Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.05 vom 01.03.2001, Seite 16

E-Government

Risiken und Nebenwirkungen elektronischer Demokratie

Vom 15. bis 17.März laden OECD und Weltbank über tausend Vertreter von Regierungen und multinationalen Konzernen nach Neapel ein, um über Möglichkeiten einer elektronischen Regierung — "E-Government" — zu diskutieren. Der Einladungstext zu diesem Gipfel spricht von "E-Government" als einem Instrument der Demokratie und der Entwicklung — wie könnte es anders sein.
Das italienische Kollektiv, das gegen den Gipfel mobilisiert, ist da skeptischer; seiner Analyse nach machen die Kommerzialisierung des Internet und die Nutzung der interaktiven Kommunikation zur Ausspionierung noch des letzten Winkels der Privatsphäre die demokratischen Möglichkeiten der computergestützten Kommunikation wieder zunichte.

E-Government bedeutete bis heute, dass die Behörden den Bürgerinnen und Bürgern Dienstleistungen und Informationen anbieten, die auch in anderer Form zur Verfügung stehen. Der Zugang zu Informationen wird dadurch erleichtert, der Inhalt aber bleibt derselbe. Es wird keine neue Form von Öffentlichkeit und Bürgerschaft geschaffen, nur einer Elite von Internetbenutzern ein schnellerer Zugang zu Informationen gewährt.
Der Einsatz der Informatik ermöglicht zwar einfachere und effizientere Verwaltungsabläufe, doch zeigen auch viele Studien, dass damit nach innen bestehende Rollenmuster und Herrschaftsstrukturen verstärkt und auf noch kleinere Gruppen konzentriert werden. Er begünstigt autoritäre und geschlossene Strukturen nach innen, die Formalisierung und Entpersonalisierung von Abläufen nach außen.
"Das Vertrauen in abstrakte Systeme ist die Voraussetzung für die räumlich- zeitliche Entrückung jener ausgedehnten Sicherheitsbereiche des alltäglichen Lebens, die die modernen Institutionen gegenüber der traditionellen Welt bieten. Die in abstrakte Systeme integrierten Routinen sind wesentlich für das Gefühl der Daseinssicherheit in der modernen Welt. Aber dies schafft auch neue Formen der psychischen Verwundbarkeit, und das Vertrauen in abstrakte Systeme bietet nicht dieselbe seelische Genugtuung wie das Vertrauen in Menschen."

Elektronische Demokratie

Mit dem Diskurs über E-Government verbindet sich aber auch noch eine andere, für die Geschichte der computergestützten Kommunikation grundlegende Kategorie: die elektronische Demokratie.
Zu den zahlreichen Erwartungen und Hoffnungen, die in die technologische Innovation gesetzt werden, gehört auch die, sie könne die Krise der traditionellen Formen der repräsentativen Demokratie angehen und lösen. In der umfänglichen Literatur, die übermäßigen Optimismus über die neuen Möglichkeiten der "elektronischen Demokratie" verbreitet, melden sich jetzt aber auch berechtigte Zweifel über die Risiken zu Wort, die ihre Anwendung unter den gegebenen sozialen Bedingungen mit sich bringen würde.
Anders als viele Autoren sich erträumen, ist es heute nicht möglich, die elektronische Demokratie als Instrument für mehr oder weniger entfaltete Formen der direkten Demokratie einzusetzen; wahrscheinlich erlauben die Techniken der Fernkommunikation, neue Wege der Abstimmungsdemokratie zu erproben; doch muss man dabei im Auge behalten, dass damit heute eher vertikale Machtstrukturen, nicht ihre Abflachung, nicht die Verteilung von Macht gefördert werden. Unter heutigen Bedingungen führt die Form der Volksbefragung zu einer Konzentration von Macht in den Händen derer, die die Kommunikationsströme und die "Macht der Frage" in den Händen halten, die die "Macht der Antwort" deutlich überwiegt.
Trotzdem geht der Diskurs über elektronische Demokratie, elektronische Regierung, elektronische Abstimmung munter weiter, und die Absicht, die funktionale Neubestimmung von Entscheidungsstrukturen ideologisch zu verbrämen, wird dabei nicht einmal allzusehr verhüllt.
Die großartigen Möglichkeiten einer Online-Demokratie rufen aber auch all die Unternehmen auf den Plan, die verstanden haben, dass E-Government zum E-Business werden kann — nicht zufällig wird das Globale Forum in Neapel von zahlreichen Privatunternehmen und multinationalen Konzernen gesponsert.
Aus unserer Sicht dientdie geplante "Modernisierung" des Staatsapparats auch und vor allem dazu, den Reichen und Wohlmeinenden das Bild von einem rationalen und geordneten Staat zu vermitteln. Der Diskurs über E-Government und virtuelle Demokratie ersetzt den über reale Demokratie; der virtuelle, schlanke, effiziente Staat verbirgt den realen ausufernden Staat, der immer neue (ewig alte) Sicherheitsapparate schafft.
Die Staatsapparate versuchen, sich unter dem Stichwort "elektronische Regierung" ein offenes, Vertrauen erweckendes Image zu schaffen; sie nähern sich dem Bürger virtuell in eben dem Augenblick, wo sie sich real von ihm entfernen. Wo die letzten Pfeiler des Sozialstaats fallen, kreist die Diskussion nicht mehr um die Schaffung neuer Formen realer Beteiligung der Masse der Bevölkerung an der Macht, sondern um Bilder und Virtualität; keiner ist mehr wirklich beteiligt.
Es wird das Bild von einem aseptischen Verwaltungsstaat geschaffen, dessen Organe strikt neutral seien. Das Bild ist geeignet, Konsens in der Öffentlichkeit zu stiften, während sich gleichzeitig Privatinteressen immer schamloser entfesseln, die Ressentiments, Proteste und Opposition hervorrufen würden, würden sie sich als solche darstellen.
Es wird die Vorstellung verbreitet, Technologie sei unpolitisch und es sei irrational, sich ihr zu widersetzen; jede kritische Aktion sei von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Darüberhinaus dient das Globale Forum in Neapel natürlich auch dazu, hochrangige Regierungsvertreter, multinationale Konzerne und supranationale Institutionen wie die Weltbank, die OECD, die UNO um einen Tisch zu versammeln, damit sie ihre Strategien in Sachen Überwachungspolitik und Profitlogik verfeinern und vernetzen.

Interaktive Überwachung

Mehrfach wurden in den letzten Jahren die der computergestützten Kommunikation innewohnenden Möglichkeiten an Demokratie und Beteiligung hervorgehoben, vor allem wegen ihres interaktiven, nach vielen Richtungen offenen Charakters. Diese Möglichkeiten können tatsächlich nicht unterdrückt werden, wie sehr die technischen Entwicklungslinien der Fernkommunikation auch dazu tendieren, diesen Aspekt einzuschränken. Denn die Profitlogik, die sich auch im Internet durchsetzt, bringt es mit sich, dass Kommunikations- und Informationsströme, das zentrale Nervensystem unserer Gesellschaften, im Kreislauf der kapitalistischen Wertschöpfung zur wichtigsten Ware geworden sind.
Doch der interaktive Charakter der digitalen Kommunikation kann sich — besonders in einer gesellschaftlichen Situation wie der gegenwärtigen — auch in ein Instrument verschärfter sozialer Kontrolle verwandeln, die immer durchdringender und panoptischer (allessehender) wird.
Die technologischen Neuerungen haben die komplexen Mechanismen und ausgefeilten Techniken sozialer Kontrolle und Unterdrückung weiter perfektioniert und verstärkt. Deutlich sichtbar wird dies vor allem innerhalb des Produktionsprozesses: Der Überwachungsapparat ist zum integralen Bestandteil der Struktur des Produktionssystems geworden: Die Überwachung des Produktionszyklus wird Maschinen überlassen, die die Tätigkeiten der lebendigen Arbeit systematisch kontrollieren, ihren Rhythmus, ihre Unterbrechungen und Mängel unerbittlich anzeigen.
Es soll hier nicht die alte Debatte wieder aufgewärmt werden, ob der Mensch die Maschine führt, oder ob die lebendige Arbeit zu einem einfachen Anhängsel der toten Arbeit geworden ist. Hier soll hervorgehoben werden, wie die Mechanismen der Disziplinierung und der Kontrolle vor allem in solchen Fabriken wirksam erprobt und in die Praxis umgesetzt werden, wo die sog. totale Qualitätskontrolle praktiziert wird, wo also der hohe technologische Stand der Produktion die klassischen Arbeitsbeziehungen im Betrieb und im Produktionsprozess abbaut, damit aber die Arbeitsbedingungen zusätzlich verschärft. Untersuchungen wie die über die Modularisierung der Arbeitskraft in einem Werk wie Fiat-Melfi, bestätigen diese Tendenz.
Doch diese Mechanismen werden weit über den Betrieb hinaus in der gesamten Gesellschaft wirksam, in der "sozialen Fabrik", dem Produktionssystem, das sich über die Fläche erstreckt; hier verstärken sich nebeneinander Formen der kulturellen Bestätigung wie auch die Stigmatisierung und Kriminalisierung von Verhaltensweisen, die als anders, abweichend oder oppositionell begriffen werden.
Die technische Entwicklung hat das Überwachungsnetz nicht nur ausgeweitet, es hat seine Maschen auch enger geknüpft.
Echelon, das Abhörnetz, das die westlichen Geheimdienste benutzen, um die riesigen digitalen Kommunikationsströme zu kontrollieren (und nicht nur diese), ist nur die Spitze des Eisbergs in dieser komplexen Verquickung von Technologie und sozialer Kontrolle — eine Verquickung, die tendenziell jede behauptete "Verteidigung der Privatsphäre" sinn- und bedeutungslos macht; je mehr sie beschworen wird, desto weniger lässt sie sich realisieren.
Die technologischen Neuerungen haben einen entscheidenden Anteil am Ausbau dieses Kontrollsystems; darunter sind vor allem zu nennen:
die algorithmische Überwachung — d.i. eine Datenanalyse mit Hilfe komplexer Algorithmen, die es ermöglicht, automatisch Vorgänge zu identifizieren und nachzuvollziehen;
die Datenüberwachung — der Aufbau riesiger Datenbanken mit Informationen von geringer Bedeutung und Vertraulichkeit, die zur Rasterfahndung verwendet werden können;
das System X — ein digitales System der Abhör von Mobiltelefonen, das jedes Handy in eine Art elektronische Hundemarke verwandelt.
In Kürze werden wir alle einen elektronischen Personalausweis mit uns führen, das ist ein Mikrochip, in dem alle Informationen über uns gespeichert sind, mehr als wir von uns selbst zu wissen glauben: persönliche Daten, Steuernummer, Blutgruppe, Angaben über unseren Gesundheitszustand, elektronischerFingerabdruck, Vorstrafen, Studientitel usw.

Der ‘große Verkäufer‘

Dieser elektronische Ausweis wurde in Italien mit dem Gesetz 191/1998 eingeführt; es lässt die Möglichkeit offen, seinen Anwendungsbereich sogar noch auszuweiten und "den Einsatz des elektronischen Personalausweises für weitere Dienste und Nutzungsbereiche zu erproben". Verschiedene Banken haben bereits den Vorschlag gemacht, die traditionellen Kreditkartenfunktionen auf den Personalausweis zu übertragen. Damit würden die Ausweise, denen ursprünglich nur eine Funktion zugedacht war, zu einem Knotenpunkt werden, an dem verschiedenste Datenbanken miteinander verbunden werden.
In wenigen Jahren wird die Sicherheit unserer Existenz, unser Profil, unsere Verortung innerhalb der Gesellschaft von diesem winzigen Mikrochip abhängen. Jede unserer Bewegungen, jede Initiative, jede Entscheidung wird aufgespürt und kontrolliert werden können.
Ein bisschen ist es in den Netzen der computergestützten Kommunikation heute schon so.
Hier gibt es das Problem der "digitalen Spuren" schon: Wir hinterlassen im Netz eine Vielzahl von Informationen jedweder Art, derer sich nicht nur Überwachungs- und Repressionsapparate bemächtigen, sondern auch Betriebe und multinationale Konzerne, die versuchen, die "Navigationsbewegungen" der Benutzenden nachzuvollziehen, ihre Interessen und Konsumgewohnheiten aufzuspüren und jede Art von Information über sie zu gewinnen, die helfen kann, den Markt zu kontrollieren und zu manipulieren.
So gesehen wäre es richtiger, heute nicht vom "großen Bruder" zu reden, der im Soldatenrock, als bewaffneter Wächter auftritt, sondern vom "großen Verkäufer". Der "große Verkäufer" hat seine Überwachungsprozesse soweit verfeinert, dass sie gar nicht mehr als solche sichtbar werden, bzw. vom "Objekt" der Beobachtung gar als Element der Stärkung seiner Autonomie und Entscheidungsfreiheit interpretiert werden.
Praktisch geht es um die Entwicklung einer"unsichtbaren" panoptischen (allessehenden) Kontrolle, die nicht nur im klassischen Sinn auf die Verinnerlichung herrschender gesellschaftlicher Normen und die selbständige Unterdrückung abweichenden Verhaltens zielt, sondern auch auf ferngesteuertes Verhalten beim Konsum und bei angeblich freien Entscheidungen.
Seit einigen Jahren konzentrieren sich Untersuchungen auf das Studium dieser Abfangmethoden, um herauszufinden, wie und in welchem Maß interaktive Technologien auf den Webseiten der Anbieter deren die Absicht, Verhaltensweisen der Nutzenden zu verändern, beschreiben. Dafür müssen die Durchdringungsmöglichkeiten der interaktiven Kommunikationsmittel analysiert werden, wobei ihr durchdringender Charakter darin besteht, dass wir, oft fälschlich, annehmen, wir selbst würden entscheiden und unser Verhalten bestimmen, während in Wirklichkeit in die Maschinen psychologische Grundmuster eingebaut sind, so dass sie uns an die Hand nehmen, innerhalb eingeschränkter Wahlmöglichkeiten Entscheidungen zu treffen, die in Wirklichkeit vordefiniert sind.
Das ist heute schon sichtbar an der Art und Weise, wie die Kommunkationsströme im World Wide Web gelenkt werden: Der Zugang konzentriert sich auf wenige Portale, von denen aus man über fast "geheime" Gänge in die Verkaufs- und Produktionsräume gelangt, die direkt oder indirekt von großen Konzernen betrieben werden. Zu diesem Zweck haben Hightechfirmen die einfachen Informationstechnologien bereits durch Beziehungstechnologien ersetzt; sie täuschen ein Verhältnis der Initimität und Verbundenheit mit den Nutzenden vor, das seine Kauffreudigkeit steigern soll. Diese Entwicklung, das gesellschaftliche Leben zur Ware zu machen, verwandelt tendenziell jeden Augenblick des Lebens in einen Tauschakt.
Von dieser Warte aus ist es verständlich, dass die panoptische Dimension vor allem innerhalb der computergestützten Kommunkationsnetze zum Tragen kommt, zumal diese mehr und mehr der Profitlogik unterworfen sind. Denn was ist panoptische Demokratie, um Bentham oder Foucault zu zitieren, anderes als die Fähigkeit der Herrschenden zu sehen, und die Bereitschaft der Beherrschten, sich sehen zu lassen, sich von den Sonden der Potentaten durchleuchten zu lassen? Die Transparenz und Sichtbarkeit der Macht nimmt zu, im selben Atemzug nimmt die Transparenz und Sichtbarkeit der Beherrschten ab.
So werden nicht nur die bestehenden politischen, auch die ökonomischen und gesellschaftlichen Machtstrukturen gestärkt — nicht allein durch die (direkte oder verinnerlichte) Unterdrückung abweichenden Verhaltens, sondern auch durch die Stärkung solcher Formen der kulturellen Bestätigung, die virtuelle wie reale gesellschaftliche Beziehungen und Verhältnisse in Waren verwandelt.

Der obige Artikel ist ein Auszug aus dem Grundlagentext, den die "Rete campana per i diritti globali" (das Netzwerk Kampaniens für die globalen Rechte) anlässlich des Globalen Forums verfasst hat. — Kontakt: www.ska.ecn.org.



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