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Im April beschloss das Parlament der Niederlande ein Gesetz zur "Sterbehilfe", das in den nächsten Wochen in Kraft
treten wird. Schon in den achtziger Jahren wurde in den Niederlanden, ansonsten bekannt für den toleranten Umgang mit behinderten Menschen, die
ärztliche Tötung Schwerkranker oder Schwerbehinderter mehr oder weniger geduldet. Seit 1990 gab es offiziell keine Strafverfolgung mehr und seit 1993
ist "aktive Sterbehilfe" durch eine gesetzliche Meldepflicht quasi legalisiert.
Formell musste der Arzt bisher jeden Fall von "aktiver Sterbehilfe" einem regionalen
Prüfungsausschuss melden. Dieser bewertete das Vorgehen des Arztes und legte sein Urteil danach einem Staatsanwalt vor. Der Staatsanwalt schließlich
entschied darüber, ob das Verhalten des Arztes strafrechtlich geahndet wird.
Nach dem jetzt beschlossenen Gesetz führt die Tötung Schwerkranker oder
Schwerbehinderter gar nicht zur Strafverfolgung, wenn der Arzt bestimmte Sorgfaltskriterien beachtet: Der Arzt muss sich vergewissern, dass ein
"wohlüberlegtes" Hilfegesuch des Patienten vorliegt. Außerdem muss er der Überzeugung sein, dass der Patient "aussichtslos und
unerträglich" leidet, und den Patienten über seine Situation und die Heilungsaussichten informiert haben. Schließlich muss der Arzt
mindestens einen weiteren unabhängigen Arzt hinzugezogen haben, der den Patienten untersucht und die vorgenannten Kriterien geprüft hat.
Danach entscheidet jetzt nur noch der Prüfungsausschuss, dem ein Jurist, ein Mediziner und
ein Ethiker angehören, über das Vorgehen des Arztes. Kommt der Ausschuss zu dem Ergebnis, dass alle gesetzlichen Vorgaben beachtet wurden, werden
die Aktendeckel geschlossen.
Mörderische Dynamik
Schon in der Vergangenheit hat die gesellschaftliche Praxis diese saubere Gesetzestheorie weit überholt und eine mörderische Dynamik
ausgelöst. So wird "aktive Sterbehilfe" bei psychisch Kranken, bei HIV-Positiven, bei Chronischkranken, bei Komapatienten oder bei
schwerbehinderten Neugeborenen praktiziert. Ärzte reisen durch die Niederlande, die fast nichts anderes machen als Sterbehilfebescheinigungen auszustellen.
Häufig ist es der Arzt und nicht der Patient, der "aktive Sterbehilfe" als Therapie
vorschlägt. "Aktive Sterbehilfe" ist in den Niederlanden zu einer normalen Behandlung geworden. Angehörige fordern sie und reagieren oft
aggressiv, wenn der Wunsch nach "Euthanasie" nicht erfüllt wird.
Inzwischen gibt es viele Fälle, in denen "aktive Sterbehilfe" bei Menschen
angewendet wurde, die nicht zugestimmt haben. Schon 1991 hat eine Regierungskommission 1000 Fälle von "Lebensbeendigung ohne
ausdrückliches Ersuchen des Patienten" ermittelt. Nicht geforderte "Sterbehilfe" ist in den Niederlanden kein Tabu mehr.
1999 wurde offiziell rund 1800 mal "Sterbehilfe" an die Staatsanwaltschaft gemeldet.
Schätzungen zufolge wurde aber noch einmal die doppelte Anzahl von ärztlichen Tötungen nicht gemeldet. Ins Gefängnis ist noch kein Arzt
gekommen. Lediglich Geld- oder Disziplinarstrafen wurden bei einem zu schweren Verstoß gegen die Bestimmungen verhängt. Diese mangelnde
Bereitschaft, die Meldepflicht einzuhalten, wurde jetzt zur Begründung herangezogen, sie mit dem neuen Gesetz abzuschaffen.
Für die Kritiker einer gesetzlichen Freigabe der "aktiven Sterbehilfe" ist die
Entwicklung in den Niederlanden eine schreckliche Bestätigung all ihrer Befürchtungen. Sie zeigt, dass eine genaue gesetzliche Regelung dazu
führt "dass auch der letzte Abschnitt des Lebens voll in der Routine des medizinischen und betreuungsrechtlichen Alltags aufgeht, ein von
Entscheidungszwängen strukturierter Raum wird, in dem sich, je mehr das öffentliche Interesse und damit der besondere Legitimationsdruck daraus
verschwinden, pragmatisch zweckgerichtetes Handeln durchsetzen wird", so Oliver Tolmein, Jurist und Journalist, in der Taz.
Hans-Ludwig Schreiber, Mitautor der "Richtlinien zur Sterbebegleitung und
Behandlungsabbruch" der Bundesärztekammer, fasste 1998 in einem Spiegel-Interview diese Befürchtungen zusammen: "Wenn aktive
Euthanasie generell freigegeben würde, dann sind sich Kranke und Beschädigte buchstäblich ihres Lebens nicht mehr sicher. Permanent
stünde ihnen die Aufforderung im Rücken: Warum stirbst du nicht endlich? Warum bittest du nicht um dein Ende?"
Aus Angst, sie könnten gegen ihren Willen ins Jenseits befördert werden, tragen viele
Niederländer bereits einen Ausweis, genannt "Credocard" bei sich, in der sie sich ausdrücklich gegen jede Form der "aktiven
Sterbehilfe" aussprechen.
Die beiden Europaabgeordneten Peter Liese (CDU) und Hiltrud Breyer (Grüne) haben mit
einer gemeinsamen Erklärung auf die Niederländische Parlamentsentscheidung reagiert. Darin heißt es zu Recht: "Wenn der Staat einmal
zulässt, dass Ärzte ihren Patienten Tabletten oder Spritzen verabreichen, die als einziges Ziel haben, Patienten umzubringen, dann ist der Missbrauch
programmiert."
Prämissen der Bioethik
In Deutschland konnte bisher die gesetzliche Freigabe der "Aktiven Sterbehilfe" nicht durchgesetzt werden. Ein Grund sind die Erfahrungen mit
der Gesundheitspolitik des Hitler-Faschismus. Die Nationalsozialisten knüpften an der Propaganda für die angeblich so segensreiche und humane Freigabe
der "aktiven Sterbehilfe" an, um ihr Programm der Vernichtung "lebensunwerten Lebens" und der Endlösung der sozialen Frage zu
verwirklichen.
Aber auch in Deutschland ist die Akzeptanz ärztlicher Tötungen und die Diskussion
darüber weit fortgeschritten. Die laute Kritik am niederländischen Gesetz durch Kirchen und Parteien täuscht. Die Rechtsprechung der letzten Jahre,
aber auch die 1999 vorgelegten "Richtlinien zur Sterbebegleitung und Behandlungsabbruch" der Bundesärztekammer haben das Tor zur
"aktiven Sterbehilfe" weit aufgestoßen.
Als eine wesentliche Hilfe für das Handeln des Arztes sollen auch in Deutschland
Patientenverfügungen dienen. Und bei nichteinwilligungsfähigen Patienten ermitteln dann gesetzliche Betreuer, Angehörige, Ärzte und
Vormundschaftsrichter den "mutmaßlichen Willen" der Betroffenen.
Was ist aber der "mutmaßliche Wille" und kann er überhaupt ermittelt
werden? "Der mutmaßliche Wille ist ein sehr manipulatives Instrument; er richtet sich nach dem Maß des durchschnittlich Vernünftigen. Wir
Gesunden würden also einem Kranken, in dessen Lage wir uns gar nicht hineindenken können, unsere Auffassung aufpressen. Das führt leicht zu
Fiktionen", so Hans-Ludwig Schreiber im Spiegel-Interview.
Die Bundesärztekammer sieht ein Mittel, um den vermuteten Willen festzustellen, in
Patientenverfügungen. Aber diese sogenannten Patiententestamente sind in der Regel in einer ganz anderen Lebenssituation verfasst worden. Und selbst wenn
die Patientenverfügungen schon bei sehr fortgeschrittener Krankheit oder zu einem Zeitpunkt kurz vor Eintreten der Nichtzustimmungsfähigkeit verfasst
wurden, ist ihre Aussagekraft höchst zweifelhaft.
Die Einsamkeit, die unzureichend behandelten Schmerzen, die schreckliche Situation in den
Kliniken, das Gefühl, nur noch anderen zu Last zu fallen, der mehr oder weniger direkte Druck des sozialen Umfeldes werden weit häufiger den Inhalt
solcher "Testamente" bestimmen als der "freie" Wille. "Dass Menschen in kritischen Lebenslagen mit
Selbsttötungswünschen reagieren, ist normal", so der Arzt und Leiter des renommierten Hospiz Stuttgart, Prof. Dr. Christoph Student. "Die
Frage ist allerdings, wie mit solchen Wünschen respektvoll umgegangen werden kann. Euthanasie ist hier gewiss keine Lösung. Aufgabe des Arztes ist es
vielmehr, in solchen Situationen die Not hinter dem Tötungswunsch sensibel wahrzunehmen und ernst zu nehmen."
Bei der Entscheidung über die Nichtbehandlung schwerstbehinderter Neugeborener hilft der
"vermutete Wille" erst recht nicht weiter. Die Rechtsprechung in Deutschland verlangt vor einem Behandlungsabbruch zudem die Prüfung, ob
"ein bewusstes oder selbstbewusstes Leben für den betroffenen Patienten zu erwarten sei" (OLG Frankfurt 1998). Dieses Kriterium aber
"führt unausweichlich in ein Wertesystem, das menschliches Leben erster und zweiter Klasse unterscheidet, mit unterschiedlichem Anrecht auf Schutz
und Menschenwürde", so der Mediziner und Bioethiksachverständige für den Bundestag, Linus S. Geisler, in der Taz.
In der Tat wird so die Prämisse der Bioethik übernommen, nach der es einen
grundsätzlichen Unterschied gibt zwischen einem bewussten und selbstbewussten Leben von Personen, die deshalb ein volles geschütztes Lebensrecht
haben, und einem menschlichen Leben von "Nichtpersonen", dem Bewusstheit und Selbstbewusstsein abgesprochen wird und das deshalb vernichtet
werden darf, wenn das für die Gesellschaft insgesamt nützlicher erscheint.
"Sterbehilfe" ist nicht zuletzt eine ökonomische Frage. 6070% der
gesamten Behandlungskosten eines Lebens fallen in den letzten zwei Lebensjahren an. Da ist die Versuchung groß, die maroden Gesundheitssysteme durch die
Tötung dieser Patienten zu sanieren. Die Praxis der "Sterbehilfe" in den Niederlanden ist für die Kosten und Nutzen abwägenden
Sozial- und Gesundheitspolitiker weltweit daher durchaus Vorbild.
Rund 40000 Menschen fallen zum Beispiel in Deutschland jedes Jahr ins Koma, die meisten
für wenige Tage oder Wochen, rund 3000 aber für mehr als ein halbes Jahr. Die Behandlung eines Komapatienten kostet monatlich mindestens 10000
Mark. Es ist daher kein Zufall, dass sie am häufigsten als Argument für die "aktive Sterbehilfe" herhalten müssen.
Ein radikales "Sterbehilfe"-Gesetz wird so zum Wettbewerbs- und Standortvorteil. Das
"sozialverträgliche Frühableben", von dem schon vor drei Jahren der damalige Präsident der Bundesärztekammer Karsten Vilmar
sprach, lässt sich mittels Giftspritze beschleunigen.
Einfache Alternativen
Dabei gibt es Alternativen zur Freigabe der "aktiven Sterbehilfe". Notwendig sind mehr Hinwendung zu den schwerkranken und sterbenden
Menschen als Abwendung, mehr Sterbehospize und eine bessere Schmerztherapie, also Bedingungen, die auch beim Sterben ein Leben in Würde und ohne
Persönlichkeitsverlust zulassen.
Oder wie es Michaela Werni, Oberärztin an einem Wiener Sterbehospiz, sagte: "Die
Menschen haben Angst vor dem Alleinsein. Was sie brauchen, ist seelische Zuwendung und eine effektive Schmerztherapie. Wir haben einen Totenkult, aber keine
Sterbekultur. Im Hospiz hat noch kein einziger nach 'Euthanasie verlangt."
Durchsetzen werden sich diese Alternativen aber vermutlich nicht. Denn mit fragwürdigen
medizinischen Höchstleistungen ist mehr soziale Anerkennung zu erzielen und sind bessere Geschäfte zu machen als mit der Pflege schwerkranker,
sterbender Menschen. Der Widerstand gegen die "Sterbehilfe", gegen die schnelle Entsorgung von Kranken und Behinderten kommt nicht von den
Gewerkschaften oder den Linken, sondern von den Kirchen und den christlich-konservativen Parteien. Es sind die vermeintlich fortschrittlichen modernen
Sozialdemokraten, Liberale und Grüne sowie deren Medien, die die "Sterbehilfe" unter dem Banner von Selbstbestimmung und
Selbstverwirklichung propagieren.
Wer sich aber dem herrschenden Schönheitsideal, dem Jugendkult und dem
Selbstverwirklichungswahn kritiklos unterwirft, "wer den Illusionen der Unsterblichkeit und eines leidfreien Daseins, genährt durch die Visionen einer zu
jedem Eingriff ins Erbgut bereiten Gentechnologie erlegen ist, dem wird schwerlich ein gelassenes Sterben gelingen. Ein zügiges Ende erscheint als einzige
Alternative, gleichgültig wie und durch wen herbeigeführt den Arzt eingeschlossen. Schmerzlos, lautlos, professionell" (Linus Geisler).
Gerlef Gleiss
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