behandelt in Vor dem großen Terror die Zeit vom XVII.Parteitag der KPdSU bis zu den Jahren 1935/36, eine Zeit, "in der sich der
Stalinismus als Gesellschaftssystem endgültig etablierte". Sie ist gekennzeichnet von Parteisäuberungen, der Entfesselung des Terrors gegen
politische Gegnerinnen und Gegner, der Festigung der Herrschaft der Bürokratie und der Verschärfung sozialer Gegensätze in der Sowjetunion.
Das Buch beginnt im Jahre 1933. Auf dem XVII.Parteitag der KPdSU gaben acht Oppositionelle
Unterwerfungserklärungen ab. Bucharin etwa, Mitglied der Rechtsopposition, nahm seine früheren Ansichten zurück und erklärte:
"Genosse Stalin war vollkommen im Recht, als er unter brillanter Anwendung der Dialektik von Marx und Lenin diese Prämissen widerlegte."
Erfolg brachte solches Verhalten nicht. Die Jahre des "großen Terrors" überlebte keiner der acht Oppositionellen.
Der Mord an Kirow, einem Mitglied des Politbüros, im Jahre 1934 gab Stalin die
Möglichkeit, "seinen Terror praktisch ohne Widerstand zu entfesseln", so Rogowin. Schon am Tag des Mordes erfasste der jugoslawische
Kommunist Voja Vujovic die Bedeutung der Tat: "Das ist das Ende. Man wird mit uns beginnen, und dann geht es weiter wie eine Lawine."
Vujovic sollte Recht behalten. In der Sowjetunion wurde die Sippenhaft eingeführt,
Verhaftung, Verbannung und politische Justiz gehörten zur Tagesordnung. Ideologisch rechtfertigte Stalin den Terror mit der These, zunehmende Erfolge bei
der Errichtung des Sozialismus brächten eben auch eine Verschärfung des Klassenkampfs mit sich.
"Im Frühjahr 1935 war Sibirien überfüllt mit Leningradern", so ein
zeitgenössischer Bericht eines Oppositionellen. "Man transportierte sie kolonnenweise, zügeweise, ganze Familien mit Kindern, Ehefrauen, Eltern,
der Verwandtschaft."
Nikita Chruschtschow, später Generalsekretär der KPdSU und einer derjenigen, die
unter Stalin Karriere machten, erinnerte sich: "Wohin diese Leute geschickt wurden, weiß ich nicht, danach habe ich nie gefragt." Es habe die Regel
gegolten: "Was man dir nicht sagt, brauchst du auch nicht zu wissen; das waren Staatsangelegenheiten, und je weniger man davon wusste, desto besser."
Die Aufarbeitung der Stalinschen Verbrechen in der Sowjetunion nach der Abkehr vom
Stalinismus auf dem XX.Parteitag 1956 hält Rogowin für unzureichend. Die Texte Leo Trotzkis, auf die sich Rogowin immer wieder bezieht, seien
weiter tabuisiert worden. Den Grund dafür sieht Rogowin in dem Selbsterhaltungsinteresse der sowjetischen, nachstalinschen Bürokratie. Diese habe
eben erkannt, "welcher Art Ideen für ihre Herrschaft die größte Gefahr darstellten".
Rogowin wertet die Politik Stalins und seiner Anhänger als "antibolschewistischen,
bonapartistischen Umsturz". Stalin habe "seine politischen Aktionen mit pseudomarxistischen Floskeln und grob aus dem Text gerissenen Lenin-
Zitaten" maskiert. Insgesamt, so die These Rogowins, habe die Politik Stalins und seine Säuberungen der kommunistischen Parteien in Europa die
revolutionären Kräfte geschwächt und das in einer Zeit, als in Europa faschistische Gruppierungen nach der Macht griffen.
Dirk Eckert
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