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Am politischen Aschermittwoch 1968 waren SDS, Außerparlamentarische Opposition und Studentenrevolte aus gutem Grund
Hauptthema der Reden und Polemiken. Kurz zuvor, im Februar 1968, hatte es mit dem Vietnamkongress in Westberlin den bisherigen Höhepunkt dieser
Revolte gegeben. Der CSU-Führer Franz-Josef Strauß erklärte damals die Anhänger der APO zu Freiwild: "sie benehmen sich wie
Tiere. Auf sie sind die für Menschen gemachten Gesetze nicht anwendbar."
Am Aschermittwoch des Jahres 2001 stand die Studentenrevolte von 1968 Ereignisse, die
nunmehr 33 Jahre zurücklagen aus zunächst unerklärlichen Gründen erneut im Mittelpunkt der Politauftritte der Prominenz. CSU-
Chef Stoiber konstatierte in seiner Passauer Rede bei führenden Vertretern der SPD-Grünen-Bundesregierung einen Hauch von Terrorismus. Er beklagte
die unbewältigte linke Vergangenheit und die mangelnde Seriosität von Fischer und Trittin bei der Vertretung "deutscher Interessen in EU und in
den USA".
Zum gleichen Zeitpunkt präsentierten sich die Grünen und ihre Galionsfiguren im
schwäbischen Biberach als Anhänger des ursprünglichen Aschermittwoch-Rituals: Sie streuten sich Asche aufs Haupt. Rezzo Schlauch meinte mit
Blick auf Josef Fischer und Friedrich Merz: "Lieber Irrungen und Wirrungen als Lebenslügen aus dem Sauerland", erkannte aber auch
"grandiose Fehler im Frankfurter Häuserkampf". Der Außenminister erklärte ebenfalls in Biberach im Gestus eines
Taschenformat-Bismarcks des 21.Jahrhunderts, Außenpolitik mache er "für das Land und nicht für die Partei". Der smarte
Grünen-Parteichef Fritz Kuhn plusterte sich zum APO-Großerben mit den Worten auf: "Die Kampagne zielt auf eine ganze Generation."
Der Satz stimmt, auch wenn er aus dem falschen Munde quillt. Seit Januar 2001 ist das Thema
"1968" wieder angesagt auf eine verquere Art und Weise. Es geht nicht um die Aufarbeitung der historischen Zäsur, die diese Jahrzahl
bedeutet. Auch ist anders als in früheren Jahren kaum Nostalgie angesagt. Vielmehr geht es um Abrechnung mit der Revolte von 1968 und um
Entsorgung von Geschichte durch Verfälschung.
Symptomatisch hierfür ist ein Artikel aus der Zeit von Klaus Hartung, dessen Überschrift
"Runter mit dem Zeigefinger Die 68er fühlen sich noch heute über Kritik erhaben" bereits den Takt vorgibt. Hartungs kurzer
Lehrgang zu 68 liest sich so: "Es lässt sich nicht wegreden: Das Spiel mit der Gewalt stand 68 im Zentrum. Das ist der wunde Punkt … Der Mythos 68
hat das verwischt. Wenn Ralf Dahrendorf heute Rudi Dutschke im Gegensatz zu den RAF-Terroristen als verschrobenen Revolutionsidealisten in Schutz nimmt,
verharmlost er … Die Linke sollte endlich darüber reden, wenn heute Rechtsradikale das Vokabular und die Kampfmethoden der Außerparlamentarischen
Opposition adaptieren."
Es folgt die in diesen Tagen bei solchen Entsorgungsbeiträgen vielfach auftauchende
"persönliche Note"; Hartungs Artikel wird mit einem Nachtrag auf den Punkt gebracht: "Zur Klarstellung: Ich gehörte in jener Zeit zum
Berliner SDS und machte später in der Roten Hilfe mit, einer Organisation, in der man sich einbildete, man solle das staatliche Gewaltmonopol angreifen. Heute
bin ich froh, dass aus Plänen keine Wirklichkeit wurde."
Genau so hat es Bubikopf Merkel im Bundestag eingeklagt: "Zeigen Sie Reue, Herr
Minister!" Genauso hatte dort Bubi Merz getönt: "Notwendig ist jede Absage an Gewalt." Doch auch wenn es die CDU/CSU-Vertreter nicht
hören wollten: das öffentliche "Mea culpa" der 68er-Wendehälse hat es längst gegeben. Josef Fischer erklärte, wo immer
er gefragt wurde: "Ich bereue die Gewalt." Und Jürgen Trittin ging im Interview im Stern noch einen Schritt weiter, als er dort in Sachen
"Mescalero"-Aufruf äußerte: "Rückblickend betrachtet haben wir damals versucht, auf eine vielleicht trotzköpfige Art die
Meinungsfreiheit zu verteidigen. Das würde man heute mit Sicherheit so nicht mehr tun."
Der Mann würde also heute "mit Sicherheit nicht mehr" die
"Meinungsfreiheit" verteidigen. Schon gar nicht auf eine "trotzköpfige Art".
Dabei versuchte der Herr Minister nicht einmal den Versuch einer Einordnung: Kein Wort zu der
Gewalt, die damals in erster Linie der Staat gegen die Linke anwandte. Ein Minister mit linker Vergangenheit kann sich das heute nicht leisten wohl aber die
Süddeutsche Zeitung. Dort las man zur selben Zeit, als Fischer das Steinewerfen und Trittin die Verteidigung der Meinungsfreiheit bedauerten: "Die
Chronologie der rasch gewalttätiger werdenden Geschehensabläufe wurde [Anfang der 70er Jahre] erweislich nicht durch die Aktivitäten von
,Putztruppen … beschleunigt, sondern in erster Linie durch das taktische Kalkül der Polizei, die sich dabei politisch gedeckt wusste."
Kein Wort beim Minister über die repressive Rolle, die Buback bereits bei der Besetzung des
Spiegel im Jahr 1962, der Außerkraftsetzung der Meinungsfreiheit gespielt hatte danach musste immerhin Franz-Josef Strauß als Minister
zurücktreten. Kein Wort über die Rolle, die Buback als Bundesanwalt im Rahmen der staatlichen Gewalt gegen links spielte. Keine Erwähnung der
Tatsache, dass damals die überwältigende Mehrheit der Linken, darunter Professor Brückner, Heinrich Böll oder Klaus Wagenbach,
ausschließlich die Zugänglichmachung des "Mescalero"-Aufrufs in Form von Veröffentlichungen verteidigten und organisierten, dass
sie also eine elementare Form von Meinungsfreiheit wahren wollten, und dass sie allein dafür diffamiert und verfolgt wurden.
Im Gefolge der Revolte von 1968 entwickelte sich in Westdeutschland eine gespenstische Szenerie
(u.a. wiedergegeben im Film "Deutscher Herbst"), die an den preußischen Obrigkeits- und Polizeistaat erinnerte. Zufall oder nicht: Parallel zur
Entsorgung von 68 aus der deutschen Geschichte erleben wir gegenwärtig die Renaissance von Preußens Gloria, die wiederum an Vorgaben aus dem
Adenauer-Westdeutschland, aber auch an solche aus Honeckers DDR, preussischen Stechschritt Unter den Linden inklusive, anknüpfen kann.
"Ich bekenne" so lautet die Überschrift in einer Anzeige, die in der
Frankfurter Rundschau, in der Taz und im Freitag geschaltet war. Darin heißt es u.a.: "Nach der Ermordung von Benno Ohnesorg bin ich gegen
Polizeigewalt auf die Straße gegangen. Als in Vietnam Menschen verbrannten, als die Notstandsgesetze durchgepeitscht wurden, als Nazis wieder in Landtage
einzogen, als die Pogromhetze der Springer-Presse gegen die aufbegehrenden Studenten im Mordanschlag auf Rudi Dutschke gipfelten, habe ich mich auch von
Polizeiknüppeln … nicht davon abhalten lassen, mein Demonstrationsrecht wahrzunehmen."
Ich meinerseits, der ich diesen Appell ebenfalls unterzeichnete, bekenne, dass die Jahre 1967/68
mein Leben erkennbar und bis heute prägten. Dass ein Flugblatt gegen den Besuch von Franz-Josef Strauß in meiner Heimatstadt Ravensburg aus dem
Jahr 1968 die Unterzeile "Katholische Jungmännergemeinschaft (KJG) Weissenau/Ravensburg Winfried Wolf" (und andere) trägt.
Dass ich 1972/73 im "Vietnam-Komitee Berlin" aktiv war, an dem sich erstmals nach dem Attentat Rudi Dutschke wieder politisch
engagierte. Dass ich Anfang der 70er Jahre in LIP (Besançon) mit den Arbeiterinnen und Arbeitern, die wochenlang ihren Betrieb besetzt hielten, demonstrierte
und von CRS-Bürgerkriegspolizei verprügelt und inhaftiert wurde. Dass ich zusammen mit Freunden auf der Berliner
Tourismus-Messe 1974 den spanischen Stand zertrümmerte aus Protest gegen die Hinrichtung von Salvador Puig Antich und Maria Garmendia durch
die Franco-Diktatur.
Vor allem bekenne ich: Es gibt keinen Asche-aufs-Haupt-Bedarf. Es gibt nichts zu bereuen, nichts zu
entschuldigen. "1968" das waren keine Jugendsünden. Dieses Datum hieß für hunderttausende Jugendliche, dass sie sich zu
politisch verantwortungsbewussten, solidarisch handelnden Menschen entwickelten, dass sie, so Bloch und Dutschke, lernten, den "aufrechten Gang" zu
gehen.
Die Putztruppe des Kapitals
Was wir in diesen Wochen erleben, hat Methode. Es geht nicht um die Frage, ob Fischer Ja zu Mollies sagte oder ob eine RAF-Frau mit Danny &
Joschka frühstückte und durch Frankfurts Westend-Kneipen zog. Es geht um Größeres. Der Berliner Tagesspiegel hat das so formuliert:
"Zum ersten Mal hat die westdeutsche Linke eine Vergangenheitsdebatte geführt, die sich nicht gegen andere richtete gegen die Nazi-Eltern,
gegen die Stasi, gegen die je anderen 68er sondern gegen jeden selbst."
Das ist es es geht gegen uns selbst, gegen jeden, der sich positiv auf 1968 bezieht. Und dem
ist alles andere untergeordnet. Nicht einmal die "wiederaufgetauchten" Fotos eines steinewerfenden J.F. sind Zufall sie lagen den Medien seit
geraumer Zeit vor. Sie wurden gezielt jetzt veröffentlicht. Weil das im Jahr 33 nach 68 mehr Sinn macht als z.B. im Jahr 25 nach 68. Warum das so ist?
Dafür gibt es einen subjektiven und einen objektiven Grund.
Ende 1998 wurde erstmals in der BRD eine Regierung mit "68ern" gebildet
genauer gesagt mit Leuten, die von der Revolte des Jahres 1968 geprägt waren und die sich geraume Zeit positiv auf diesen Einschnitt bezogen. Der
Außenminister und der Umweltminister zählen dazu; der Kanzler wird als ehemaliger Juso-Vorsitzender und Anwalt von APO-Aktivisten ebenfalls in der
Nähe der 68er gesehen. Der gegenwärtige Innenminister, der heute wie die Staatsanwaltschaft des Jahres 1968 also preußisch-
polizeistaatlich auftritt, war in seinen besseren Zeiten als "APO-Anwalt" aktiv.
Auch in den Regierungssapparat sickern sog. 68er ein. Der ehemalige führende Vertreter des
stalinistisch-autoritären Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW), Joscha Schmierer, dient heute nicht "dem Volke",
sondern Josef Fischer als dessen Berater und dürfte in dieser Position erneut eine "Avantgarde"-Rolle spielen: als Türöffner für
Wendehälse. Pikant wirkt da, dass derselbe Schmierer Anfang der 70er Jahre forderte, Daniel Cohn-Bendit solle zu seiner Sozialisierung zum Arbeiten in eine
Fischmehlfabrik in der VR China geschickt werden.
Entsorgung der Geschichte
Das Personal der aktuellen Regierung ist nur ein Teil dieser subjektiven Ebene, die die derzeitige Entsorgung von 1968 erklärt. Ein anderer Teil sind
die Parteien, die die jetzige Bundesregierung stellen. Erstmals sind dies auch die Grünen, eine Partei mithin, die in ihrer Gründungs- und Anfangsphase
positiv an die 1968er Revolte anknüpfte. Anders als autoritäre Organisationen und Gruppen wie KPD/AO, KPD/ML, KBW oder KB, die in den 70er
Jahren aus der antiautoriären Revolte von 1968 hervorgingen, griffen die Grünen in den 80er Jahren wieder auf eine antiautoritäre Tradition
zurück. Sie orientierten auf Bewegungen gegen Atomkraft, gegen "Nachrüstung" usw. statt auf stalinistische und maoistische
Kostümierung (wobei die gescheiterten Führer der Post-APO-Sekten bei den Grünen andockten, um die nächsten Stufen ihrer Karrieren
vorzubereiten).
Die zweite maßgebliche Partei der Bundesregierung, die SPD, ist zweifellos
keine, die positiv mit 1968 in Verbindung gebracht werden kann. Auch setzt sich ihr Personal kaum aus 68ern zusammen Schily ist Quereinsteiger. Immerhin
war es Willy Brandt, der sich als Regierender Bürgermeister von Westberlin 1965 bei der US-Regierung dafür entschuldigte, dass als Ausdruck
erster Proteste gegen den Vietnamkrieg ein paar Eier das Amerika-Haus in der Hardenbergstraße verunzierten. Es war derselbe Willy Brandt als
Bundeskanzler, der die Berufsverbote beschließen ließ. Und es war die SPD-geführte Bundesregierung unter Helmut Schmidt, die in den 70er
Jahren Gesetze und Maßnahmen verabschiedete, die auch aus liberaler und bürgerlich-demokratischer Sicht den "Rechtsstaat"
aushöhlten. Terrorismus-Paragrafen, "Kontaktsperregesetz", Einschränkung der anwaltlichen Verteidigungsrechte oder das zehnjährige
Vorlesungs- und Einreiseverbot für Ernest Mandel zählten dazu.
Dennoch ist die SPD in diesem Entsorgungsprozess von Geschichte, den wir gegenwärtig
erleben, von großer Bedeutung. Die SPD ist die Partei, die mehr als 100 Jahre lang Hoffnungen für fortschrittliche Veränderungen auf sich zog und
gleichzeitig seit fast einhundert Jahren dafür steht, diese Hoffnungen professionell zu betrügen. Oder, in den Worten von Rudi Dutschke vom Jahr 1967,
damals gerichtet an den SPD-Linken Harry Ristock: "Wir haben eben wieder einen Sozialdemokraten gehört. Wir hören schon seit fast 100 Jahren
Sozialdemokraten in Deutschland. Und die sagen: ,Die Sozialdemokratie wird besser. Und wir habens immer wieder geglaubt ... Und wer jetzt sagt:
,Das ist nicht die Sozialdemokatie, die wirkliche Sozialdemokatie stelle ich dar, zu dem kann ich nur sagen: Diese Illusion sollte seit der Großen
Koalition endgültig besiegt sein."
Den Höhepunkt der durch die SPD enttäuschten Hoffnungen stellten immer Kriege dar:
1914 wurden Millionen Menschen enttäuscht, als die SPD dem Krieg des Kaisers den parlamentarischen Segen gab. In den Jahren 19671973 wurden
Millionen SPD-Wählerinnen und -Wähler enttäuscht, als Willy Brandt den US-Krieg in Vietnam als Außenminister und später als
Bundeskanzler rechtfertigte. 1999 wollten es erneut viele SPD-Anhänger nicht wahrhaben, als der sozialdemokatische Kanzler und der sozialdemokratische
Verteidigungsminister legitimiert von einem grünen Außenminister den NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien rechtfertigten und dazu
noch unsägliche Bezüge zu Auschwitz herstellten.
SPD und Grüne spielen eine wesentliche Rolle im aktuellen Prozess der
Geschichtsentsorgung. Der Öffentlichkeit und der Anhängerschaft dieser Parteien soll eingetrichtert werden: Es gibt keinen Widerstand mehr, selbst
Restbestandteile von Oppositionskultur und positive Bezugnahmen auf eine erfolgreiche antikapitalistische Revolte werden beseitigt. Antje Vollmer erklärt, die
Grünen hätten "die 68er resozialisiert".
Das ist zunächst sehr subjektiv gemeint angesprochen wird damit Vollmers
Wegdriften vom pastoralen, bürgerlichen Elternhaus in eine Post-APO-Sekte mit den Ersatzvätern Mao und Stalin und ihre Rückkehr in den
Schoß der bürgerlichen Gesellschaft. Vor allem aber soll damit die objektive sanitäre Funktion der heutigen Grünen benannt und den Oberen
angedient werden. Diese Partei wirkt seit geraumer Zeit als Vehikel für das "Ankommen" eines Teils der "antiautoritären
Bewegung" des Jahres 1968 in der autoritären kapitalistischen Gesellschaft.
Damit wirken SPD und Grüne und ihr Personal als Putztruppe des Kapitals. Sie werden uns als
diejenigen präsentiert, die die Tendenzen des "modernen" Kapitalismus besonders aggressiv, zynisch und wirksam zur Geltung bringen: mit dem Ja
zu Kriegen nach außen (Balkan 1999), mit dem Ja zu Kriegen nach innen (Castor-Transporte 2001), mit dem Ja zum neuen Rüstungswettlauf und zu
zukünftigen Kriegen (National Missile Defense).
Die Wegbereiter
Und hier sind wir beim objektiven Grund für die gegenwärtige Entsorgung der Geschichte angelangt. Der deutsche Kapitalismus ist mit der
Wende 1989/90 in eine neue Periode eingetreten. Die Nachkriegsphase ist vorbei; wir befinden uns in der Vorkriegsphase. Ein weiteres Mal treten die deutschen
Konzerne und Banken an, die Vorherrschaft zu erobern zunächst in der EU und in Osteuropa. Ein weiteres Mal wird eine militärische
"Lösung" des verschärften Konkurrenzkampfs zumindest nicht ausgeschlossen. Daher die Umwandlung der Bundeswehr in eine
angriffskriegsfähige Armee, daher die gewaltigen neuen Rüstungsprogramme. Daher der Weiterbau des Forschungsreaktors München II, in dem
atombombenfähiges Plutonium erbrütet werden wird.
Dieser Weg wird am effizientesten dort beschritten, wo Widerstandspotenziale eingebunden werden.
Eine SPD-Grünen-Regierung mit einem "68er-Personal" ist für diese Aufgabenstellung weit besser geeignet als eine Regierung unter Kohl,
Schäuble, Merkel oder Merz. Das Milliardengeschäft mit der Privatisierung des Rentensystems wer könnte dies besser umsetzen als ein
Ex-Gewerkschaftsmann als Arbeits- und Sozialminister? Eine Atompolitik des faktischen Weiter-so wer könnte diese besser legitimieren als ein
ehemaliger Anti-Gorleben und Anti-Castor-Demonstrant? Eine Politik der Aufrüstung und des Angriffskriegs wer könnte hier den Widerstand aus
der Friedensbewegung besser integrieren und minimieren als ein sozialdemokratischer Kanzler, ein SPD-Verteidigungsminister und ein grüner
Außenminister? Und wer könnte den verbliebenen kritischen Medien besser den Schneid abkaufen, diese neuerliche deutsche Großmachtpolitik zu
kritisieren, als eine SPD-Grünen-Regierung mit einem 68er Personal, wo doch in Spiegel, Stern, Zeit und Taz die gewendeten 68er bereits vor gut einem
Jahrzehnt eingesickert und seither in maßgebliche Positionen aufgerückt sind?
Wenn dasselbe Personal, das derart gut im Interesse des Kapitals funktioniert, dennoch
vorgeführt und bloßgestellt wird, dann ist dies Teil des zynischen Spiels. Höhnisch heißt es in der Berliner Zeitung: "Trittins
offenkundig leninistische Grundposition macht es ihm leicht, Bürgerwillen als nur funktional, also unter der Fragestellung: wem nützt er? zu
behandeln." Das konservative Blatt Stuttgarter Nachrichten setzt eins drauf: "Wenn es darum geht, in der Regierung Stromlinienförmigkeit zu
beweisen, kennen die grünen Spitzenfunktionäre kein Pardon ... Sie werden sich ... fragen lassen müssen, warum sie immer dann, wenn es um die
eigenen Prinzipien geht, so diszipliniert umfallen."
Selbst im fernen London träufeln die Journalisten Häme in ihre Artikel. Ein Beitrag in
der britischen Financial Times beginnt mit den Sätzen: "Grüne entdecken, dass Atomtransporte doch nicht so schlecht sind ... Die deutsche
Umweltbewegung hat der Polizei erbitterte Schlachten geliefert, um Transporte mit Nuklearabfällen zu beenden. Doch jetzt kommen der deutschen
Atomindustrie ausgerechnet Minister der grünen Partei zu Hilfe."
Wo dieses Spiel enden wird, ist noch unklar. Rücktritte und ein teilweiser Austausch des
gegenwärtigen Personals können nicht ausgeschlossen werden. Auch das ist kein neuer Vorgang. Willy Brandt bspw. hatte perfekt
"funktioniert" und unter anderem die Notstandsgesetze und die Berufsverbote durchgesetzt dennoch wurde er 1974 wegen einer an sich
lächerlichen Spionageaffäre fallengelassen zugunsten eines nochmals gefügigeren Kanzlers Helmut Schmidt, dem Oskar Lafontaine die
Sekundärtugenden eines KZ-Wächters attestierte. Das hat sich auch bewährt: Kanzler Schmidt schuf in seiner Amtszeit 19741982 ein
polizeistaatliches und geheimdienstliches Arsenal von Paragrafen und Personal für potenzielle Bürgerkriege; Willy Brandt legitimierte dann als Elder
Statesman in den Wendejahren 1989/90 den Beginn der neuen expansiven Phase des deutschen Kapitals mit nationalen Tönen.
1968 ein internationales Datum
Die aktuelle Debatte um 1968 reduziert die Revolte nicht nur inhaltlich. Sie "übersieht" darüber hinaus fast vollständig, dass
sich das Ereignis nicht auf Westdeutschland beschränkte. Ähnliche Revolten gab es in mehr als einem dutzend Ländern in West und Ost; die 68er
Bewegung hatte einen internationalen Charakter.
Mit den westdeutschen Vorgängen noch am ehesten vergleichbar waren die britischen
Studentenproteste, die zum selben Zeitpunkt stattfanden und die ihre Basis vor allem an den Universitäten hatten. In Großbritannien wirkten die Proteste
jedoch schon in größerem Maße in die übrige Gesellschaft, in die Labour Party und den Gewerkschaftsverband TUC.
In Frankreich mündete die Studentenrevolte in einen Massenstreik, an dem sich bis zu 10
Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligten. Der französische Präsident General de Gaulle flog auf dem Höhepunkt der
"Unruhen" nach Baden-Baden, um sich bei dem Algerienkriegserprobten General Massu versichern zu lassen, dass im "Notfall"
regierungstreue Truppen eingreifen würden.
In Italien erfasste die Revolte vor allem in den Jahren 1969 und 1970 die Arbeiterbewegung. In der
Folge blieben maßgebliche organisatorische Spaltprodukte der Studentenbewegung wie Lotta Continua von einem Sektierertum, wie wir es in der BRD den 70er
Jahren erlebten, verschont. In Spanien, das damals noch unter der faschistischen Franco-Diktatur stand, lösten Studentendemonstrationen in Madrid einen
Massenstreik von 100000 Arbeiterinnen und Arbeitern aus.
In den USA war das Zentrum der Bewegung zunächst ebenfalls der universitäre
Campus; das überwiegende Thema war naturgemäß der Protest gegen den Krieg in Vietnam. Hier ergab sich jedoch schnell eine
produktive Verbindung zur radikaldemokratischen Bürgerrechtsbewegung der schwarzen Bevölkerung unter Martin Luther King und zur radikalen und
sozialistischen Bewegung der Black Panther Party und von Malcom X. Gemeinsame Mobilisierungen gegen den Krieg mündeten in Demonstrationen mit
mehreren hunderttausend Menschen. In Japan kam es zur selben Zeit zu gewaltigen Massenprotesten gegen die US-Militärpräsenz, aber auch gegen den
Bau des Großflughafens Narita bei Tokyo.
Auch in der kapitalistischen Dritten Welt gab es 1967/68 vergleichbare Proteste. Hier sind die
Ereignisse in Mexiko ins Gedächnis zu rufen. In Mexiko-Stadt kam es wochenlang zu militanten studentischen Protesten, u.a. gegen den US-Krieg in Vietnam.
Im Oktober, wenige Tage vor Beginn der Olympischen Spiele, griffen mexikanische Sondereinheiten mit Waffengewalt im Tlatelolco-Viertel (auf dem Platz der drei
Kulturen) eine friedliche Demonstration mit Waffengewalt an bis zu 500 Menschen wurden erschossen. IOC-Präsident Brundage freute sich, dass
"die olympische Flamme am 12.Oktober friedlich in das Stadium getragen werden wird". Dort allerdings grüßten dann schwarze US-Athleten
mit erhobener Black-Panther-Faust.
In Brasilien gab es im April und Oktober 1968 militante studentische Proteste trotz einer fest
etablierten Militärdiktatur, die mit Terror und Folter reagierte. Auch in Griechenland, das seit April 1967 von einer Militärjunta mit NATO-
Unterstützung regiert wurde, regte sich in diesem Jahr erster, massiver Protest erneut getragen von Studierenden.
In Mittel- und Osteuropa gab es 1968 in Belgrad, Warschau und Prag Massenaktionen, die zu einem
erheblichen Umfang von jungen Menschen und Studierenden getragen waren. Sie zielten in erster Linie auf eine demokratische Reform des bürokratisch-
stalinistischen Systems. Gefordert wurden demokratische Freiheiten, freie Gewerkschaften und ein Mehrparteiensystem. Man lese heute die Schrift der polnischen
Studentenführer dieser Zeit, Jacek Kuron und Karol Modzelewski, Monopolsozialismus. Offener Brief an die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei: Die darin
vorgetragenen Ziele unterscheiden sich nur unwesentlich von Vorstellungen, die heute demokratische Sozialistinnen und Sozialisten von einer alternativen
Gesellschaft zum Kapitalismus haben.
Doch das Regime unter Gomulka reagierte mit Repression und einer antisemitischen Kampagne;
Innenminster Moczar brandmarkte die studentischen Führer als jüdische "fünfte Kolonne". Eine Folge dieser Kampagne war
übrigens, dass der legendäre Führer der "Roten Kapelle", Leopold Trepper, ehemaliger Chef der erfolgreichsten antifaschistischen
Geheimdienstorganisation in NS-Deutschland, der in Hitlers KZ und in Stalins Gulag gesessen hat, aus Polen nach Israel emigierte.
In der CSSR hatte die Bewegung ihre Basis in der KP selbst; die Führung dieser KP
entwickelte ab Frühjahr 1968 das Modell eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" u.a. mit unabhängigen Gewerkschaften und
innerparteilicher Demokratie. Der Anhang des "Prager Frühlings" war am stärksten unter der Jugend. Die Reformbewegung in der
Tschechoslowakei wurde im August durch den Einmarsch von Warschauer-Pakt-Truppen und die kurzzeitige Internierung der KP-Führung unter Dub?cek
abgewürgt.
Natürlich hatten alle diese Revolten in West und Ost in erster Linie landes- und
systemspezifische Ursachen und Hintergründe. Sie müssen jedoch auch in einem internationalen Zusammenhang gesehen werden. Ganz offensichtlich lag
eine wechselseitige Beeinflussung vor vergleichbar den europäischen Revolutionen der Jahre 1848/49 120 Jahre früher.
Die allgemeine Botschaft all dieser Proteste war: Revolte ist möglich. Widerstand ist nicht nur
gerechtfertigt er kann auch erfolgreich sein.
Die Notwendigkeit von Revolte
Die entscheidende Lehre von 1968, die gegenwärtig entsorgt werden soll, lautet: Revolte ist nicht nur notwendig, Revolte kann auch erfolgreich sein.
Dabei war der Revolte des Jahres 1968 ein Erfolg nicht in Wiege gelegt, ganz im Gegenteil: die Vorgeschichte und die Rahmenbedingungen erschienen für eine
solche Bewegung extrem ungünstig.
Faschismus, Zweiter Weltkrieg und deutsche Spaltung hatten in Deutschland eine qualitative
Schwächung des antikapitalistischen Widerstands mit sich gebracht. In Westdeutschland kam es 1948 (Streiks gegen Demontagen) bis 1952 (Generalstreik der
Drucker) nochmals zu größeren Kampfaktionen von Arbeiterinnen und Arbeitern und den Gewerkschaften. Danach herrschte jedoch weitgehende
Klassenruhe was die Arbeiterklasse betrifft bis 1969. An eine antikapitalistische Studentenrevolte dachte damals noch niemand; marxistische Theoretiker
hätten eine solche wohl auch unter Verweis auf die "Klassenlage der Studenten" ausgeschlossen.
Wer heute rückblickend untersucht, wie es zu dieser Revolte kommen konnte, der kann
fünf Stränge ausmachen, die auf das Jahr 1968 zuliefen.
Da ist zum ersten die Verschiebung der Parteienlandschaft nach rechts, die seit Anfang der 50er Jahre
stattfand und die links zunehmend ein Vakuum offen ließ.
Die CDU des Ahlener Programms von 1949 stand zumindest programmatisch links von der
Adenauer-CDU Mitte der 50er Jahre und danach. Die KPD scheiterte 1952 an der 5%-Hürde und wurde 1956 verboten. Die SPD rückte mit ihrem
Godesberger Parteitag 1959 und ihrem Ja zur Marktwirtschaft, zu Bundeswehr und NATO im Sauseschritt nach rechts und verkündete 1961, eine SPD-
Mitgliedschaft und eine Mitgliedschaft im bis dahin SPD-nahen Sozialistischen Deutschen Studentenverband (SDS) sei "unvereinbar". Dass sich daraus
1967/68 Kern & Kader der Außerparlamentarischen Opposition bilden sollte, ahnte noch niemand.
Eine letzte Verschiebung des Parteiengefüges nach rechts brachte der Dezember 1966, als die
SPD mit der CDU/CSU erstmals eine Große Koalition bildete, u.a. um die Notstandsgesetze mit entsprechenden Grundgesetzänderungen zu
verabschieden.
Ein zweiter Strang, der auf "1968" zuführt, waren unterschiedliche
radikaldemokratische, antimilitaristische und pazifistische Strömungen, die in Westdeutschland seit den 50er Jahren existierten und die den
"Klassenfrieden" immer wieder störten. Da gab es zunächst Anfang der 50er Jahre die Bewegung gegen die
Wiederbewaffnung ("Helm ab"), die mit der "Paulskirchen-Bewegung" konkretisiert wurde. Ab Mitte der 50er Jahre kam es zur Bewegung
gegen atomare Bewaffnung ("Atomtod"). Schließlich entwickelte sich die Ostermarsch-Bewegung ab Anfang der 60er Jahre. 1967 und 1968 riefen
SDS und Ostermarsch-Initiativen gemeinsam zum Ostermarsch gegen Militarismus und Krieg auf. Aus den Ostermarsch-Demos mit hunderten und wenigen tausend
Beteiligten wurden nun Ostermärsche mit vielen zehntausenden.
Einen dritten Strang stellten die strukturellen Veränderungen im Ausbildungssektor und die
heranwachsende Strukturkrise an den Hochschulen dar. Abgesehen von einer kurzen Phase um 1848 spielten Studierende in Deutschland im 19. und 20.Jahrhundert
politisch überwiegend eine reaktionäre Rolle. Ihre kleinbürgerliche und bürgerliche Herkunft und ihre Karriereperspektive, als
"Unteroffiziere des Kapitals" eingesetzt zu werden, trieben sie zu rechten, oft offen faschistischen Positionen. Aus ihnen rekrutierten sich Freikorps, die
nach dem Ersten Weltkrieg bewaffnet gegen aufständische Arbeiter vorgingen. Unter ihnen hatten die Nazis bereits in den 20er Jahren massenhaften Zulauf.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es allerdings weltweit und in der BRD zu massiven
Veränderungen hinsichtlich der Rolle der Intelligenz in der Klassengesellschaft. Es kam, wie Marx dies vorhersagte, zur "reellen Subsumtion" der
Intelligenz "unter das Kapital"; Wissenschaft wurde zunehmend in den allgemeinen Produktionsprozess integriert. Statt einigen tausend Privatlehrern, die
noch im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts den Ausbildungsbereich dominierten, gab es nunmehr hunderttausende Lehrerinnen und Lehrer, die eine allgemeine
Ausbildung zu vermitteln hatten. Hunderttausende Akademikerinnen und Akademiker sind heute in den Betrieben Bestandteil der lohnabhängigen Klasse.
Zunehmend können die durchschnittlichen Absolventinnen der Universitäten nicht mehr auf die Berufsperspektive setzen, nach dem Uniabgang Mitglied
einer kleinen elitären Schicht zu sein.
In Zahlen ausgedrückt: 1910 kamen im Deutschen Reich noch 11 Studenten auf 10000
Einwohner. 1921 waren es mit 19 rund doppelt so viel. 1950 lag diese Zahl in Westdeuttschland ähnlich hoch (20 Studis auf 10000 Einwohner). 1970 allerdings
kamen 58 Studierende auf 10000 Einwohner zweieinhalbmal mehr als zwei Jahrzehnte zuvor. Heute zählen wir 225 Studierende pro 10000 Einwohner.
Diese Vermassung der universitären Ausbildung fand trotz weitgehend gleichbleibender
universitärer Strukturen statt: Die Zahl der Studierenden je Professor bzw. Assistent wuchs von Jahr zu Jahr; die Hierarchien blieben starr, bürokratisch
und feudal. Der APO-Ruf "Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren" hatte eine ausgesprochen reale strukturelle Basis.
Wie so oft in der Geschichte schlugen sich diese Veränderungen an der materiellen Basis erst
mit Verzögerung dann allerdings mit unerwarteter Klarheit im Überbau nieder. Sehr deutlich wird das am Beispiel der Freien
Universität Berlin (FU). 1963 wurde hier ein gewisser Eberhard Diepgen zum AStA-Vorsitzenden gewählt. Politisch stand er ziemlich genau da, wo er
heute steht; er war 1963 Mitglied einer schlagenden studentischen Verbindung, die im übrigen damals in Westberlin offiziell verboten war. Damit entsprach die
Studentenvertretung der Unistruktur: autoritär und feudal bis zum Anschlag. Vier Jahre später sollte der SDS den AStA erobern was wiederum
die Veränderungen in der Funktion universitärer Ausbildung reflektierte.
Das Ende der Pax Americana…
Der vierte Strang, der zu 1968 führt, ist die Erschütterung der damaligen "Pax Americana", eines "Friedens", der auf der
überragenden US-Militärmacht gründete. Die USA waren aus dem Zweiten Weltkrieg mit dem Nimbus des reichen und moralischen Siegers
hervorgegangen. Dieser Nimbus war durch das militärische Patt im Koreakrieg 195052 nur geringfügig angekratzt worden. Die kapitalistische
Welt wurde in den Jahren 19451965 mehr als heute von den USA dominiert militärisch, politisch und wirtschaftlich. Beispielsweise stammten
1960 noch mehr als 50% aller Pkw, die irgendwo auf der Welt hergestellt wurden, von den drei US-Konzernen GM, Ford und Chrysler eine Wirtschaftsmacht,
die die USA seither nie mehr wiederherstellen konnten und die auch heute die drei größten Autokonzerne nicht mehr, oder noch nicht wieder,
ausüben. Der Niedergang der britischen, französischen, niederländischen und portugiesischen Kolonialmacht öffnete ein Vakuum, das zu
einem erheblichen Teil von US-Konzernen und US-Militärs ausgefüllt wurde.
Die Pax Americana erhielt durch den Sieg der kubanischen Revolution 1959 und die Niederlage des
CIA bei der Invasion in der Schweinebucht einen ersten Riss. Die Popularität von Ernesto "Che" Guevara in der internationalen Studentenrevolte
1967/68 reflektierte dies. Die entscheidende Erschütterung der militärischen Vorherrschaft der USA brachte allerdings der Vietnamkrieg. Ab 1966
und parallel mit den Erfolgen der Befreiungsstreitkräfte wurde die Berichterstattung über diesen Krieg kritischer; Reportagen über
die grausame Kriegführung, den Einsatz von chemischen Gasen und Entlaubungsmitteln ("Agent Orange", Napalm) häuften sich. Im selben
Jahr veranstaltete der SDS den ersten Vietnamkongress.
1967 bis Anfang 1968 bestimmten die militärischen Erfolge der FNL (Vietcong) zunehmend
das Bild; die USA mussten ihre Truppen immer mehr aufstocken; ihre südvietnamesischen Bündnispartner (Diem, Khy, Thieu) erwiesen sich zunehmend
als Marionetten. Anfang 1968 tauchten mit der "Tet-Offensive" erfolgreiche Guerilla-Einheiten mitten in Saigon und vor der US-Botschaft auf. Nach dem
Nimbus der Moral schwand nun noch der Nimbus der unbezwingbaren Militärmacht.
Der SDS veranstaltete im Februar 1968 fast zeitgleich zur Tetoffensive seinen zweiten
Vietnamkongress. So wie der Krieg in Vietnam als internationaler geführt wurde für die USA mit Truppenhilfe aus Australien, Neuseeland und
Thailand und mit erheblicher wirtschaftlicher, finanzieller und logistischer Unterstützung durch die westlichen Alliierten, u.a. die BRD so
präsentierte sich auf dem großen Vietnamkongress an der TU-Berlin die Solidarität mit dem vietnamesischen Volk als eine internationale.
Maßgebliche ausländische Redner auf dem Kongress waren Alain Krivine, einer der führenden Köpfe der studentischen Revolte in Paris
(heute Europaparlamentarier der trotzkistischen Liste Lutte Ouvrière/Ligue Communiste Révolutionnaire); Tariq Ali, führender Vertreter der
britischen Studentenrevolte (heute Regisseur und Buchautor), der marxistische Theoretiker Herbert Marcuse aus den USA und der belgische Marxist und
Ökonom Ernest Mandel.
Der vierte Strang, der auf die Revolte von 1968 zuführte, war somit die internationale
Solidarität, die vor allem durch den US-Krieg in Vietnam gespeist wurde.
…und des Wirtschaftswunders
Der fünfte Entwicklungsstrang, der auf 1968 zuführt, liegt in der Ökonomie und bei den Gewerkschaften begründet. Der scheinbare
Klassenfrieden in Westdeutschland und in Westeuropa war in erheblichem Maß dem sog. westdeutschen "Wirtschaftswunder" geschuldet. Im
Zeitraum 19501967 gab es in der BRD einen scheinbar dauerhaften ökonomischen Aufschwung. Noch bis 1956 lag die Massenerwerbslosigkeit
über einer Million; 1961 waren es nur noch 161000 offiziell registrierte Erwerbslose im Jahresdurchschnitt. Ohne Zweifel ergänzte die positive
wirtschaftliche Entwicklung die oben erwähnten Elemente (Krise, Faschismus, Krieg, Spaltung), die eine weitgehende politische Integration der
Lohnabhängigen und der Gewerkschaften in das kapitalistische System bewirkten.
Mitte der 60er Jahre kam es jedoch zu ersten Brüchen zunächst mit einer
beginnenden Strukturkrise an der Ruhr (Bergbau und Stahlindustrie). 1966/67 gab es die erste Nachkriegsrezession: für kurze Zeit sackten die
Industrieproduktion und die Entwicklung des Bruttosozialprodukts in den Minusbereich; die Zahl der Erwerbslosen stieg kurzzeitig auf 780000. Heute, angesichts
einer fünfmal höheren "Sockelarbeitslosigkeit", mag es kaum verständlich sein, dass in den Jahren 1966/67 diese Rezession wie ein
Schock wirkte: Sie zerstörte den Nimbus "Wirtschaftswunder"; sie brachte die Ablösung der CDU-CSU-FDP-Regierung durch eine
Große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Und diese leitete, unter SPD-Wirtschaftsminister Schiller und CSU-Finanzminister Strauß, Maßnahmen
ein, mit Hilfe einer keynesianischen Wirtschaftspolitik die Konjunktur wieder anzukurbeln und mit einer "Konzertierten Aktion" (heute heißt das
"Bündnis für Arbeit") die Gewerkschaften einzubinden. Damals war das erfolgreich.
Die Industriegewerkschaft Metall (IGM) hatte sich in all dieser Zeit ein gewisses allgemein-
politisches Engagement erhalten. Insbesondere die mehrfachen Versuche, das Grundgesetz zu ändern und Notstandsgesetze die u.a. die
Möglichkeit eines Einsatzes der Bundeswehr gegen Streikende vorsehen zu verabschieden, stießen bei dieser größten
Einzelgewerkschaft auf Widerstand. Am Vorabend und auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte kam es zu einem historischen Bündnis: 1965 und 1967
veranstalteten IG Metall und SDS gemeinsam zwei Kongresse, die dem Thema Notstandsgesetze gewidmet waren ("Notstand der Demokratie"). Im
Herbst 1968 gab es der Teilnehmerzahl nach die größten Demonstrationen. Sie richteten sich gegen die Notstandsgesetze; aufgerufen
hatten SDS und IG Metall.
Eine gewisse Berührung zwischen der studentischen Bewegung und der traditionellen
Arbeiterbewegung bestand also auch 1967/68. Nach den militanten APO-Protesten, die auf das Attentat auf Rudi Dutschke an Ostern 1968 folgten, verkündete
der damalige Bundesinnenminister Benda vor dem Bundestag: Unter den "angeklagten Rädelsführern" der "Osterunruhen"
hätten sich "92 Schüler, 285 Studenten, 185 Angestellte und 150 Arbeiter" befunden. Bendas Folgerung: "Sie sehen, meine Damen und
Herren, wie falsch es wäre, die Gewaltaktionen als reine Studentenaktionen zu bezeichnen."
Das änderte nichts daran, dass die Revolte des Jahres 1968 in Westdeutschland in erster Linie
von Studentinnen und Studenten getragen wurde. Ohne Zweifel war es historisch gesehen eine Tragödie, dass es erst ein Jahr nach dem Höhepunkt der
Studentenrevolte und mitten im Erstarrungs- und Niedergangsprozess der APO zu nichtgewerkschaftlich organisierten, sogenannen "wilden Streiks" kam.
Diese Streiks kamen völlig unerwartet; an ihnen beteiligten sich rund 150000 Lohnabhängige. In dem weitgehenden Auseinanderfallen von
Studentenprotesten und Arbeiterbewegung ist ein wesentlicher Unterschied zwischen den Ereignissen in Westdeutschland und denjenigen im "Mai 1968"
in Frankreich sowie den Kämpfen in Italien in den Jahren 1968 und 1969 zu sehen, bei denen jeweils Studentenrevolte und Massenstreiks zusammenfielen.
Charakter und Inhalte der 68er Revolte
In der gegenwärtigen Debatte um 1968 werden Charakter und Inhalte dieser Revolte weitgehend verfälscht und reduziert. Angeblich ging es
primär um "Gewalt". Hingewiesen wird auf einen "Generationenkonflikt". Gelegentlich ist noch von Protesten gegen den Vietnamkrieg
die Rede. Doch diese Erklärungen bewegen sich ausschließlich auf der Oberfläche des Geschehens.
Zunächst einmal handelte es sich um eine Revolte, die im Wortsinn "radikal" war,
das heißt, sie ging in vielerlei Hinsicht an die Wurzeln der bürgerlichen Gesellschaft. Die Revoltierenden stellten die offizielle Version der
westdeutschen Geschichte mit einer "Stunde Null" im Jahr 1945 in Frage. Der Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus und die
Kontinuität der deutschen Eliten vom Kaiser zu Hitler bis Adenauer und Erhard wurde thematisiert. Der verallgemeinerte Antikommunismus
insbesondere in der "Frontstadt" Westberlin wurde hinterfragt. Jede Art von Hierarchie, alle unausgewiesenen "Autoritäten"
wurden abgelehnt. Zu Recht wurde die Bewegung bald als "antiautoritäre" bezeichnet. Diese antiautoritäre Kritik erstreckte sich
konsequenterweise auch auf die Formen des bürgerlichen, spießigen Zusammenlebens; es entstanden tausende Wohngemeinschaften und Kommunen und
vor allem in den 70er Jahren hunderte "antiautoritäre" Kindergärten. Entsprechende Auswirkungen und Wechselwirkungen
gab es in der Kultur (Straßentheater), der Musik (Rockmusik) und in der Sexualität.
Die politischen Themen, die von SDS und außerparlamentarischer Bewegung aufgegriffen
wurden, waren ebenso breit gestreut: Der Besuch des Mörders von Lumumba, Moise Tschombé, in Berlin 1964; der Schah-Besuch 1967, im Gefolge
dessen der Demonstrant Benno Ohnesorg am 2.Juni erschossen wurde; die Ermordung Che Guevaras im Oktober 1967 und schließlich die unterschiedlichen
Etappen des US-Kriegs in Vietnam waren Anlässe, bei denen das Verhältnis zur Dritten Welt thematisiert und internationale Solidarität praktisch
geübt wurde.
Neben dem Internationalismus war die fehlende Demokratie in Westdeutschland ein
ähnlich wichtiges Thema. Es konkretisierte sich in der Kritik der "Ordinarienuniversität", im Kampf gegen die Notstandsgesetze (siehe oben)
und gegen die Monopolisierung der Medien durch wenige Konzerne, in Westberlin insbesondere durch den Springer-Konzern. Aus der Rolle der Medien
erklärten Theoretiker wie Herbert Marcuse ("repressive Toleranz", "eindimensionaler Mensch") die weitgehende Integration der
Bevölkerung im Allgemeinen und der Arbeiterklasse im Besonderen in das kapitalistische System.
Nach dem Niedergang der 68er Revolte war u.a. seitens der DKP oder der selbsternannten
Führer maostalinistischer Zirkel oft zu hören, es habe sich dabei um eine "kleinbürgerliche Bewegung" gehandelt, die
insbesondere nicht die "Bedeutung der Arbeiterklasse" erkannt habe. Das trifft bestenfalls bedingt zu. Wer heute z.B. das Spiegel-Interview mit Rudi
Dutschke aus dem Sommer 1967 liest, ist erstaunt, wie realistisch Dutschkes Einschätzung diesbezüglich war:
"Spiegel: Sie sagen, Sie wollten die Auseinandersetzungen in die Betriebe tragen…
Dutschke: Das ist eine Sache, die nicht von außen hineingetragen werden kann. Wir
können nicht zu den Arbeitern in den Betrieben gehen und sagen, nun macht mal einen Streik. Die Möglichkeit für Streiks bietet sich allein auf
Grundlage der bestehenden Widersprüche in der Ökonomie … Die Führung von Streiks liegt selbstverständlich in den Händen der
selbstätigen Betriebsräte, Vertrauensleute und der wirklich die Interessen der Arbeiter vertretenden Gewerkschaftler. Wir werden jedoch auf Wunsch
Hilfsfunktionen übernehmen etwa Unterstützung des Streiks durch Geldsammlungen, Aufklärung der Bevölkerung über
Voraussetzungen und Bedingungen des Streiks, Einrichtung von Kindergärten und Großküchen…"
Tatsache 1968 war: Arbeiterklasse und Gewerkschaften standen überwiegend
"abseits" der Bewegung; oft sogar dieser feindlich gegenüber. Die inneren Konflikte zwischen Lohnarbeit und Kapital waren, wie beschrieben,
gering entwickelt und nicht "reif". Die relative Isoliertheit der Revolte war daher in erster Linie objektiv bedingt. Projekte wie sie bald darauf von
maostalinistischen Gruppen unter Führung von Joscha Schmierer (damals KBW; heute Fischer-Berater) oder unter Christian Semler (damals KPD/AO; heute
Taz-Autor), aber auch von Sponti-Gruppen wie dem "Revolutionären Kampf" mit Daniel Cohn-Bendit und Josef Fischer entwickelt wurden, liefen
genau auf dieses voluntaristische und autoritäre, u.a. von Dutschke abgelehnte Modell hinaus: die Konflikte "in die Betriebe hinein zu tragen" und
sich als selbsternannte Avantgarde der Arbeiterklasse zu kostümieren.
Die 68er Bewegung zeichnete sich darüber hinaus durch einen produktiven Rückgriff
auf den Marxismus aus. Der dumpfe Antikommunismus von CDU, SPD und DGB-Führung wurde abglehnt. Zurückgewiesen wurde jedoch auch die
offizielle "Orthodoxie" von DDR, SED, KPD/DKP bzw. SEW. SDS und APO verstanden die marxistische Theorie in erster Linie als kritische Methode.
Diese diente zur materialistischen und historischen Analyse der Gesellschaft, zur Aktualisierung der Analyse von Weltwirtschaft und kolonialer Revolution (siehe die
auch heute noch gut lesbare Schrift von Horlemann/Gäng, Vietnam. Genesis eines Konflikts), zur Untersuchung der aktuellen Medienmacht und der
"Manipulation von Bewusstsein" (dazu Herbert Marcuse, aber auch der damals kritisch-produktive H.M.Enzensberger), oder zur Aktualisierung der
ökonomischen Analyse des Kapitalismus (siehe Ernest Mandels Bücher Marxistische Wirtschaftstheorie und Der Spätkapitalismus; später
die Untersuchungen von Elmar Altvater).
Diese marxistische Rezeption war meilenweit entfernt von Ideologie und Politik der SED
weswegen diese die Studentenrevolte auch unterschätzte und als "kleinbürgerlich" denunzierte. Gelegentlich wurde der Bruch offenkundig.
So 1968, als bei den Weltjugendfestspielen in Sofia die SDS-Delegation vor der US-Botschaft in Sofia gegen den Vietnamkrieg demonstrieren wollte und in
einer konzentrierten Aktion von bulgarischen Geheimdienstleuten und westdeutschen SED-nahen "Kommunisten" verprügelt wurde.
Welche Lehren?
Die aktuelle Entsorgung der 68er soll uns sagen: Widerstand ist unmöglich. Und die in der jüngeren deutschen und internationalen Geschichte
wichtigste Revolte, diejenige der Jahre 1967/68, war ein Misserfolg, wenn nicht ein "großes Missverständnis": Ein paar junge Leute, die
"Jugendsünden" begingen, blinkten lediglich links, um rechts in Ministersesseln zu landen.
Die tatsächliche Bilanz ist eine entgegengesetzte: Die Revolte war nicht nur berechtigt. Sie
kann auch keineswegs schlicht als Niederlage abgebucht werden. Sie kann bis heute natürlich in Grenzen auf eine positive Bilanz verweisen.
Beispielsweise wurde mit ihr das KPD-Verbot ein BVGUrteil aus dem Jahr 1956, das bis heute gültig ist und das generell
authentischsozialistische Parteien mit Illegalisierung bedroht faktisch außer Kraft gesetzt. Die Freiheit der Demonstration wurde
zurückerobert. Die feministische Bewegung ist ohne 68 nicht denkbar, somit auch nicht all der "progressive" Diskurs über die Gleichstellung
der Geschlechter, mit dem sich die Parteien in der Bundesregierung heute schmücken. Dasselbe gilt für die Ökologiebewegung und die Technik-
und Produktkritik, die sie in Gang gesetzt hat. Und damit ist die Aufzählung der positiven Resultate von 1968 keineswegs erschöpft.
In Ländern, in denen es 1968 oder um dieses Datum herum keine Revolte dieser Art gab, sind
auch heute noch kulturelle und politische Unterschiede erkennbar. Beispielsweise war vor 1965 die Mehrheit der in Westdeutschland oder Österreich
Studierenden Mitglied in einer meist reaktionären oder zumindest konservativen studentischen Verbindung. Mit der 68er Revolte sank dieser
Anteil in Westdeutschland auf unter 20%. In Österreich, wo es keine Studentenrevolte gab und wo die Historiker stattdesssen von "einer heißen
Viertelstunde" sprechen, ist auch heute noch der größere Teil der Studierenden Mitglied in einer studentischen Verbindung.
Ohne die 68er Revolte in falscher Nostalgie zu verklären und ohne die Errungenschaften der
emanzipatorischen Bewegungen seither zu verkennen, sollten wir uns gerade heute die wichtigsten drei Lehren dieses geschichtlichen Einschnitts
vergegenwärtigen:
* Da ist erstens die Erkenntnis, dass plötzliche politische Brüche möglich sind.
Nur rückblickend "post festum" lassen sich die Ereignisse des Jahres 1968 so analysieren, dass diese wie ein logisches Produkt der
politischen Geschichte erscheinen. Festzuhalten bleibt, dass dieses Ereignis weder in der BRD noch in einem anderen Land vorhergesehen wurde.
* Da ist zweitens die Erkenntnis: Ein Aspekt bei der "Ästhetik des Widerstands"
ist seine internationale Wechselwirkung. Wenn heute junge Menschen in Nizza, Prag, Porto Alegre, Zürich und Davos sich für internationale Formen des
Widerstands engagieren und internationale Solidarität praktizieren, dann spüren sie bewusst und unbewusst dieser inneren Wechselwirkung und Dynamik
nach.
* Drittens unterstreichen die Ereignisse des Jahres 1968 die Bedeutung der Organisation von
sozialistischer Kritik und der Rolle von sozialistischen Organisationen meinetwegen heute: von der Vernetzung des Widerstands. Überall, wo es solche
Formen der Organisation von Widerstand gab, waren die Revolten nicht nur spontan und kurz und nicht so schnell integrierbar und manipulierbar. Die Jeunesse
Communiste Révolutionnaire (JCR) in Frankreich, die Students for a Democratic Society (SDS) und die Black Panther Party in den USA, der SDS in
Westdeutschland spielten eine maßgebliche Rolle dafür, dass diese Protestbewegung bis heute Wirkung und Nachwirkung zeigt. Der westdeutsche SDS
wiederum ist beispielhaft dafür, dass auch eine relativ kleine Zahl von organisierten vernetzten und mehr oder weniger bewussten Individuen
(der SDS zählte auch auf seinem Höhepunkt nur 2000 Mitglieder) entscheidend sein können, wenn sie im richtigen Zeitpunkt ihre Erfahrung, ihr
Wissen und ihre individuelle Überzeugungskraft in die Waagschale werfen.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04