Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.06 vom 15.03.2001, Seite 2

Tatort Betrieb:

Gestohlene Lebenszeit

Wenn die im Arbeitsstundengesetz festgelegte Obergrenze von 48 Stunden auf 60 und mehr Stunden erhöht wird, regt sich nur selten Widerstand. Meist auch dann nicht, wenn Überstunden nicht bezahlt werden. Das Kölner Institut zur Erforschung sozialer Chancen fand heraus, dass nur noch für knapp 15% der 32 Millionen abhängig Beschäftigten starre Arbeitszeiten gelten.
Die Gesamtzahl der im Jahr 2000 geleisteten bezahlten Überstunden ist um 2,8% auf 1,85 Milliarden gestiegen. Weitere 2 Milliarden Stunden unbezahlter Mehrarbeit wurden zum Teil in Freizeit abgegolten. Sie landeten auf Arbeitszeitkonten. Vor allem aber bei höheren Angestellten und im IT-Bereich nimmt unbezahlte Mehrarbeit deutlich zu.
Der Bezirk Baden-Württemberg der IG Metall startete — gestützt auf wissenschaftliche Untersuchungen — für den "Tatort Betrieb" eine Kampagne gegen den "Terror für die Seele". Es geht hierbei um seelische und körperliche Krankheiten, die durch Termindruck, Arbeitstempo, Druck durch Vorgesetzte, Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, durch Arbeitszeitflexibilisierung, durch dauerhafte Überstunden, Schicht- und Nachtarbeit verursacht werden.
IGM-Bezirksleiter Berthold Huber erinnerte auf einer Tagung von 400 Betriebsräten daran, dass bereits in den 90er Jahren wissenschaftliche Studien ergeben: Das Risiko eines Herzinfarkts steigt im Dreischichtbetrieb um das Dreieinhalbfache. Bei stetigem Abbleisten einer großen Zahl von Überstunden steigt das Risiko sogar um das Siebenfache. Das Unfallrisiko und vorzeitiges Ausgebranntsein erhöht sich als Folge von übermäßigem Stress.
Alfred Oppolzer von der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik zählt zu den erheblich gestiegenen Stressfaktoren auch die zunehmenden ungesicherten Beschäftigungsverhältnisse. Angst vor dem Jobverlust führe zu mehr Stress als bei denen, die bereits erwerbslos geworden sind.
Fragt sich nur, warum die IG Metall unbezahlte Mehrarbeit jahrelang akzeptiert und zugesehen hat, dass "sittenwidrige Betriebsvereinbarungen abgeschlossen wurden", wollte ein Betriebsrat im Forum Arbeitszeit wissen. Erscheinungen von verschärftem Mobbing und wachsender Suchtgefahren wurden auch auf den in den Betrieben gestiegenen Druck zurückgeführt.
Natürlich geraten Betriebsräte auch in Schwierigkeiten, wenn Kolleginnen und Kollegen, die verschuldet sind, gierig nach bezahlten Überstunden sind. Muss für sie aber die Bereitstellung von Arbeitsplätzen für Erwerbslose durch den Abbau von Überstunden nicht Vorrang haben?
Böse Zungen behaupten, Berthold Huber habe diese Tagung nur als Sprosse auf der Leiter benutzt, die ihn auf dem kommenden Gewerkschaftstag an die Spitze der IG Metall führen soll. Dort werde er sich dann als treuer Gefolgsmann seines ehemaligen Chefs und jetzigen Arbeitsministers Riester erweisen.
Huber könnte dies leicht widerlegen, wenn er ein Feuerwerk betrieblicher Aktionen unter dem Motto auslöste: "Lasst euch eure Lebenszeit nicht stehlen, um den Aktienkurs an der Börse zu erhöhen. Nervlich ausgepumpt, bis in die Träume verfolgt von betrieblichem Stress, könnt ihr weder erzieherisches Vorbild für eure Kinder noch liebevolle Ehepartner sein."
In unserem Kampf für die 35-Stunden-Woche ging es nicht nur um den Abbau von Erwerbslosigkeit, sondern auch um mehr Freiheit für das Individuum, mehr Muße zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Diesen Weg weiter zu verfolgen bedeutet, sich jetzt die 30-Stunden-Woche als Ziel zu setzen.
Es war Gotthold Ephraim Lessing, der uns lehrte: "Lasst uns faul in allen Dingen, nur nicht faul zu Weib und Wein, nur nicht faul zur Freiheit sein." Wenn wir Faulheit mit Muße übersetzen, wird das Ziel deutlich, das gewerkschaftlichen Kampf lohnend und Menschen bereit macht, sich zu organisieren.

Jakob Moneta

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