Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.07 vom 29.03.2001, Seite 5

Karten werden neu gemischt

Gründung von ver.di birgt Chancen und Gefahren

Nachdem sich die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG), Deutsche Postgewerkschaft (DPG), die Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen (HBV), die Industriegewerkschaft Medien (IG Medien) und die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr an den Tagen zuvor mit jeweils deutlichen Mehrheiten aufgelöst hatten, wurde mit dem Gründungskongress der Megagewerkschaft ver.di vom 19. bis 21.März in Berlin die größte Fusion in der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung vollzogen.
Ver.di mit ihren fast 3 Millionen Mitgliedern verweist die IG Metall somit auf Platz 2 in der Hitliste der Gewerkschaftsorganisationen der sog. freien Welt.
Als einfach konnte der Zusammenschluss der fünf Gewerkschaften wahrlich nicht bezeichnet werden. Zumindest in der HBV und der ÖTV gab es eine nicht unerhebliche Anzahl von skeptischen Stimmen, die das Erreichen der in den jeweiligen Satzungen festgeschriebenen 80%-Marke für die Auflösung über eine längere Zeit hinweg in Frage stellte. Vor allem in der ÖTV erhoben viele Funktionäre Bedenken hinsichtlich der ihrer Meinung nach zu geringen Zahl der zukünftigen Bezirksverwaltungen (bisher Kreis- bzw. Ortsverwaltungen), der zu weitgehenden Autonomie der Fachbereiche sowie der Budgetierungsrichtlinien.
Kritisch wird auch gesehen, dass es in dem mehrjährigen Fusionsprozess primär um die Struktur der Gewerkschaft ging und die wichtige Frage der politischen Orientierung weitestgehend vernachlässigt wurde.
Der Gründungskongress von ver.di mit seinen mehr als 1000 Delegierten war eher eine Art Pontifikalamt, wie ein Kollege der ehemaligen HBV ironisch bemerkte. Die Chance, eine Bilanz der vergangenen Jahrzehnte zu ziehen und neue Perspektiven zu entwickeln, um die Gewerkschaftsbewegung aus der Defensive herauszuholen, wurde in Berlin leider vertan. Es ist zu hoffen, dass die kommenden Monate dazu genutzt werden, in der neuen Organisation eine breite demokratische Debatte zu diesem Thema zu führen.
Es gibt zu viele, die der Illusion aufsitzen, die nun erreichte quantitative Stärke würde fast schon genügen, der Bundesregierung und den Arbeitgebern das Fürchten beizubringen. Auch der anhaltende Mitgliederschwund, der die ehemaligen fünf Gründungsgewerkschaften geschwächt hat, ist mit dieser Mammutfusion allein nicht aufzuhalten.
Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di muss sich, wie alle anderen Gewerkschaften auch, entscheiden, ob sie den Kurs der Sozialpartnerschaft gegenüber der Regierung und dem Kapital weiterfahren will wie bisher oder sich zukünftig als Kampforganisation in dieser Republik profiliert.
Eine Haltung bspw. wie in den letzten Tarifrunden, eine katastrophale Politik in der Frage der privaten Vorsorge bei der Rente und der Opportunismus im Bündnis für Arbeit muss schnellstens aufgegeben und zugunsten einer konsequenten Politik im Interesse der abhängig Beschäftigten korrigiert werden.
Es wird nicht einfach werden in der neugegründeten ver.di-Gewerkschaft. Zu unterschiedliche Kräfte tummeln sich in dieser Organisation. Zwischen der relativ fortschrittlichen IG Medien und der eher sozialpartnerschaftlich orientierten DAG liegen Welten.
Die dem Gründungskongress vorgelegenen programmatischen Anträge ("Für eine humane und innovative Arbeitszeitpolitik", "Für einen aktiven Wirtschafts- und Sozialstaat", "Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit", "Internationale Solidarität" u.a.) waren der Versuch, die divergierenden Positionen wenigstens einigermaßen unter einen Hut zu bringen. Was dabei herausgekommen ist, kann nur als dürftig bezeichnet werden. Eine intensive Diskussion zu den gut ein dutzend Anträgen fand deshalb auch kaum statt.
Bereits im Vorfeld des Kongresses wurden die unterschiedlichen Positionen durch die Entscheidungen der Gewerkschaftstage der IG Medien und der HBV hinsichtlich des Verbleibs im Bündnis für Arbeit deutlich. Im Gegensatz zu diesen beiden ehemaligen Gewerkschaften hat sich die ÖTV — auch mit ihrem neuen Vorsitzenden Frank Bsirske an der Spitze, der nunmehr Vorsitzender von ver.di ist — mehrheitlich zumindest für die nächste Zeit für eine weitere Mitarbeit in dem Bündnis ausgesprochen.
Aber die Debatte über die Sinnhaftigkeit dieser Position hält an. Bereits auf dem ÖTV- Gewerkschaftstag im November 2000 wurden von den Bezirken Nordrhein-Westfalen II und Bayern Anträge vorgelegt, die den Ausstieg aus dem Bündnis für Arbeit forderten. Es gilt nun, die Diskussion über diese und andere wichtige Fragen in ver.di voranzutreiben.
Ver.di birgt einige Gefahren, aber auch reale Chancen. Die Reduzierung der Anzahl der zukünftigen Bezirksverwaltungen kann in einigen Regionen zu einem Rückzug in der Fläche führen, was einen demokratischen Willensbildungsprozess durchaus behindern kann. Vor allem die relativ weitgehende Autonomie der Fachbereiche und die damit verbundene Bereichsbudgetierung bergen die Gefahr, dass 13 Kleingewerkschaften entstehen und die politische Ebene Bezirk bzw. Bezirksvorstand über zu wenig Einfluss verfügt.
Positiv dagegen ist bspw. der Teil der Satzung von ver.di, der die Kompetenzen und den Einfluss der Hauptamtlichen zugunsten der ehrenamtlichen und vor Ort gewählten Funktionäre beschneidet.
Die Auffassung derjenigen ÖTV-Mitglieder, die mit dem Argument dazu aufgerufen haben, gegen die Auflösung und somit gegen die Gründung von ver.di zu stimmen, weil die neue Gewerkschaft bürokratischer und undemokratischer sein wird, vergessen offenbar, dass auch die ÖTV eine sehr bürokratische Organisation gewesen ist. Durch die Neugründung von ver.di wird diesbezüglich erst einmal weder etwas besser noch schlechter.
Das Ziel, die deutschen Gewerkschaften aus ihrem Sozialpartnerschaftsdasein herauszuholen und zu kämpferischen und demokratischen Organisationen zu entwickeln, war in den vergangenen Jahrzehnten eine Aufgabe der Linken in den fünf Gründungsgewerkschaften und wird jetzt ebenso für die Zukunft deren Aufgabe in der großen Gewerkschaft ver.di sein müssen.

Frank Böhm

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