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Nachdem sich die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG), Deutsche Postgewerkschaft (DPG), die Gewerkschaft Handel, Banken,
Versicherungen (HBV), die Industriegewerkschaft Medien (IG Medien) und die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr an den Tagen zuvor mit
jeweils deutlichen Mehrheiten aufgelöst hatten, wurde mit dem Gründungskongress der Megagewerkschaft ver.di vom 19. bis 21.März in Berlin die
größte Fusion in der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung vollzogen.
Ver.di mit ihren fast 3 Millionen Mitgliedern verweist die IG Metall somit auf Platz 2 in der Hitliste der
Gewerkschaftsorganisationen der sog. freien Welt.
Als einfach konnte der Zusammenschluss der fünf Gewerkschaften wahrlich nicht bezeichnet werden.
Zumindest in der HBV und der ÖTV gab es eine nicht unerhebliche Anzahl von skeptischen Stimmen, die das Erreichen der in den jeweiligen Satzungen
festgeschriebenen 80%-Marke für die Auflösung über eine längere Zeit hinweg in Frage stellte. Vor allem in der ÖTV erhoben viele
Funktionäre Bedenken hinsichtlich der ihrer Meinung nach zu geringen Zahl der zukünftigen Bezirksverwaltungen (bisher Kreis- bzw. Ortsverwaltungen), der
zu weitgehenden Autonomie der Fachbereiche sowie der Budgetierungsrichtlinien.
Kritisch wird auch gesehen, dass es in dem mehrjährigen Fusionsprozess primär um die
Struktur der Gewerkschaft ging und die wichtige Frage der politischen Orientierung weitestgehend vernachlässigt wurde.
Der Gründungskongress von ver.di mit seinen mehr als 1000 Delegierten war eher eine Art
Pontifikalamt, wie ein Kollege der ehemaligen HBV ironisch bemerkte. Die Chance, eine Bilanz der vergangenen Jahrzehnte zu ziehen und neue Perspektiven zu
entwickeln, um die Gewerkschaftsbewegung aus der Defensive herauszuholen, wurde in Berlin leider vertan. Es ist zu hoffen, dass die kommenden Monate dazu genutzt
werden, in der neuen Organisation eine breite demokratische Debatte zu diesem Thema zu führen.
Es gibt zu viele, die der Illusion aufsitzen, die nun erreichte quantitative Stärke würde fast
schon genügen, der Bundesregierung und den Arbeitgebern das Fürchten beizubringen. Auch der anhaltende Mitgliederschwund, der die ehemaligen fünf
Gründungsgewerkschaften geschwächt hat, ist mit dieser Mammutfusion allein nicht aufzuhalten.
Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di muss sich, wie alle anderen Gewerkschaften auch,
entscheiden, ob sie den Kurs der Sozialpartnerschaft gegenüber der Regierung und dem Kapital weiterfahren will wie bisher oder sich zukünftig als
Kampforganisation in dieser Republik profiliert.
Eine Haltung bspw. wie in den letzten Tarifrunden, eine katastrophale Politik in der Frage der privaten
Vorsorge bei der Rente und der Opportunismus im Bündnis für Arbeit muss schnellstens aufgegeben und zugunsten einer konsequenten Politik im Interesse der
abhängig Beschäftigten korrigiert werden.
Es wird nicht einfach werden in der neugegründeten ver.di-Gewerkschaft. Zu unterschiedliche
Kräfte tummeln sich in dieser Organisation. Zwischen der relativ fortschrittlichen IG Medien und der eher sozialpartnerschaftlich orientierten DAG liegen Welten.
Die dem Gründungskongress vorgelegenen programmatischen Anträge ("Für eine
humane und innovative Arbeitszeitpolitik", "Für einen aktiven Wirtschafts- und Sozialstaat", "Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit", "Internationale Solidarität" u.a.) waren der Versuch, die divergierenden Positionen wenigstens einigermaßen unter
einen Hut zu bringen. Was dabei herausgekommen ist, kann nur als dürftig bezeichnet werden. Eine intensive Diskussion zu den gut ein dutzend Anträgen fand
deshalb auch kaum statt.
Bereits im Vorfeld des Kongresses wurden die unterschiedlichen Positionen durch die Entscheidungen der
Gewerkschaftstage der IG Medien und der HBV hinsichtlich des Verbleibs im Bündnis für Arbeit deutlich. Im Gegensatz zu diesen beiden ehemaligen
Gewerkschaften hat sich die ÖTV auch mit ihrem neuen Vorsitzenden Frank Bsirske an der Spitze, der nunmehr Vorsitzender von ver.di ist
mehrheitlich zumindest für die nächste Zeit für eine weitere Mitarbeit in dem Bündnis ausgesprochen.
Aber die Debatte über die Sinnhaftigkeit dieser Position hält an. Bereits auf dem ÖTV-
Gewerkschaftstag im November 2000 wurden von den Bezirken Nordrhein-Westfalen II und Bayern Anträge vorgelegt, die den Ausstieg aus dem Bündnis
für Arbeit forderten. Es gilt nun, die Diskussion über diese und andere wichtige Fragen in ver.di voranzutreiben.
Ver.di birgt einige Gefahren, aber auch reale Chancen. Die Reduzierung der Anzahl der zukünftigen
Bezirksverwaltungen kann in einigen Regionen zu einem Rückzug in der Fläche führen, was einen demokratischen Willensbildungsprozess durchaus
behindern kann. Vor allem die relativ weitgehende Autonomie der Fachbereiche und die damit verbundene Bereichsbudgetierung bergen die Gefahr, dass 13
Kleingewerkschaften entstehen und die politische Ebene Bezirk bzw. Bezirksvorstand über zu wenig Einfluss verfügt.
Positiv dagegen ist bspw. der Teil der Satzung von ver.di, der die Kompetenzen und den Einfluss der
Hauptamtlichen zugunsten der ehrenamtlichen und vor Ort gewählten Funktionäre beschneidet.
Die Auffassung derjenigen ÖTV-Mitglieder, die mit dem Argument dazu aufgerufen haben, gegen die
Auflösung und somit gegen die Gründung von ver.di zu stimmen, weil die neue Gewerkschaft bürokratischer und undemokratischer sein wird, vergessen
offenbar, dass auch die ÖTV eine sehr bürokratische Organisation gewesen ist. Durch die Neugründung von ver.di wird diesbezüglich erst einmal
weder etwas besser noch schlechter.
Das Ziel, die deutschen Gewerkschaften aus ihrem Sozialpartnerschaftsdasein herauszuholen und zu
kämpferischen und demokratischen Organisationen zu entwickeln, war in den vergangenen Jahrzehnten eine Aufgabe der Linken in den fünf
Gründungsgewerkschaften und wird jetzt ebenso für die Zukunft deren Aufgabe in der großen Gewerkschaft ver.di sein müssen.
Frank Böhm
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