Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.07 vom 29.03.2001, Seite 9

Vom New Deal zum "mitfühlenden Konservativismus"

Neoliberales Erbe

Das Bemühen um den Erhalt einer öffentlichen Infrastruktur droht ins Absurde abzugleiten, wenn das Beispiel der Stadt London Schule macht. Dort ist der Wert der Häuser in den vergangenen zehn Jahren um 60% gestiegen — entsprechend teuerer wurden die Mieten bei gleichzeitig reduziertem Bestand an Sozialwohnungen infolge der Privatisierung.
Das Ergebnis: Immer mehr Beschäftigte des öffentlichen Dienstes — Lehrer, Krankenschwestern, Polizisten — können sich das Leben in der britischen Hauptstadt nicht mehr leisten und ziehen fort. Allerdings sind die Probleme im Londoner Umfeld nicht gelöst. Denn eine Monatskarte für die Anfahrt mit der Bahn kostet umgerechnet über 600 DM. Als Folge dieser Entwicklung fällt immer mehr Unterricht in den Schulen aus, Operationen werden abgesagt und wegen der sprunghaften Zunahme der Straßenkriminalität wird die "unsichtbare" Polizei beklagt. Es scheint, als sei die Privatisierungs- und Deregulierungswelle außer Kontrolle geraten und frisst ihre eigenen Kinder.
Dass eine Monatskarte vom Londoner Umland in die City so teuer ist, ist nun geradewegs die Folge der Privatisierung der britischen Eisenbahnen. Noch nie in Friedenszeiten verkehrten in Großbritannien die Züge so verspätet wie derzeit. Im Jahre 1829 wurde mit einer Lokomotive zwischen Manchester und Liverpool ein Rekord von 58 Stundenkilometern aufgestellt — diese Geschwindigkeit ist heute wegen mangelhafter Sicherheit auf viele Trassen nicht mehr zulässig. Fahrpläne bieten nur noch einen vagen Anhaltspunkt, wann evtl. mit der Einfahrt eines Zuges zu rechnen ist. Das einzige, mit dem die seit 1994 die privaten 25 Personenverkehrsgesellschaften beschäftigt zu sein scheinen, ist die Abwehr einer drohenden Re- Nationalisierung.
Auch in Dänemark hat die Verwaltung vor sechs Jahren die Autobus-Sparte der staatlichen Eisenbahngesellschaft ausgegliedert mit dem Versprechen eines effizienteren Verkehrs und günstigerer Preise. Jetzt hat man die ausgegliederte Gesellschaft mit 1000 Bussen und 3000 Mitarbeitern an die britische Gesellschaft Arriva verkauft — zu einem Kaufpreis von umgerecht 26 DM und einen staatlichen Obulus von 37 Millionen DM, weil sonst überhaupt kein Käufer zu finden gewesen wäre. Die Ausgliederung hat den dänischen Steuerzahler insgesamt 200 Millionen DM gekostet.

Staatliche Nachsorge

Angesichts dieser wenigen Beispiele ist es mehr als befremdlich, wenn Jürgen Basedow als Mitglied der Monopolkommission im Handelsblatt vom 17.10.2000 die Diskussion um die öffentliche Daseinsvorsorge als anachronistisch bezeichnet, die ein überholtes Verwaltungsverständnis in das Jahr 2000 transportiert. Basedow fordert unverdrossen, dass die Bundesländer das EU-Recht als Hebel begreifen sollten, um die verkrusteten Strukturen der öffentlichen Leistungsverwaltung zu modernisieren. Zudem zeigten private Anbieter in fast allen Sektoren, dass sich die Bedürfnisse der Bevölkerung auch anders als durch staatliche Leistungen erfüllen lassen. Dem Staat falle lediglich die Aufgabe zu, ein Auffangnetz zu spannen. Er soll dort Nachsorge betreiben, wo Markt und Wettbewerb versagen.
Unverhohlener kann man das Programm der neoliberalen Privatisierter nicht auf den Punkt bringen. Vielleicht hätte sich Basedow besser einmal in Neuseeland umgesehen, das seit nunmehr 15 Jahren von allen Neoliberalen als leuchtendes Beispiel vor Augen geführt wird. Die Bilanz für Neuseeland: "Niedriges Wachstum, hohe Schulden, neue Armut".
Zu Beginn dieses Experiments, das zum Modell der Globalisierungsepoche werden sollte, gab es in Neuseeland keine Armen und wenig Reiche, aber viele Wohlhabende. 80% der Neuseeländer hatten ihr eigenes Haus und es gab kaum Arbeitslose.
Aber der Staat hatte Schulden. Das wollte die Mitte der 80er Jahre neu gewählte Labour-Regierung radikal ändern und setzte dabei, den Zeichen der Zeit folgend, voll auf die neoliberale Theorie. So wurden alle Subventionen und Steuervergünstigungen für die Landwirtschaft von heute auf morgen radikal gestrichen, der Spitzensteuersatz von 66 auf 33% reduziert und alle Staatsbetriebe, Telekom, Eisenbahn, Banken und Versicherungen verkauft.
Nach 1990 setzte eine neugewählte konservative Regierung genau dort an, wo die alte Labour- Regierung aufgehört hatte und kürzte zunächst das Arbeitslosengeld und Sozialleistungen bis zu 27%. Dann hob sie alle Tarifverträge auf. Kein Unternehmer war mehr an kollektive Arbeitsverträge gebunden, Überstunden und Wochenendzuschläge fielen weg.

Viele Verlierer

Dies löste nun tatsächlich weltweit Begeisterung aus, weil "endlich ein Land das tat, was die Ökonomen sagten", so die Internationale Wirtschaftspresse. Viel war die Rede von der neuen Freiheit, weniger vom drastisch gestiegenen Ausbeutungsgrad. Fakt ist, dass die Kriminalität in Neuseeland seit 1984 sprunghaft gestiegen ist und sich der Anteil der Inhaftierten an der Gesamtbevölkerung mehr als verdoppelt hat. Beim Abstand zwischen den oberen und den unteren Einkommensschichten ist Neuseeland von einem der niedrigsten auf einen der höchsten Werte in der industrialisierten Welt gestiegen. Die Einkommen der unteren 50% der Bevölkerung sind real kräftig gesunken, lediglich die oberen 20% haben deutlich dazu gewonnen. Früher war es undenkbar, doch heute gibt es in Neuseeland Suppenküchen, in denen sich Obdachlose eine warme Mahlzeit abholen können.
Nur eines hat sich tatsächlich in Neuseeland erhöht, das Verhältnis von Managern zu Arbeitern. "Offensichtlich sind diese Manager nötig, damit die Arbeiter tatsächlich tun was sie tun sollen, aber effizient ist das nicht, und früher hat man sie nicht gebraucht. Vielleicht braucht eine funktionierende Marktwirtschaft weniger liberalisierte Märkte als Vertrauen und Loyalität und vielleicht hat die Liberalisierung dieses Vertrauen zerstört" — so ein neuseeländischer Ökonom heute.
Vor einem Jahr haben die Neuseeländer eine neue Regierung gewählt, die nunmehr vorsichtig einige der Reformen zurücknimmt, den Spitzensteuersatz wieder erhöht, Tarifverträge wieder einführt usw.
Vielleicht hat Jürgen Basedow all diese Beispiele nicht im Blick wenn er schreibt: "Ob Busse oder Bahnen, Medien oder Energieversorgung, Altenpflege oder Krankenhäuser — überall zeigen private Anbieter, dass die Bedürfnisse der Bevölkerung auch anders als durch staatliche Leistungen erfüllt werden können." Dieser Satz ist so wahr, wie nichtssagend. Ist "anders" auch besser, effizienter? Ist damit noch eine demokratische Kontrolle über Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge gewährleistet? Oder ist es nur noch die Kontrolle von bundesweit ein paar 100 Aktionären? Werden diese privatisierten Systeme beschränkt auf die viel beschworenen Leistungsträger und alle Kranken, Alten und Sozialschwachen ausgegrenzt? Ist vielleicht Herr Basedow nur noch einer der letzten Anhänger der reinen neoliberalen Lehre, während um ihn herum schon alle Absetzbewegungen unternehmen?
Viele Sozialdemokraten jedenfalls wollten mit ihrer Theorie vom "Dritten Weg" nur ein bisschen schwanger werden — neoliberale Reformen ja, aber die schlimmsten Auswüchse müssen abgemildert werden. In eine ähnliche Kerbe schlagen jetzt die Konservativen, mit ihrer Theorie vom "mitfühlenden Konservatismus" (compassionate conservatism). Dieses vom Cheftheoretiker der neuen Bush-Administration in den Vereinigten Staaten entwickelte Konzept ist so eine Art Dritter Weg von Rechts. Marvin O. Lasky, der dieses Konzept entwickelt hat, dass zur politischen Philosophie George W. Bushs werden sollte, hat sich vom ehemaligen Mitglied der KP der USA zum fundamentalistischen Protestantismus entwickelt. Kernpunkt seiner Theorie ist, dass die Ansprüche gegenüber dem Staat auf Sozialleistungen abgeschafft werden. An die Stelle von Rechtsansprüchen soll das "effektive Mitgefühl" treten, das zwischen edlem Spender und armem Teufel vermittelt. Der Staat sollte sich idealerweise ganz aus der Wohlfahrtspflege zurückziehen und die Mildtätigkeit privaten, vorzugsweise kirchlichen Organisationen überlassen, die durch entsprechende Steuerprivilegien vom Staat unterstützt werden. Aus Rechtssubjekten, aus Bürgern mit einklagbaren Ansprüchen und Pflichten werden nach seinem Willen erlösungsbedürftige arme Sünder, die sich für die guten Gaben dadurch erkenntlich zeigen sollten, dass sie Jesus als ihren Retter annehmen. Der Rückzug des Staates lässt sich probaterweise mit einem Vormarsch der Religion verbinden und das alles unter dem Anschein einer neuen Nettigkeit.
Ob man sich vor diesem "mitfühlenden Konservatismus" mehr fürchten sollte als vor dem knallharten Neoliberalismus alter Prägung muss jeder selbst entscheiden — jedenfalls steht die Rolle des Staates im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung, die Gewerkschaften mit Blick auf gemachte Erfahrungen offensiv führen können und in Anbetracht solcher neuen Konzepte auch führen müssen.

Werner Ley

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