Sozialistische Zeitung |
Das Timing war nicht zufällig, sollten doch die Ratsherren in Stockholm turnusgemäß darlegen, was sie tun, um die
Zahl der Erwerbslosen zu senken. Und da hatte die Regierung Schröder nicht viel vorzuweisen. Zwar brüstete sie sich zu Jahresanfang, die Zahl der
Erwerbslosen sei im Jahr 2000 "dank ihrer modernen Wirtschafts- und Sozialpolitik", die u.a. den "wachstumshemmenden Reformstau
aufgelöst" habe, unter 4 Millionen gesunken.
Doch das Bild ist erheblich geschönt; bei näherem Hinsehen lässt sich feststellen,
dass nach wie vor 6,5 Millionen Arbeitsplätze fehlen und der Gesamtumfang bezahlter Erwerbsarbeit zwischen 1992 und 2000 um 2,7 Milliarden Arbeitsstunden
zurückgegangen ist. Sie verteilen sich heute nur anders als vor acht Jahren. Der Tiefstand wurde 1998 erreicht, die Zunahme 1999 und 2000 war vergleichsweise
gering. Die Zahl der Erwerbstätigen lag 1999 erstmals höher als auf dem Höchststand des Nachwendebooms 1992 um ganze 64000
Erwerbstätige; in 2000 stieg sie nochmals um 598000 Erwerbstätige an. Der "Rat der 5 Weisen" führt in seinem
Sachverständigengutachten zu Jahresbeginn den Anstieg der Erwerbstätigkeit im vergangenen Jahr sogar auf verbesserte statistische Methoden
zurück.
An Ostdeutschland ist selbst dieser bescheidene Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt vorbeigegangen;
hier ist auch im Jahr 2000 die Zahl der Erwerbstätigen erneut zurückgegangen (auf 6,4 Mio.) und die Zahl der Erwerbslosen weiter gestiegen (auf 1,36
Millionen).
Über solche Feinheiten hätte die veröffentlichte Meinung hinweggesehen, wenn
nicht wenige Wochen später klar geworden wäre, dass die wirtschaftlichen Konjunkturerwartungen in der EU im Gefolge der Krise in Japan und der
Stagnation in den USA nach unten korrigiert werden müssen. Der Schlussbericht des Stockholmer Gipfels spricht für 2001 von 3% Wirtschaftswachstum
(2000: 3,5%), für Deutschland nahm der Sachverständigenrat im Januar für 2001 noch 2,8% an (in 2000: 3%), diese Zahlen wurde inzwischen
jedoch auf 2,1% nach unten korrigiert. Die Phase eines gemäßigten wirtschaftlichen Aufschwungs, die 1998 einsetzte, könnte bald vorbei sein, eine
neue Wirtschaftskrise einen neuen sprunghaften Anstieg der Erwerbslosenzahlen verursachen, ohne dass die aufsteigende Konjunktur zum Abbau der Arbeitslosigkeit
genutzt worden wäre.
Die Arbeitslosenzahlen folgen damit nur einem Muster, das in schöner
Regelmäßigkeit die Wirtschaftszyklen seit der Mitte der 70er Jahre begleitet: bei jedem wirtschaftlichen Aufschwung reicht dieser nicht aus, das
Beschäftigungsloch, das die Phase des wirtschaftlichen Niedergangs gerissen hat, zu füllen; jedesmal bleiben etwa eine Million Erwerbslose mehr in den
Computern der Bundesanstalt für Arbeit hängen. Trotz 3,1% Wachstum waren auch im Jahr 2000 immer noch über 900000 Menschen mehr
erwerbslos als auf der Spitze des Nachwendebooms 1992 (2,979 Mio. 1992 gegenüber 3,888 Mio. 2000). Für 2001 prognostizieren die "5
Weisen" einen Anstieg der Erwerbspersonen um 440000, und einen abgeflachten Rückgang der Erwerbslosigkeit um nur noch 200000. Das
Wirtschaftswachtum reicht nicht mehr hin, allen Menschen einen Voll-Erwerbsarbeitsplatz zu bieten.
Nun ist dies nicht neu und in einschlägigen Kreisen hinlänglich bekannt. Dennoch
hält die bundesdeutsche wie die EU-Politik eisern an der Formel fest: Die Gewinne von heute sind die Arbeitsplätze von übermorgen. Anders als in
den 70er und 80er Jahren wird dieser Glaubenssatz heute allerdings durch einen weiteren ergänzt: "Voraussetzung ist die weitere Deregulierung des
Arbeitsmarkts."
Hier hat es in den 90er Jahren einen erheblichen Wandel gegeben. Der Mitarbeiter der PDS-
Bundestagsfraktion, Horst Kahrs, hat errechnet, dass zwischen 1992 und 1998 mehr als 2,1 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verschwunden
sind. Dieser Abbau ging einher mit der Schaffung von über einer Million nicht sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze. In den Aufschwungsjahren
1999 und 2000 haben letztere erheblich stärker zugenommen als erstere: "Der Anteil der versicherungspflichtig Beschäftigten an allen
zusätzlich Beschäftigten betrug 1999 knapp 35%." Kahrs schätzt, dass der Anteil der nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigten
Arbeitnehmer an allen Arbeitnehmern in Deutschland zwischen 1992 und 1999 von 14,3% auf 19,5 gestiegen ist; in Ostdeutschland lag der Anteil 1999 bei 12,7%, in
Westdeutschland bei 20,9%.
"Vergleicht man die sektoralen Verschiebungen, so wird hinter dem Abbau von 872000
Arbeitsplätzen von 1991 bis 1999 eine weit größere Verschiebung auf dem Arbeitsmarkt sichtbar. In der Landwirtschaft, im Produzierenden
Gewerbe und im Öffentlichen Dienst im engeren Sinne wurden über 3,5 Mio. Arbeitsplätze abgebaut, im Dienstleistungsbereich entstanden
über 2,6 Mio. zusätzliche Arbeitsplätze. Allein von diesen absoluten Veränderungen und Verschiebungen zwischen den Sektoren waren im
Laufe der vergangenen knapp zehn Jahre somit etwa ein Fünftel der 1999 beschäftigten Arbeitnehmer betroffen."
Mit anderen Worten: Erstens ist trotz Wirtschaftsaufschwung die registrierte Erwerbslosigkeit kaum
gesunken;
zweitens ist der Aufschwung der Erwerbstätigkeit überwiegend auf die Zunahme
geringfügiger und ungeschützter Beschäftigungsverhältnisse zurückzuführen.
Eine zentrale Strategie zur Schaffung neuer Jobs stellt die Einführung des Kombi-Lohns dar;
dabei werden die Unternehmen vom Staat dafür bezahlt, dass sie Arbeitskräfte beschäftigen. Daran verdienen in erster Linie
Beschäftigungsgesellschaften und sonstige private Träger. Sprunghaft angestiegen ist auch die Leiharbeit.
Was Kohl und Schröder mit der Deregulierung des Arbeitsmarkts in den 90er Jahren geschafft
haben, ist eine starke Reduzierung der sog. verdeckten Arbeitslosigkeit, d.h. solcher Leistungsbezüge, die auf Kurzarbeit, Maßnahmen des zweiten
Arbeitsmarkts, berufliche Weiterbildung, Lehrgänge, etc. beruhen. Zwischen 1992 und 2000 waren 879000 Menschen davon betroffen. Dadurch hat die
Gesamterwerbslosigkeit (die offzielle plus die verdeckte Erwerbslosigkeit) heute wieder das Niveau von 1992 erreicht (5,65 Mio.), während die offizielle,
registrierte Erwerbslosigkeit etwa im selben Umfang um über 900000 auf 3,8 Millionen zugenommen hat. Zur Hälfte umfasst die letztere
Langzeitarbeitslose, die nach heutigen Kriterien nicht mehr vermittelbar sind.
Angela Klein
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