Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.07 vom 29.03.2001, Seite 16

Die Zukunft der ‘Anti-Globalisierungs-Bewegung‘

Der Folgende Beitrag wurde für die internationale Konferenz von Espace Marx und ATTAC Frankreich, die vom 30.November bis zum 2.Dezember letzten Jahres in Paris stattfand, verfasst.

Hat die Anti-Globalisierungs-Bewegung eine Zukunft?" So lautete der der Frontseite einer französischen Zeitschrift im vergangenen November. Wir wollen uns hier nicht länger mit der Bezeichnung beschäftigen, die unsere Gegner für eine Bewegung verwenden, die zweifellos einen internationalen Charakter hat (sich also selbst "globalisiert"), jedoch bewusst gegen ein internationales Wirtschaftssystem kämpft, das die Gegenwart und die Zukunft der Völker dem Markt und dem Profit unterwirft.
Selbstverständlich kann die von der Zeitschrift aufgeworfene Frage nur mit Ja beantwortet werden. Die Bewegung hat bisher zumindest zwei große Erfolge feiern können — die Rücknahme des Projekts eines Multilateralen Abkommens über Investitionen (MAI) sowie das Scheitern der geplanten multilateralen WTO-Runde zur Liberalisierung des Handels in Seattle. Anzufügen wäre die Kampagne zugunsten der Tobinsteuer, die ATTAC vor drei Jahren lanciert hat. Sie hat bereits zu einigen interessanten politischen Resultaten geführt, die es wert sind, kurz erwähnt zu werden.
Bisher hat noch kein Land und keiner der großen Wirtschafts- oder Währungsräume die Tobinsteuer eingeführt. Doch im Rahmen der Kampagne ist es geglückt, eine Reihe politischer, sozialer, fiskalischer und verteilungsspezifischer Fragen weitgehend zu klären. Eine steigende Anzahl von Ökonomen und Politikern — von denen die Mehrheit nicht sehr radikale Positionen vertritt — erkennt heute an, dass die Einführung einer Tobinsteuer technisch machbar ist und zur Stabilisierung der internationalen Finanz beitragen würde. [...]
Die verschiedenen Gruppen und Organisationen der "Anti-Globalisierungs-Bewegung" haben im Zuge ihrer Aktivitäten begonnen, eine "internationale alternative Öffentlichkeit" aufzubauen. Hunderttausende Frauen und Männer wenden sich dieser Bewegung zu, deren Einheit noch unscharf ist, deren Ziele aber von lebenswichtiger Bedeutung sind.
In kurzer Zeit hat die Bewegung sehr große Hoffnungen geweckt, die oft recht diffus sind. Der Wille, "eine andere Welt" zu errichten als jene, die uns die "Herrscher der Welt" aufzwingen, äußert sich in vielen Fällen auf konfuse, wenig bewusste Art und Weise. Dies zeugt sowohl vom Ende einer historischen Phase der traditionellen Arbeiterbewegung (die in den 1890er Jahren begann und in den 1980ern ausklang), als auch von den zahlreichen Niederlagen und Rückschlägen, die das Kapital auf internationaler Ebene den Lohnabhängigen und ihren Organisationen zugefügt hat.
Das ändert nichts daran, dass die Erwartungen beinahe unbegrenzt sind. Um sie nicht zu enttäuschen, ist es höchste Zeit, eine Diskussion über die Festigung der theoretischen Grundlagen der Bewegung und über die Klärung ihrer politischen Grenzen zu beginnen. Dies müsste ermöglichen, dass man sich weniger häufig auf das Terrain des Gegners begeben muss, um ihn zu bekämpfen. Das Ziel besteht darin, den Blickwinkel und die Postulate des herrschenden Diskurses zurückzuweisen und klarer sagen zu können, wie "eine andere Welt möglich ist".
Auch sehen wir uns mit der dringenden Notwendigkeit konfrontiert, auf europäischer und weltweiter Ebene einen Raum für soziale und gewerkschaftliche Diskussionen und Aktionen zu schaffen... Wir sind der Meinung, dass die "Anti-Globalisierungs- Bewegung" fähig sein muss, sich auf die von den grundlegensten Kritikern des Kapitalismus erarbeiteten theoretischen Fundamente — deren Erneuerung natürlich im Lichte der Erfahrungen des 20.Jahrhunderts sowie der Entwicklung des gegenwärtigen Kapitalismus und Imperialismus unumgänglich ist — zu stützen und darauf aufzubauen. [...]
Das Ziel unseres Beitrages ist es, einige Fragen im Zusammenhang mit jenen Kampagnen zu klären, die in den zentralen Ländern des internationalen kapitalistischen Herrschaftssystems stattfinden.
Es ist von sehr großer Bedeutung, dass die politische Kampagne gegen die WTO wie auch die Kundgebungen im November 1999 in Seattle und in vielen anderen Städten unter dem Schlagwort "Die Welt ist keine Ware" organisiert wurden. Sowohl die Deregulierung der Investitionen und des Handels als auch die Wiederauferstehung der extremsten Formen der Fetische der Finanzwelt haben tatsächlich zu einer Verschärfung des der Ware innewohnenden Fetischismus geführt.

Infragestellung der ‘Diktatur der Märkte‘

Je mehr sich der geopolitische Raum ausweitet, in dem sich das Kapital frei bewegen kann, um sich zu "ernähren", zu produzieren und mit Gewinn zu verkaufen (was in den letzten Jahren "dank" der neokonservativen Gegenrevolution und ihren Verbündeten geschehen ist), und je stärker Unternehmen von sehr unterschiedlicher Kraft, und mit ihnen ihre Lohnabhängigen, auf sehr große Entfernungen und sogar ausgehend von virtuellen Orten in Konkurrenz zueinander gesetzt werden, desto ausgeprägter "nimmt das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen an" (Karl Marx, Grundrisse).
Mehrere Jahrzehnte lang ist die Arbeiterbewegung insbesondere in den alten Industrieländern Europas (England, Frankreich, Italien) der Illusion verfallen, mit Hilfe der nach der unvollendeten Revolution von 1944—45 errichteten gesellschaftlichen und politischen Institutionen sei es möglich, den der Ware und dem Geld innewohnenden Fetischismus unter Kontrolle zu halten. Im Rahmen der Globalisierung des Kapitals sind diese Illusionen auf brutale Weise weggefegt worden. Heute zwingt sich "das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit" den Erwerbstätigen erneut, und mit verstärkter Gewalt, "als ein außer(halb von) ihnen existierendes Verhältnis von Gegenständen" auf.
Die Parole "Die Welt ist keine Ware" hat also den großen Vorteil, die politische Bewegung gegen die Globalisierung als Gegnerin der kapitalistischen Kräfte zu positionieren. Diese sind soweit immer möglich bestrebt, die Wirtschaft zu einer autonomen Sphäre zu erheben, die über der Gesellschaft steht und sich im Namen des Vorrangs und der Überlegenheit des Marktes der Kontrolle durch die Völker entzieht.
Die in Seattle entstandene Bewegung muss sich also der Herausforderung stellen, neuartige Verhältnisse unter und zwischen den Lohnabhängigen und Bauern der verschiedenen Länder zu schaffen. Verhältnisse, die die Anonymität und die Äußerlichkeit des Warentauschs einschränken oder sogar abschaffen, so dass die internationale Arbeitsteilung und der Welthandel Ausdruck von Beziehungen werden können, die von Produzenten, die ihre Existenz- und Arbeitsbedingungen (was oft verkürzt ihre "Produktionsmittel" genannt wird) selbst beherrschen, nach freiem Gutdünken gepflegt und entwickelt werden. Verhältnisse, die es ihnen erlauben würden, die Arbeit zwischen einer "befreiten Zeit" (deren Verwendung ständig wieder neu und anders erfunden würde) und einer der Produktion gewidmeten Zeit (die ebenfalls bereichert wäre, da sie auf der freien Initiative aller aufbauen würde) aufzuteilen.
In den Grundrissen von Marx ist eine für die damalige Zeit kühne Perspektive — oder Vorwegnahme — zu finden, die genau das umschreibt, wonach die "Anti-Globalisierungs-Bewegung" strebt und was sie erreichen muss: Marx schreibt vom Weltmarkt als Ort, wo "sich der Zusammenhang des Einzelnen mit allen, aber auch zugleich die Unabhängigkeit dieses Zusammenhangs von den Einzelnen selbst zu einer solchen Höhe entwickelt hat, dass seine Bildung zugleich schon die Übergangsbedingungen aus ihm selbst enthält" und die Möglichkeit einer "wirklichen Gemeinschaftlichkeit und Allgemeinheit" in sich trägt.
Die Beziehung der direkten Produzenten zu ihren Arbeitsmitteln und -verhältnissen, wie auch die Veränderungen, die diese Beziehung erfährt, gehören zu den zentralen Konzepten der Analyse von Marx, sei es in den Grundrissen oder im Kapital.
Dass dies zugleich eines seiner aktuellsten Konzepte ist, wird heute in allen Kämpfen gegen die kapitalistische Herrschaft ersichtlich. Frei assoziierte Produzenten, denen die politischen und juristischen Mittel zur Beherrschung ihrer Arbeitsbedingungen zugestanden würden bzw. die sich diese erkämpfen würden, sähen sich in der Lage, über die Ziele der Produktion zu entscheiden, die Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse auf Grund demokratisch gewählter Prioritäten zu bestimmen, die Arbeit zwischen einer freien Zeit und einer der Produktion gewidmeten Zeit aufzuteilen und die Gräben zwischen Planungs- und Ausführungsarbeit zu überwinden.
Ausgehend von der zentralen Bedeutung des Verhältnisses der Produzenten zu ihren Arbeitsbedingungen — wobei Arbeit auch als Produktion von Zeit, zeitlichen Maßstäben und Raum (vom Wohnungsraum bis zu den Transportmitteln) verstanden werden muss — sehen wir uns unweigerlich mit dem Problem des Eigentums an den Produktions-, Kommunikations- und Tauschmitteln (Geld) konfrontiert.
Die Eigentumsfrage ist nicht etwa ein abscheulicher Fetisch der konsequentesten AntikapitalistInnen, die mit ihrem Beharren auf diesem Problem sich als Dinosaurier der Ideengeschichte, als unverbesserliche Marxisten entlarven. Wenn man wirklich das Ziel verfolgt, die demokratische Frage par excellence anzugehen — die Kontrolle der assoziierten ProduzentInnen über die Arbeitsmittel, die durch ihre Intelligenz und ihre Arbeit angehäuft wurden — , dann stößt man unumgänglich auf das Problem des Eigentums an den Produktions-, Kommunikations- und Tauschmitteln.
Die Eigentumsfrage taucht unmittelbar auf, wenn wir uns auf nationaler Ebene mit der effektiven Kontrolle der Arbeitszeit beschäftigen, oder mit den Zielen des öffentlichen Dienstes und der Befriedigung der tatsächlichen gesellschaftlichen Bedürfnisse, oder — auf internationaler Ebene — mit dem Problem der Kontrolle der Handelsbeziehungen zwischen den Völkern durch die Bürgerinnen und Bürger.
Das Problem des Eigentums an den Produktions-, Kommunikations- und Tauschmitteln würde sich vielleicht heute nicht derart zuspitzen, wäre der Besitz dieser Mittel nicht in einem in der Geschichte des Kapitalismus so unerreichten Ausmaß konzentriert, in den Händen der Mitglieder und/oder Funktionäre einer zahlenmäßig so kleinen Klasse, die erste Züge einer im Finanzkapital verwurzelten globalisierten imperialistischen herrschenden Klasse aufweist — wie Marx es vorausgeahnt hatte.

Eigentumsformen: Tabu für die Lohnabhängigen?

Es ist eine Folge dieser Konzentration, dass sämtliche Entscheidungen im Zusammenhang mit der Verwendung dieser Mittel den Strategien der Wertvermehrung des Kapitals und der Organisation der gesellschaftlichen Herrschaft dieser Klasse unterworfen werden. Dies ist gesellschaftlich und politisch umso weniger tolerierbar, als es sich eigentlich um das Resultat der Überrumpelung durch eine Gegenrevolution handelt, die allzu viele führende Vertreter der traditionellen Arbeiterbewegung mit einem demoralisierenden Fatalismus hinnehmen. Die "Anti-Globalisierungs-Bewegung" ist nicht zuletzt auch als Reaktion auf diesen Fatalismus entstanden.
Tag für Tag verschärft sich die Konzentration des Eigentums an den Produktions-, Kommunikations- und Tauschmitteln im Zuge eines vor unseren Augen ablaufenden Zentralisationsprozesses, und diese Tatsache verbietet es der "Anti- Globalisierungs-Bewegung", die Augen davor zu verschliessen oder die Frage länger hinauszuschieben. Die Kritik des Warenfetischismus und der "Diktatur der Märkte" würde sehr schnell an eine Grenze stoßen, wenn sie sich weiterhin einzig auf dem Niveau der Handelsbeziehungen und der WTO bewegte und wenn die "Anti-Globalisierungs- Bewegung" sich nur mit Fragen der Organisation der Märkte beschäftigte.
Sowohl das außerordentliche Ausmaß der Konzentration und Zentralisation im Bereich von Finanz, Industrie und Handel und die monopolistische Macht der riesigen industriellen Gruppen, wie auch die sehr bedeutende institutionelle Kraft, die der Vertrag von Marrakesch der WTO garantiert, setzen einer "Kontrolle der WTO durch die Bürgerinnen und Bürger" sehr enge Grenzen, solange sich diese Kontrolle einzig auf den Handel und die Märkte bezieht.
Dieser Sachverhalt untergräbt die Glaubwürdigkeit von Kampagnen, die allein auf dieser Ebene geführt werden. Die WTO muss mit aller Kraft bekämpft werden. Im Augenblick sollte für die "Anti-Globalisierungs-Bewegung" die Vorbereitung der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung des öffentlichen Dienstes im Rahmen des Dienstleistungsabkommens der WTO im Vordergrund stehen. Wir sehen uns hier mit einer extrem schwerwiegenden Ausdehnung der "Warensphäre" auf lebenswichtige Dienstleistungen — allen voran Bildung und Gesundheit — sowie auf die Kultur konfrontiert.
Das Dienstleistungsabkommen der WTO gilt es mit allen Mitteln der Mobilisierung und der demokratischen Ausübung von politischem Druck, die den Lohnabhängigen und den Ausgeschlossenen noch zur Verfügung stehen, zu bekämpfen. Dabei müssen auch politische und philosophische Grundlagen der Verteidigung des öffentlichen Dienstes sowie der ihm zugrunde liegenden Formen öffentlichen Eigentums neu erarbeitet werden.
Was die Europäische Union betrifft, so schließt der Kampf gegen das Dienstleistungsabkommen unmittelbar die Notwendigkeit mit ein zu verhindern, dass die entsprechenden Verhandlungen unter den Artikel 133 der Verträge von Maastricht und Amsterdam fallen, der die einzelnen Länder in ihren Kompetenzen beschneidet und den politisch niemandem verantwortlichen hohen Funktionäre der EU-Kommission die totale Handlungsfreiheit (handelspolitische Verhandlungsfreiheit) garantiert.
Obschon die Zeit knapp ist, darf die Kampagne nicht auf das Problem der Souveränität beschränkt werden. Im Herzen des Neoliberalismus finden wir eine bis zu ihren vollständigen — das heißt extremen — Schlussfolgerungenen getriebene Verherrlichung des "Individualismus der Eigentümer" vor — ein vollständig auf das Privateigentum fixierter Individualismus.
Wir sind der Meinung, dass es heute für die Bürgerinnen und Bürger — die Lohnabhängigen, Arbeitslosen, Jugendlichen — unmöglich ist, die Globalisierung zu bekämpfen und ihr eine andere Gesellschaft entgegenzustellen, ohne dass die "Anti-Globalisierungs-Bewegung" tiefer ansetzt und die Eigentumsfrage neu stellt.
Die gesellschaftliche, kollektive Beherrschung der Handelsbeziehungen zwischen den Völkern sowie der Arbeitsorganisation und der Befriedigung der dringenden gesellschaftlichen Bedürfnisse setzt voraus, dass die Frage der Formen des Eigentums an den Produktions-, Kommunikations- und Tauschmitteln nicht mehr als Tabu betrachtet wird.
Die Eigentumsfrage darf nicht mehr als ein Problem angesehen werden, dessen letzte Antwort das auf bürokratische und stalinistische Weise kollektivierte Staatseigentum gewesen wäre — gegen den Kampf für die soziale Emanzipation und gegen die Arbeiterbewegung. Es gibt keinen Grund, diese Frage als Tabu zu betrachten. Wenn die "Anti-Globalisierungs-Bewegung" nicht in einer Sackgasse enden und die Erwartungen all jener, für die Seattle etwas bedeutet hat, enttäuschen will, dann müssen die in ihr Aktiven theoretisch und politisch die Eigentumsfrage (wieder) in Angriff nehmen. [...]

François Chesnais, Claude Serfati, Charles-André Udry

Der vollständige Text kann auf der Webseite www.local.attac.org/berne/BroschuereWEF.pdf runtergeladen werden.



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