Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.06 vom 15.03.2001, Seite 11

Neue Vollbeschäftigung — oder neuer Absturz?

Der EU-Gipfel in Stockholm

Am 23.März treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU in Stockholm zu ihrem turnusmäßigen Gipfel. Sie werden es nicht leicht haben — der Wind bläst ihnen stärker ins Gesicht als je zuvor.
Vor einem Jahr in Lissabon sah die Welt noch rosig aus: Das Wirtschaftswachstum in den USA wie in der Europäischen Union schien ungebrochen, der "Wachstumsmarkt" Computer-, Informations- und Biotechnologie erreichte in Frankfurt mit einem Index von 9000 Punkten einen Höchststand (am 10.März). Die Regierungschefs hatten scheinbar nicht mehr zu tun, als den Trend zu verlängern und mit weiteren Deregulierungsmaßnahmen zu unterstützen — und schon schlossen sie daraus auf ein neues Wirtschaftswunder, das die Senkung wenn nicht gar Überwindung der Massenerwerbslosigkeit möglich machen würde.
Das Zauberwort in Lissabon hieß: neue Vollbeschäftigung. Wohl wahr, die Ratsherren waren sich darüber im klaren, dass wirtschaftliches Wachstum allein die Erwerbslosenzahlen nicht senken würde. Die Regierungen mussten nachhelfen. Sie taten dies, indem sie zweierlei verkündeten:
1. Die Europäische Union müsse die gute Konjunktur nutzen, um im globalen Konkurrenzkampf der EU mit den USA und Japan Punkte zu machen. Das wirtschaftspolitische Ziel der EU wird seither mit den Worten umschrieben: "Europa muss zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden — der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen."
2. "Die Erreichung dieses Ziels wird die Union in die Lage versetzen, wieder Voraussetzungen für Vollbeschäftigung zu schaffen."
Zum ersten Mal seit dem Ende der 80er Jahre traute man sich wieder, den Begriff Vollbeschäftigung in den Mund zu nehmen. Allerdings ist recht mager, was die EU heute darunter versteht: Bis zum Jahr 2010 soll die Beschäftigungsquote auf 70% steigen (derzeit 63%), die der Frauen auf 60%.
Die Ratsherren würden auch missverstanden, wollte man daraus ableiten, sie hätten sich verpflichtet, neue Arbeitsplätze zu schaffen, um wenigstens dieses niedrig gesteckte Ziel zu erreichen. Das erlauben weder die Beschäftigungspolitischen Leitlinien noch die Sozialpolitische Agenda, die in Stockholm auf der Tagesordnung stehen, Denn beide formulieren zwar das Ziel der Vollbeschäftigung, aber ausschließlich im Rahmen des engen Korsetts, das ihnen die Maastricht-Kriterien und der Stabilitätspakt angelegt haben: oberste Priorität für die Preisstabilität, die Entschuldung der öffentlichen Haushalte, die Gesundschrumpfung der sozialen Sicherungssysteme. Danach kommt lange nichts. Und erst dann und als Nebeneffekt kommen vielleicht soziale Belange.
Wie kommen Arbeitsplätze zustande, wenn die Wirtschaft Arbeitskräfte trotz guter Konjunktur entlässt und der Staat kein Geld in den zweiten Arbeitsmarkt stecken will? Die Beschäftigungspolitischen Leitlinien enthalten dazu folgende Vorschläge:
1. Ausbildung und Weiterbildung in den Informations- und Kommunikations-Technologien, weil hier der Wirtschaft qualifizierte Arbeitskräfte fehlen (die Leitlinien sagen allerdings nichts darüber aus, wer dies leisten soll, wenn die Unternehmer sich nach wie vor verweigern, die Kommunen ausbluten und die Länder auf Haushaltsdisziplin achten).
2. Entfernung von Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen aus der Erwerbslosenstatistik. Das liest sich in den Leitlinien so: "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, bis Ende 2002 allen arbeitslosen Jugendlichen innerhalb von sechs Monaten, und allen arbeitslosen Erwachsenen innerhalb von zwölf Monaten nach Eintritt der Arbeitslosigkeit einen Neuanfang zu ermöglichen."
Wie immer der aussehen mag; das muss keineswegs ein neuer dauerhafter Arbeitsplatz sein, es kann auch eine Qualifizierungs-, eine Trainings- oder eine sonstige Maßnahme sein, mit dem die Betroffenen erst mal wieder aus dem Leistungsbezug draußen sind (s. auch Seite 5).
Und der Wiedereintritt soll ihnen erschwert werden: Sozialleistungs-, Steuer- und Ausbildungssysteme sollen dahingehend überprüft werden, dass sie die "Beschäftigungsfähigkeit" fördern. Dahinter verbirgt sich schon seit geraumer Zeit das Vorhaben, Erwerbslosen wie Sozialhilfebeziehenden nur noch gegen Arbeitsleistung Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe zu zahlen, worauf sie nach geltendem Recht aber Anspruch haben.
3. Förderung der Selbständigkeit — u.a. durch regionale und örtliche Beschäftigungsinitiativen, in die mehr und mehr private Jobvermittler eingebunden werden sollen.
4. Aktives Altern: Die Unsitte der Frühverrentung, um jüngeren Arbeitnehmern die Chance auf einen Arbeitsplatz zu bieten, muss ein Ende haben. Zwar wollen die Unternehmer ältere Arbeitnehmer gar nicht behalten, schon gar nicht neu einstellen, aber wenn man das Rentenalter heraufsetzt könnte man vermeiden, dass sie zu früh in den Bezug kommen.
Das erfordert allerdings, dass die EU die sozialen Bereiche, in denen sie koordinierend tätig ist, ausweitet, obwohl sie für die Sozialpolitik formal keine Verantwortung übernimmt. In der Sozialagenda ist erstmals ein umfassender Anspruch formuliert: In die Mangel der EU-Verfahren (Nationale Aktionspläne nach dem Vorbild der Beschäftigungspolitik) sollen künftig auch die sozialen Schutzsysteme, die Alterssicherung und die Gesundheitsversorgung genommen werden. Nicht einmal die Löhne sind vor einer EU-Regulierung sicher: Die EU- Kommission strebt auch hier auf europäischer Ebene eine Koordination mit den "Sozialpartnern" an.
In Stockholm werden die Mitgliedstaaten erstmals Nationale Aktionspläne zu den sozialen Schutzsystemen vorlegen; und erstmals wird hier über ein geeignetes Verfahren gesprochen, die Rentenpolitik EU-weit zu koordinieren.
Wie gesagt, dies ganze Instrumentarium wurde entwickelt vor dem Hintergrund des Vertrauens in eine weiter boomende Wirtschaft. Was aber, wenn der Absturz der New Economy "aus dem Parkett des schnellen Geldes eine große Kapitalvernichtungsmaschine" macht, wie die Süddeutsche Zeitung (10.3.2001) unkt? Man kann gespannt sein, ob die Ratsherren sich in Stockholm diese Frage stellen und wie sie sie beantworten.

Angela Klein

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