Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.07 vom 29.03.2001, Seite 7

EU-Osterweiterung

Freizügigkeit auf dem Prüfstand

Niemand weiß genau, wie viele polnische Arbeiter am neuen Regierungssitz in Berlin mitgearbeitet haben. 1998 waren ungeachtet der nichtregistrierten Beschäftigten auf den Großbaustellen allein 8000 polnische Bauarbeiter in Berlin und Brandenburg zugelassen, die über Subunternehmen als Werksvertragsarbeiter beschäftigt waren und für einen Bruchteil des Lohns ihrer deutschen Kollegen arbeiteten. An den Berliner Großbaustellen waren sie mehrmals rassistischen Attacken deutscher Bauarbeiter ausgesetzt und polnische Hilfskräfte, die keine Arbeitsgenehmigung hatten, waren Zielscheibe zahlreicher Polizeirazzien. Mit weitreichenden Folgen: Während die Bauunternehmer mit Strafgeldern belangt wurden, die sie aus der Portokasse zahlen konnten, verloren die Wanderarbeiter in der Regel ihren letzten Lohn, wurden des Landes verwiesen und erhielten ein Einreiseverbot in die Bundesrepublik.

Geht es nach Bundeskanzler Gerhard Schröder, will er die Arbeitskräfte, die seinen Regierungssitz mitgebaut haben, auch nach dem offiziellen Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder zur Europäischen Union für mindestens sieben Jahre hinter die deutsche Ostgrenze verbannen. Sog. "Übergangsregelungen" sind das Instrument, mit dem die vielgepriesene "Freizügigkeit" innerhalb der EU einschränkt werden soll. Einzige Ausnahme: sollte der deutsche Arbeitsmarkt in bestimmten Branchen, z.B. im Informations- und Kommunikationssektor, Engpässe haben, könnte es Kontingentlösungen für entsprechend qualifizierte EU-Bürger aus den neuen Mitgliedstaaten geben.
Die "Freizügigkeit der Arbeitnehmer" ist eine der besonders sensiblen Fragen, die für die Beitrittsabkommen mit den zehn mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL) noch verhandelt werden muss. Auch die 15 EU- Mitgliedsländer sind sich da noch nicht einig.
Denn die Verfügbarkeit der Arbeitskraft über die alten Nationalgrenzen hinweg gehört neben dem freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zu den vier "Grundfreiheiten" des Kapitals auf dem Binnenmarkt der Europäischen Union. Während die deutsche und österreichische Regierung nachdrücklich für langfristige Übergangsregelungen eintreten, teilen andere EU- Länder die Befürchtungen vor negativen Auswirkungen einer Arbeitsmigration aus dem Osten nicht.
Derzeit redet deshalb Günther Verheugen (SPD), Mitglied der Europäischen Kommission und dort zuständig für die Osterweiterung, mit Vertretern der EU-Mitgliedstaaten über einen konkreten Vorschlag für eine Regelung der "Freizügigkeit von Personen". In der ersten Aprilhälfte will er den Mitgliedern der EU-Kommission und im Juni dem abschließenden Regierungsgipfel der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft ein Papier zur Abstimmung vorlegen.
Polen, Ungarn und Slowenien, die zu den aussichtsreichsten Beitrittskandidaten gehören, haben den Vorschlag zur siebenjährigen Übergangsregelung des deutschen Bundeskanzlers schon vehement zurückgewiesen. Auch dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) erscheint eine Übergangsfrist von sieben Jahren "mit Blick auf zunehmenden Facharbeitermangel und demografische Entwicklungen" zu lang.
Beifall und Zustimmung gibt es hingegen vom Rechtspopulisten Jörg Haider und den Spitzenfunktionären der Gewerkschaftsdachverbände in Deutschland und Österreich.

Endspurt beginnt

Die Zeit drängt, denn bis Ende 2002 sollen die Verhandlungen mit den Staaten, die ihre Beitrittskriterien erfüllen — dazu zählen voraussichtlich Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien und Estland — abgeschlossen sein.
Zu den Kriterien zählen die "institutionelle Stabilität", die "Wahrung der Meschenrechte" und eine "funktionsfähige Marktwirtschaft, die dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standhalten" kann. 2004 sollen sich die Länder an den Wahlen zum Europaparlament beteiligen und endgültig aufgenommen werden.
Sollten dann Übergangsregelungen für das "Niederlassungrecht der Unternehmer" und die "Freizügigkeit der Arbeitnehmer" aus den neuen Mitgliedsländern vorgesehen sein, gäbe es tatsächlich "EU- Bürger zweiter Klasse" und damit neben den unterschiedlichen Arbeitsgenehmigungen für Nicht-EU-Bürger eine weitere formale Ausdifferenzierung in der Hierarchie der Lohnabhängigen.
Auch bei der Süderweiterung der EU Mitte der 80er Jahre wurden bereits Übergangsregelungen angewendet. Doch Griechenland, Portugal und Spanien verfügten über vergleichsweise stabile Wirtschaftssysteme und ihre Krisenregionen waren weit von der Grenze zum nächsten EU-Nachbarn entfernt. Zudem war das Wohlstandsgefälle im Vergleich zu den osteuropäischen Ländern deutlich geringer.
Die drei Neumitglieder unterlagen damals einer siebenjährigen Periode mit Beschränkungen bei der "Freizügigkeit", die jedoch später um ein Jahr verkürzt wurde, weil sich die anfänglichen Befürchtungen über eine Massenzuwanderung in Richtung Norden als unbegründet erwiesen.
Trotz dieser Erfahrungen spricht die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer von "berechtigten Ängsten der Menschen vor zu schnellen Zuwanderungen aus Mittel- und Osteuropa und damit verbundenen Belastungen ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen", die gerade in den neuen Bundesländern vorzufinden seien. Diese Ängste müssten "ernst genommen werden".
Tatsächlich setzen die Unternehmerverbände auf eine wachsende Lohnkonkurrenz durch die mit der Osterweiterung einhergehende Migration, vor allem im Niedriglohnsektor.
"Die Wanderung von Arbeitskräften kann erhebliche Wohlstandsgewinne für die Herkunfts- und Zielländer mit sich bringen, denn die Wandernden erhalten in der Regel im Zielland einen Lohn, der zugleich über dem Verlust an Wertschöpfung in den Herkunftsländern und unter dem Gewinn an Wertschöpfung in den Zielländern liegt", schreibt das Institut für Wirtschaftsforschung (ifo), das im vergangenen Dezember die mehr als 300 Seiten umfassende Studie "EU-Erweiterung und Arbeitskräftemigration: Wege zu einer schrittweisen Annäherung der Arbeitsmärkte" im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vorgelegt hat.

Gute Gewinnaussichten

Das Institut sieht einen "aufgestauten Migrationsdruck", der aus dem Wohlstandsgefälle der EU zu den Beitrittsländern resultiere. Neben den höheren Löhnen könnte auch das "umfangreiche Angebot an öffentlich bereitgestellten Gütern und Sozialleistungen in den funktionierenden Marktwirtschaften der heutigen EU als Magnet für die Zuwanderer wirken". Die Löhne in den Beitrittsländern liegen zum Teil bei einem Zehntel des Niveaus der westdeutschen Löhne und einem Sechstel der Sozialhilfe.
Die Prognose des ifo-Instituts geht deshalb von 250000 bis 300000 Osteuropäern aus, die nach einem Beitritt ohne Begrenzung der Freizügigkeit aus den zehn Anwärterländern jährlich nach Deutschland kämen. In den ersten 15 Jahren wären das 4—5 Millionen Menschen insgesamt. Ifo hat diese Zahlen allerdings auf der Grundlage berechnet, dass die Einkommensentwicklung in den neuen EU-Ländern um 2% wächst oder allenfalls stagniert. Das Szenario eines negativen Wirtschaftswachstums hat das Institut nicht mit einkalkuliert.
Verglichen mit der Arbeitsmigration der 50er und 60er Jahre sind die Migranten aus Mittel- und Osteuropa deutlich höher qualifiziert. Dennoch sei vor allem für gering qualifizierte Arbeitskräfte ein "besonders hoher Wanderungsanreiz" zu erwarten, da die Lohnstruktur in den privaten Sektoren der Beitrittsländer stärker gespreizt sei als in Deutschland oder Österreich, so ifo.
"Grundsätzlich ist damit zu rechnen, dass die Zuwanderung … für die Gesamtheit aller Inländer einen Lohndruck erzeugt" prognostiziert das Wirtschaftsinstitut. Die mittelfristigen Auswirkungen auf das allgemeine Lohnniveau in Deutschland dürften sich "allerdings in Grenzen halten, wenn das Migrationsvolumen innerhalb der zuvor geschätzten Grenzen bleibt".
Zudem könne es wegen der "starren kontinentaleuropäischen und deutschen Arbeitsmärkte" kurzfristig auch zu "gewissen Verdrängungseffekten bei der Konkurrenz um Arbeitsplätze" kommen. Insgesamt bekommen die negativen Auswirkungen der Migration vor allem die niedrig qualifizierten Beschäftigten der Industrie und der Baubranche zu spüren, resümiert ifo.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Untersuchungen der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert Stiftung aus dem vergangenen Jahr und eine von der EU-Kommission erstellte Studie, an der auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) beteiligt war.
Nach Ansicht des wirtschaftsfreundlichen DIW werde es nur einen "moderaten Druck" auf Löhne und Beschäftigung geben. Die Autoren betonen jedoch, dass sie keine genauen Analysen., sondern nur "Hinweise" auf mögliche Entwicklungen liefern könnten.
Sowohl für ifo als auch für das DIW stellen die Übergangsregelungen ein Zugeständnis dar, dem sie "eine Erhöhung der Anpassungsfähigkeit des Arbeitsmarktes" und "flexiblere Löhne", so ifo, vorziehen würden. Da solche Maßnahmen aber "zu erheblichen politischen Konflikten führen" könnten, stehe "nur das Mittel einer zeitlich begrenzten Kontingentierung der Zuwanderung zur Verfügung". Ebenso der DIW-Präsident Klaus Zimmermann, der für ein "zeitlich befristetes Stufenmodell" plädiert, "da es weiterhin starke politische Vorbehalte gegenüber der freien Wohn- und Arbeitsplatzwahl gibt".

Blinde Gewerkschaften

Den meisten Gewerkschaften gelingt es nicht, in dieser Gemengelage ein eigenes inhaltliches Profil zu entwickeln. Sie greifen die Vorlage des sozialdemokratischen Bundeskanzlers auf, ohne das chauvinistische Potential dahinter zu kritisieren, geschweige denn überhaupt zu registrieren. Sie sehen die vorgeschlagenen sieben Jahre eher als "unterste Grenze" an, so Klaus Wiesehügel, der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU) auf einer Europa-Konferenz des Bundesausschusses der Gewerkschaften Mitte März in Berlin.
Dort sei, so berichtete die Tageszeitung Neue Deutschland, immer wieder die Warnung zu hören gewesen, "dass diese Ängste vor einer ‚Billig-Konkurrenz‘ aus dem Osten am ‚braunen Rand‘ (Wiesehügel) aufgefangen werden könnten". Auch dem Chef der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Franz-Josef Möllenberg, gehen die Vorschläge des Bundeskanzlers nicht weit genug. Er will sowohl für die "Freizügigkeit" von Dienstleistungen und für Arbeitskräfte eine mindestens zehnjährige Übergangsfrist.
"Sollte es gelingen, mit Löhnen, die nach unten ins Bodenlose absacken, in den Wettbewerb um öffentliche Aufträge zu treten, ist auch die Existenz vieler kleiner und mittlerer Unternehmen gefährdet", weist Frank Bsirske, der Vorsitzende der neuen Dienstleistungsgewerkschaft ver.di auf die Gefahren für den "Sozialpartner" im "Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit" hin. Müssten Beschäftigte in Deutschland mit ansehen, wie Kollegen aus Mittel- und Osteuropa ihnen die Arbeit wegnehmen, könne es zu harten Auseinandersetzungen kommen.
Bundesaußenminister Josef Fischer, der sich für möglichst kurze Fristen einsetzt, wollte auf der Europa-Konferenz in Berlin die Ängste der Gewerkschaftsvertreter zerstreuen. Von künftigen "blühenden Landschaften" sprach schon der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl bei der Übernahme der Ex-DDR. Ebenso ist Fischer der Ansicht, dass die Osterweiterung den hiesigen Arbeitsmarkt langfristig entlasten werde, denn mit Polen trete z.B. "keine Armuts-, sondern eine Boomregion bei".
Neben den Übergangsregelungen fordern Gewerkschaftsvertreter die Einführung von "Vergabegesetzen". Sie sollen sicherstellen, dass Unternehmen aus den Beitrittsländern nur dann um öffentliche Aufträge konkurrieren dürfen, wenn sie die gleichen Löhne und Sozialleistungen zahlen wie ihre Wettbewerber vor Ort. Doch das Thema "Vergabegesetze" drohe in einem "Bermuda-Dreieck von EU, Bund und Ländern" unterzugehen, sagte Bsirske. Sollten Bund und Länder die Frage nicht bald in Angriff nehmen, wüssten die Gewerkschaften zu handeln, erklärte Wiesehügel. "Wir werden nicht zögern, Vergabegesetze massiv einzufordern, notfalls auch auf der Straße", drohte er Mitte März.
Auch auf dem Gründungskongress der weltweit größten Gewerkschaft ver.di widmete der Vorsitzende der Osterweiterung ganze Passagen seiner Antrittsrede. "Es reicht eben nicht, nur Übergangsfristen für die Liberalisierung des Arbeitsmarktes festzulegen. Auch ein Vergabegesetz muss her!", rief Bsirske den knapp tausend Delegierten zu.
Auf einer Konferenz zur Osterweiterung des Österreichischen Gewerkschaftsbunds (ÖGB) im Januar wies der Vorsitzende der Textilfachgewerkschaft Kollegen aus Osteuropa darauf hin, dass die sozialen Unterschiede zu Westeuropa angeglichen werden müssten. Lazlo Sandors, Vorsitzender des ungarischen Gewerkschaftsdachverbands MSzOSz, "bedankte" sich für diesen Hinweis. Denn dieses Ziel kann innerhalb der neoliberalen Logik der EU-Wirtschaftspolitik unmöglich erreicht werden.
Mehr Anklang fanden in Österreich hingegen Projekte der IG Metall, die mit sog. "Interregios" regionale Tarifverträge über die Grenze hinweg mit den niederländischen Gewerkschaften aushandelt.
Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) buhlt unterdessen um die Gunst der Grosskonzerne. Sie sollen endlich die "Sozialparnterschaft" mit dem EGB akzeptieren. Ansonsten kritisiert er die fehlende soziale Dimension der Beitrittsverhandlungen und warnt die Regierungen der Kandidatenländer, mit dem Verweis auf den Beitritt ihre Sozialsysteme zu "reorganisieren". Stattdessen sollten auch sie nach dem Vorbild der alten EU-Mitgliedsstaaten den "sozialen Dialog" zwischen Unternehmern und Gewerkschaften gewährleisten.

Gleiche Rechte

Keine Gewerkschaft scheint sich in diesem Konflikt ihrer Wurzeln bewusst zu sein. Dass Industrielle und Fabrikanten schon immer daran gelegen war, mit einer Ausdifferenzierung die Klasse der Lohnabhängigen gegeneinander auszuspielen, ist ein alter Hut.
Die Gewerkschaften waren ursprünglich eine Antwort auf diese Bestrebungen aus dem Kapitalistenlager. Dass ist nun vergessen und ihre Funktionäre lehnen sich bequem an die Mauern der Festung Europa. Sie leisten einer Wahrnehmung Vorschub, die nicht in erster Linie die Auftraggeber für Lohndumping verantwortlich macht, sondern die betroffenen Arbeiter aus den Mittel- und Osteuropäischen Ländern.
Dabei gibt es sogar auf institutioneller Ebene eine Vorlage, die den Weg in eine andere Richtung weist und auf die sich die Gewerkschaftsvertreter berufen könnten: Die Konvention der Vereinten Nationen für den "Schutz der Rechte der Wanderarbeiter und ihrer Familien".
Diese Konvention definiert Wanderarbeiter umfassend und geht von den faktischen Arbeitsverhältnissen aus. Ihre Schutzregelungen umfassen auch diejenigen ohne Papiere, die sog. "Illegalen", die gemäß der Konvention alle Rechte in Anspruch nehmen können, die auch für einheimische Arbeiter gelten. Der Haken: Kein Industriestaat hat diese Konvention bisher unterzeichnet oder ratifiziert.
Die Gewerkschaften könnten sich jedoch dafür einsetzen, anstatt ihre nationale Standortlogik zu pflegen. Und als Zeichen ihrer Ernsthaftigkeit schon mal allen ihre Mitgliedschaft anbieten, die hier und heute ihre Haut zu Markte tragen — ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus.

Gerhard Klas

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