Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.09 vom 25.04.2001, Seite 7

Zurück in die Zukunft

Boris Kagarlitzkis Plädoyer für eine neue sozialistische Linke

von Christoph Jünke

Die weltpolitische Lage in ihrer Gesamtheit ist vor allem durch die historische Krise der Führung des Proletariats gekennzeichnet.
Trotzki, 1938
Hier gewinnt die subjektive, aktivistische und voluntaristische Revolutionstheorie ihren materialistischen Begründungszusammenhang: allein die "bewusste Tat" des revolutionären Proletariats kann die objektive Krise des kapitalistischen Systems in die revolutionäre Transformation des Systems umsetzen.
Dutschke, 1968
Es ist unsere Pflicht als Sozialisten, dem Kapitalismus zu widerstehen und auch jene Kämpfe zu kämpfen, die besonders hoffnungslos erscheinen. Das ist der Kern unserer Aufgabe: Du kämpfst nicht nur, weil du gewinnen kannst, sondern weil du deine Prinzipien und Werte zu verteidigen hast.
Boris Kagarlitzki, 2000

Eine ausgesprochen erfrischende Herausforderung an die internationale Linke kommt — welcher deutsche Linke hätte dies gedacht?1 — aus Russland. Mehren sich infolge der neuen weltweiten Klassenkämpfe der letzten Jahre auch die Versuche von links, strategische Diskussionen neu zu entfachen, wie die Debatten um die Aktivitäten und Artikel eines Pierre Bourdieu oder die intensivierte linke Kritik des Postmodernismus aufzeigen2, so hat der bekannte russische Linksoppositionelle Boris Kagarlitzki einen gewichtigen Schritt weiter getan und eine der wichtigsten radikal linken Veröffentlichungen der letzten Jahre vorgelegt. In einem dreiteiligen Werk versucht er, die sozialistische Theorie in der Ära der Globalisierung zu erneuern, Licht ins Dunkel der Vorgänge und die weltweite Linke auf Vordermann zu bringen.3 Es geht ihm dabei um nichts weniger, als um die Herausarbeitung einer aktuellen politischen Antwort auf den anhaltenden, weltweiten Neoliberalismus.
Ausgangspunkt für Boris Kagarlitzki ist eine doppelte Krise, die Krise des nun weltweiten Kapitalismus einerseits und die Krise der Linken andererseits. Wenn auch die Krise der letzteren objektive Grundlagen hat, für Kagarlitzki ist dieselbe vor allem eine moralische und ideologische Krise — und das entscheidende Hindernis, den Neoliberalismus mit der einzigen Alternative zu konfrontieren, die "realistisch" ist, mit dem Sozialismus.
Mit einer detaillierten Kritik des herrschenden Neoliberalismus gibt er sich deswegen gar nicht ab. Für ihn sind der Völkermord in Rwanda, die Kriege in Ex-Jugoslawien und Tschetschenien Zeichen einer neuen Barbarei, die auf Massenarmut, Wirtschafts- und Finanzkrisen, auf Mafiaökonomie, Rassismus und Neofaschismus, auf Katastrophen und Enttäuschungen aufbaut. Die Zivilisation gebärt Barbaren, die wiederum die Zivilisation zerstören, weil die Linke aufgrund ihres Zustands nicht in der Lage ist, Alternativen zu beiden anzubieten. "Die dunklen Jahre beginnen" (‘The dark ages begin‘), schreibt er voll pathetischem Schrecken (NRNB 14), und mahnt uns, dass solche Zeiten Radikalismus verlangen und nicht Mäßigung, dass erneut die Alternative steht: Sozialismus oder Barbarei.4
Doch ein Teil der Linken ist neurotisch gefangen, fühlt sich nicht nur machtlos, sondern auch mitschuldig an den Verbrechen anderer, an Verbrechen, die in ihrem Namen verübt wurden. Voller Scham und ideologischer Verunsicherung haben diese Linken ihren Widerstandswillen, ihren Willen zum Kampf verloren und überlassen das Feld jenen anderen Linken, die sich den vermeintlichen Siegern der Geschichte bis zur Selbstpreisgabe anpassen. Solcherart "Neue Realisten" stellen die Marktwirtschaft grundsätzlich nicht mehr in Frage, versuchen bestenfalls, sie zu humanisieren und zu erneuern. Dass diese Sozialdemokraten und Ex-Kommunisten den herrschenden Kräften hoffnungslos unterlegen sind und in der Regel auch nicht lange an der Regierungsmacht bleiben (was Kagarlitzki am osteuropäischen Beispiel aufzeigt), hänge eben damit zusammen, dass eine echt reformistische Bewegung mit der Feststellung beginne, dass das System schlecht sei und sich auch nicht scheue, die Herrschenden politisch herauszufordern. "Ohne Klassenhass gäbe es weder soziale Reformen noch soziale Partnerschaft", schreibt er (NRNB 38) und: "Das Gegengewicht zur Sabotage der Eliten war immer die Mobilisierung der Massen. Dies jedoch ist das Letzte, was die neuen Eliten auf ihren Plänen haben … An einem bestimmten Punkt sieht sich jedes reformistische Projekt vor die Wahl zwischen Radikalisierung und Rückzug gestellt. Im späten 20.Jahrhundert typischerweise bereits auf einer sehr frühen Stufe, noch bevor echte Reformen überhaupt begonnen haben." (NRNB 40f.)
Doch was wird kommen, wenn die "Neuen Realisten" abgewirtschaftet haben und die Restlinke ihre "kollektive Neurose" (NRNB viii) nicht überwunden haben wird? Der Aufstieg der militanten Rechten ist für Kagarlitzki nur ein weiteres Anzeichen, dass die Barbarei an die Tür klopft. Die Schwäche der Linken gebietet deshalb, dass ein zeitgenössischer Antikapitalismus wesentlich defensiven Charakter trägt. Ein solcher Widerstand gegen die Offensive des Kapitals ist nicht nur die vor uns stehende Aufgabe, er kann auch nicht sinnvoll in Angriff genommen werden, wenn sich die Linke gleich wieder und hauptsächlich nach einem neuen sozialen Kompromiss auf die Suche macht. Beim gegebenen Kräfteverhältnis kann es keinen neuen Konsens geben. "Jeder, der von Reformen träumt, muss zuerst kämpfen, um das Kräfteverhältnis zu ändern. Und das bedeutet, ein Revolutionär und Radikaler im traditionellen Sinne zu werden." (NRNB 74.) Nur so, nur mit den klassischen Mitteln des Klassen- und Massenkampfs, mit einem gehörigen Maß an "Traditionalismus" könne der defensive Charakter des anstehenden Kampfes offensiv gewendet werden. Doch gerade der Traditionalismus ist eines der effektivsten Feindbilder der heutigen Linken.

Keine Nostalgie

Karl Marx ist tot, hieß es mindestens zwei Jahrzehnte lang, bevor Ende der 90er Jahre, anlässlich des 150-jährigen Jubiläums des Kommunistischen Manifests von einer Renaissance desselben auch in der bürgerlichen Öffentlichkeit geredet wurde. Für Kagarlitzki haben wir hier einen klassischen Fall von gescheiterter Geisteraustreibung, die nur deswegen nötig schien, weil Marx noch sehr lebendig ist. Treffend bemerkt er, dass auch niemand Hegel oder Voltaire beerdigen wolle. Zu offensichtlich gehören die beiden der Vergangenheit an, zu offensichtlich sind sie im herrschenden Diskurs integriert. Doch solange der Kapitalismus existiert, solange lebt eben auch derjenige, der diesen Kapitalismus wie kein anderer analysiert, kritisiert und sich für dessen grundlegende Veränderung wie viele andere engagiert hat.5 So schlicht diese Antwort auch sein mag, sie trifft ins Schwarze. Und richtig ist auch, wenn Kagarlitzki darauf hinweist, dass die historische Krise des Marxismus6 sehr viel älter ist als der Verweis auf das Epochenjahr 1989 suggeriert. Man muss schon in die 20er und 30er Jahre zurückgehen, zur Entstehung des stalinistischen Marxismus-Leninismus im Osten und zur Herausbildung des "westlichen Marxismus" im Westen. Hier, so Kagarlitzki, begannen sich Theorie und Bewegung nachhaltig zu lösen. Hier begann eine Entwicklung, in deren Verlauf westliche Linksintellektuelle zu einer neuen, esoterischen Sprache Zuflucht nahmen, zu einer Sprache, die nicht mehr die des klassischen Marxismus gewesen sei und die "die einfachen Leute" nicht mehr verstehen.
Kagarlitzki will zurück zu den Stärken der alten Zeit, hält nichts von den neuen Intellektuellen der 80er und 90er Jahre, die vom Ende der Arbeiterbewegung sprechen und von einem nachhaltig veränderten Kapitalismus. All diese neuen Revisionisten unterschätzen sowohl die Bedeutung, als auch die Reichweite des zeitgenössischen neoliberalen Umbruchs, hielten und halten ihn für marginal, sahen und sehen auch weiterhin genügend Spielraum für systemimmanente Reformen, während doch vielmehr alle Reformen auf den Druck von außen hin zustande gekommen seien.
Eine Rückkehr zu Marx ist jedoch nicht nur eine Rückkehr zur marxistischen Kapitalismuskritik. Es ist auch eine undogmatische Rückkehr zur Marx‘schen Zentralität des Klassenkampfs. Es gehe ihm dabei nicht um eine Nostalgie des Goldenen Zeitalters der klassischen Arbeiterbewegung, betont Kagarlitzki, doch auch weiterhin gebe es den zentralen Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital. Wenn dieser nicht gelöst werde, könnten auch andere Probleme und Widersprüche nicht gelöst werden. "Neben"widersprüche sind nicht weniger real als "Haupt"widersprüche. Trotzdem zeichnet sich die kapitalistische Gesellschaft durch eine spezifische Strukturierung aus, die auch linke Politik zentral strukturieren sollte.
Die verbreitete These vom Ende der Arbeiterklasse lehnt er entsprechend rigoros ab. Von einem Verschwinden ist nicht zu reden, wohl aber von einer nachhaltigen Neustrukturierung, in deren Folge es sogar zu einer Intensivierung der Ausbeutung, zur Rückkehr von struktureller Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzunsicherheit und neuen Spaltungslinien innerhalb der heterogener gewordenen Klasse gekommen sei. Die Hoffnung mancher Linker auf die neue technologische Elite, auf die neue Intelligenz, habe getrogen, denn sie sei keine eigenständige soziale und politische Kraft und verliere dementsprechend mit der Verbindung zur sozialen Massenbasis auch ihre innovative Kraft. Auch wenn sich die Lohnarbeiterschaft zunehmend fragmentiert, aufs ganze gesehen bleibe das industrielle Proletariat auch weiterhin das Herz des kapitalistischen Systems. Eine neue sozialistische Linke dürfe sich allerdings nicht arbeitertümelnd auf die zentrale Industriearbeiterschaft beschränken, sondern müsse den sich im Schisma zwischen "alter" und "neuer" Linker spiegelnden Widerspruch zwischen traditioneller und postindustrieller Arbeiterbewegung überwinden. Während die alte Linke demoralisiert und ohne Selbstbewusstsein sei, sei die neue Linke desorientiert und ohne klare Strategie. Beide Kulturen müssen auf eine neue, gemeinsame Ebene gehoben werden, einen neuen historischen Block bilden, der sich weitgehend traditionellen Zielen verpflichtet sieht.

Von den neuen Klassenkämpfen zu neuen politischen Organisationsformen

In den neuen Klassenkämpfen der letzten Jahre sieht Kagarlitzki die Zeichen einer solchen, hoffnungsvollen Renaissance. Seien es der bewaffnete Aufstand der mexikanischen Zapatistas, die Bergarbeiterstreiks in Russland, die französischen Streikbewegungen oder die vielen anderen, weltweit aufflackernden sozialen und politischen Kämpfe, sie zeigen, dass der neoliberale Kapitalismus nicht nur Krisen und Armut, sondern eben auch Klassenkämpfe provoziert.
Doch nicht nur die sog. subjektiven Voraussetzungen eines neuen sozialistischen Aufbruchs sieht Kagarlitzki solcherart vorhanden, er macht auch neue objektive Grenzen des Kapitalismus aus. Auf der einen Seite seien die neuen Technologien ein Beispiel für das systemsprengende Potenzial heutiger Produktivkräfte. Sinnvollerweise funktioniere das Internet nicht nach Marktgesetzen, beruhe vielmehr auf kommunistischen Prinzipien, indem es bezeuge, dass intellektuelles Eigentum überholt sei. Entsprechend erzielten die Informationsprodukte keinen klassischen kommerziellen Profit mehr, allenfalls eine Art parasitärer Monopolrente.
Auf der anderen Seite zeige die Herausbildung der neuen weltwirtschaftlichen Peripherie, dass kapitalistische Modernisierung nicht zu erwarten sei. Selbst wenn der Westen Osteuropa integrieren wollte, er könnte es nicht, denn das postkommunistische Osteuropa sei als abhängige Peripherie in die Arbeitsteilung des kapitalistischen Weltsystems integriert. Eine neue strukturelle Desintegration sei das unvermeidliche Ergebnis, ein mafiotischer Halbkapitalismus, dessen herrschende Schicht keine neue Bourgeoisie sei, sondern eine verbürgerlichte Nomenklatura, zu überwinden nur, wenn man gleichzeitig die Prinzipien des Privateigentums in Frage stelle.7
Objektive und subjektive Voraussetzungen einer Erneuerung der sozialistischen Bewegung sind also quasi gegeben. Mit welcher Strategie und Taktik sollen demnach die neuen Sozialisten auftreten?
Jeder ernsthafte Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung beginne damit, dass man die nationalen Gesellschaften gegen die transnationalen Eliten verteidigen müsse. Das stellt die Linke vor das schwierige Problem, "patriotisch" zu werden ohne sich mit den reaktionären Kräften gemein zu machen. Habe ein republikanisch-revolutionärer Patriotismus in Mexiko oder Frankreich eine gewisse Tradition, so fehlt diese bekanntlich in Ländern wie Russland und Deutschland. Hier war der Nationalismus immer eine durch und durch reaktionäre Kraft. Doch dabei dürfe es nicht bleiben.
Kagarlitzki ist trotz dieses überraschenden und provozierenden Plädoyers für einen linken Patriotismus kein Freund des Nationalismus. Ganz im Gegenteil kritisiert er die zeitgenössischen nationalen Bewegungen stärker als viele andere Linke. Auch wenn der Kampf gegen nationale Unterdrückung weiterhin prinzipiell gerechtfertigt sei und auch der Kampf um nationale Selbstbestimmung noch immer ein demokratisches Potenzial habe, seit Beginn der neoliberalen Globalisierung anfangs der 80er Jahre hat sich die Lage für ihn grundlegend verändert. Nationalistische, vermeintlich antiimperialistische und antikolonialistische Bewegungen wurden zunehmend zu Komplizen des Neoliberalismus instrumentalisiert. Im Schlepptau der großen Nationalismen USA, Russland und Deutschland wurden kleinbürgerlich-bürokratische Lokaleliten zu Instrumenten geografischer Zerstückelung und ökonomischer Deregulation. Sei der Kampf der Kurden und Tschetschenen die unterstützenswürdige Ausnahme, so erklärt sich Kagarlitzki ausdrücklich gegen den Separatismus in prominenten Fällen wie Ex-Jugoslawien und Kanada und fordert von Linken und Internationalisten, sich für multinationale und multikulturelle Staatsformen einzusetzen.
Linker Patriotismus ist für ihn da möglich, wo dieser auf den Prinzipien von Bürgerschaft und Menschenrechten aufbaut und wo die Linke eine eigene Vision eines demokratischen und dezentralisierten Staates entwickelt. Dezentralität und Föderalismus, Gleiche Staatsbürger- und Menschenrechte, nationalkulturelle Autonomie im multikulturellen Staat und Arbeitersolidarität, damit beginne eine Demokratisierung der Gesellschaften, die vor der Expropriation der Expropriateure nicht halt macht. Es gehe nicht um eine bloße Verteidigung des Nationalstaats, es geht um einen neuen Staat, der auf den nichtbourgeoisen Elementen des alten, auf dessen sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Elementen aufbaut.8
Hart kritisiert Kagarlitzki deshalb jene Linken, die den Staat aus ihrer Reformdiskussion heraus halten möchten. Der Staat als die wichtigste nichtmarktförmige Institution im kapitalistischen Gesellschaftssystem spiele eine Schlüsselrolle nicht nur im Kampf gegen die Bourgeoisie, sondern auch im Kampf um neue Gesellschaftsformen. Von einem nachhaltigen Bedeutungsverlust des Staates sei auch im Neoliberalismus nicht zu sprechen, denn der Neoliberalismus greife nicht den Staat schlechthin an, sondern eben dessen nichtbourgeoise Elemente. Im Mittelpunkt einer linken Übergangsstrategie müsse vor diesem Hintergrund die nachhaltige Vergesellschaftung kollektiver Konsumptionsbedürfnisse stehen. Gesundheit, Erziehung und Kultur, Umwelt, Transport und Energie, all diese Aufgaben seien gesellschaftlicher Natur und müssten auf gesellschaftlicher Ebene geregelt werden. Eine solche kollektive Konsumption erfordere einen munizipalen Sozialismus sowohl auf Dienstleistungs- als auch Produktionsebene.
Die Nähe zu Positionen, wie sie in Deutschland v.a. im Kontext der "Crossover"- Strömung verbreitet werden, springt hier ins Auge.9 Doch Kagarlitzki unterscheidet sich wiederum deutlich von diesen durch sein überzeugendes Insistieren auf der auch weiterhin aktuellen Bedeutung von klassischen Nationalisierungen. "Nationalisierung ist keine Methode, die Industrie zu verwalten; sie ist primär ein Mittel der Veränderung sozialer und ökonomischer Gesellschaftsstrukturen. Das Problem ist, dass alle Mittel zu Zielen umfunktioniert werden können." (ToG 53.) Sanfte Formen der Sozialisierung privaten Eigentums, Selbstverwaltungsmodelle oder andere Formen des Kollektiveigentums wie bspw. Pensionsfondsstrategien hält Kagarlitzki solange für unbrauchbar, wie sie das Mittel des Staates und der durch ihn vermittelten Aufhebung bürgerlicher Eigentumsformen, also die Nationalisierung, zu vermeiden suchen. Ihr vermeintlicher Vorteil, die Vermeidung einer direkten Konfrontation mit den herrschenden Mächten, sei nur ein scheinbarer, denn auch solche moderaten Veränderungen verlangten heutzutage nach ebenso radikalen Methoden, wie die Nationalisierung eine sei. Statt einer Sozialisation des Marktes verlangt er deswegen eine Sozialisierung und Demokratisierung der Planwirtschaft.
Gesellschaft und Staat müssen also grundlegend demokratisiert und erneuert werden.10 Mit der Logik des Kapitals muss gebrochen werden. Dies könne nur eine sozialistische Linke in Gang setzen, die sich selbst grundlegend erneuert, indem sie sich auf ihre alten, in der marxistischen Arbeiterbewegung wurzelnden Prinzipien und Werte besinnt. Doch "die Linke bleibt Gefangene ihrer Misserfolge und Neurosen. Sie ist nicht nur politisch schwach, ihr fehlt auch die Entschlossenheit und moralische Stärke, die sie zur Aktion braucht. Sie kann Wahlen gewinnen, aber keine Kämpfe. Solange sie nicht wagt, erneut über Klassensolidarität, Nationalisierung und Umverteilung zu sprechen, solange sie nicht das System des globalen Kapitals und ihre lokalen politischen Repräsentanten herausfordert, hat sie keine Chance, irgendetwas zu verändern." (NRNB 146.)
Die Aufgabe, vor der die Linken also stehen, ist, "neue politische Mittel zur Verwirklichung traditioneller Ziele zu finden" (RoR vii).
Was den einen Pfeiler traditionell linker Politikformen, die Gewerkschaftsbewegung angeht, so materialisieren sich für Kagarlitzki die anstehenden Aufgaben der Demokratisierung und Dezentralisierung in jener Form von "neuer sozialer Gewerkschaftsbewegung", die sich in den letzten Jahren in Ländern wie Brasilien, Südafrika, Südkorea, Indonesien und auf den Philippinen, sowie in Frankreich und anderswo herausbildet. Wir haben es hier mit Bewegungen zu tun, die Kernbelegschaften genauso mobilisieren wie Arbeitslose, Marginalisierte, ImmigrantInnen und Familienangehörige. Sie agieren vorwiegend lokal und regional, werden stärker von ihrer aktiven Basis als von ihrem Funktionärsapparat geprägt. Sie trennen kaum noch zwischen Betrieb und Lebensumfeld, sind sozial entsprechend stark verankert und überwinden partiell die alte Spaltung in ökonomischen und politischen Flügel.11 "Zeitgenössische Arbeiter mögen Christen sein oder Moslems, Männer oder Frauen, weiß oder schwarz; sie mögen mit dem Computer arbeiten oder mit dem Spaten. Moderne Gewerkschaften müssen herausfinden, was diese Menschen vereinigt, müssen Organe einer Zusammenführung ihrer Interessen werden." (RoR 36f.) Nur so könne die organisatorische und ideologische Krise der verbürokratisierten Gewerkschaftsbewegung emanzipativ überwunden werden: "Es ist keine einfache Aufgabe, urbane Industriearbeiter, Spezialisten postindustrieller Produktion, Migranten, Marginale, Vertreter des Informationssektors und traditionelle Indianergemeinschaften in einer gemeinsamen Bewegung zu vereinigen und ihre Aktionen zu koordinieren. Bis diese Aufgabe nicht vollendet ist, wird es weder Sieg noch partielle Erfolge geben. Doch der moderne Kapitalismus hilft der Linken bei deren Anstrengung; auf seinem Entwicklungsweg führt er zu gleichartigen Interessen in allen obigen Gruppen" (RoR 106).
Auch was den anderen traditionellen Pfeiler linker Politik, die linken Parteien, angeht, macht Kagarlitzki in Phänomenen wie der brasilianischen Arbeiterpartei, der italienischen Rifondazione Comunista und der deutschen PDS erste hoffnungsvolle Zeichen einer neuen Zeit aus. In Anknüpfung an die klassische Zeit müsse linke Politik einerseits wieder stärker in den sozialen Kämpfen selbst, vor allem in denen der lohnarbeitenden Klasse verankert werden. Andererseits dürfe sie jedoch nicht in den alten Monolithismus zurückverfallen. Mit viel Raum für Pluralität müsse sie eine neue demokratische Parteistruktur aufweisen und die abstrakte Trennung von Reform und Revolution auch in ihren Reihen überwinden. Da ein zeitgenössischer Reformismus revolutionäre Qualitäten verlange, erweise sich die Qualität der Revolutionäre in ihrer Fähigkeit, reformistische Projekte mitzutragen und weiter zu treiben.

Kritik der postmodernen Linken

Beide Politikfelder, Gewerkschaften und Parteien, sind jedoch nicht die vorherrschenden Felder, auf denen sich die heutige Linke tummelt. Sie betreibt im Wesentlichen, wie es neuerdings heißt, Identitätspolitik.
Die Abwendung von Marxismus und Arbeiterbewegung auf der Linken fand etwa im Jahrzehnt von der Mitte der 70er zur Mitte der 80er Jahre statt. Klassenkampf, Aufklärung und Fortschrittsdenken wurden zunehmend als hoffnungslos verwoben mit dem herrschenden System angesehen, Konzepte wie Totalität und Universalität, Subjekt und Identität, Macht und Hierarchie radikal infrage gestellt. Das System erschien zunehmend als allmächtig, alternativlos und einer grundsätzlichen Veränderung nicht mehr zugänglich. Mit dem Abschied von den "großen Erzählungen" der Emanzipation wird das vom System ausgeschlossene und der potenziellen Vernichtung anheimgegebene Marginale und Minoritäre gesucht und verteidigt. Denn was fortan übrig bleibt, ist die Subversion, das Herausarbeiten der negativen Wahrheit der Moderne und die Feier der Differenz. Politik wird wesentlich auf die Taktik der Diskurse beschränkt. Im Laufe der 80er Jahre verbreitet sich dieses postmoderne Denken in den neuen sozialen Bewegungen, die sich der traditionellen sozialistischen Linken überlegen fühlen. Mit dem Aufkommen des neoliberalen Neorassismus und infolge des Zusammenbruchs des östlichen Nominalsozialismus kommt es in den 90er Jahren zum hegemonialen Aufschwung und damit auch zur begrifflichen Formierung einer Identitätspolitik, die auf der politischen Verteidigung diverser Minderheiten beruht, die die Differenz vor der Einheit betont und von der alten Linken nichts mehr wissen möchte.
Kagarlitzki unterzieht diese linke Identitätspolitik einer besonders scharfen und ausführlichen Kritik, weil sie für ihn der politisch-programmatische Ausdruck jener postmodernen Linken ist, von der es sich zu verabschieden gelte. Nicht die neuen Sozialdemokraten, die "Neuen Realisten" der Linken seien das Problem für einen sozialistischen Neuanfang, denn von ihnen könnten wir ernsthaft nicht mehr erwarten. Entscheidender sei die Ohnmacht der radikalen linken Kräfte, die sich als unfähig und unwillig erweisen, Mitte-Links unter ernsthaften Druck zu setzen. Und dass die linken Kräfte so ohnmächtig und unwillig seien, das habe eben etwas mit ihrer postmodernen Weltsicht zu tun.
"Diskriminierung von Minderheiten zu beenden, ist eine allgemeine demokratische Forderung und muss unterstützt werden", schreibt Kagarlitzki, "aber sie kann nur in dem Maße mit dem linken Programm organisch verbunden werden, in dem die Unterdrückung einer bestimmten Minderheit eine notwendige Bedingung der Reproduktion des Kapitals ist" (RoR 48). Solange jedoch diese Verbindung von Identitätspolitik und Antikapitalismus nicht gesucht werde, solange verfalle der Kult der Vielfalt und Differenz den entsprechenden Mythen des Konsumkapitalismus, welcher genug Raum für einen belebenden Nonkonformismus biete. Und so werden neue soziale Bewegungen, der Feminismus und die Ökologie, Kulturpolitik und affirmative action zu opportunistischen und konservativen Kräften, wenn sie sich vom Antikapitalismus abwenden und dem herrschenden System solcherart in die Hände spielen, wie Kagarlitzki besonders am Beispiel des Feminismus ausführt. Der Kampf gegen das System, das Rassismus, Sexismus und Klassismus12 produziert, werde zur paternalistischen Lobbyarbeit einer liberalen, akademischen Intelligenz entschärft, die sich bruchlos in den neuen neoliberalen Korporatismus einzufügen bereit sei.
Kagarlitzki weiß und sagt auch, dass die feministische und postmoderne Kritik der alten Linken begründet und gerechtfertigt ist. Falsch sei sie allerdings da, wo sie mit dem Marxismus den Universalismus und die politische Hierarchie der Ziele verwerfe. Er lehnt solcherart Identitätspolitik deswegen nicht prinzipiell ab, möchte sie jedoch im philosophischen Sinne auf einer höheren Ebene aufgehoben wissen. "Wir müssen unser ökologisches Projekt und die Bekräftigung der Rechte von Frauen und Minderheiten durch den und in dem Prozess des antikapitalistischen Kampfes verwirklichen, nicht als dessen Ersatz oder Alternative" (RoR 71). Nicht die politischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte sind aufzugeben, wohl aber deren postmoderne Ideologie und elitäre Politik.
Es tut sich schließlich, so Kagarlitzki, ein Graben auf zwischen jenen linksgerichteten Politikern, die noch immer von ihrer linken Vergangenheit zehren, obwohl sie lange nicht mehr an dieselbe glauben, und jenen Millionen Menschen, die "bereit sind zu kämpfen und zu gewinnen" (RoR 11). In dieser historischen Umbruchs- und Erneuerungszeit hänge alles vom praktischen Kampf gegen den neoliberalen Großen Bruder ab. Und auch die Antworten auf die Fragen der Theorie finden wir nur durch die Praxis, schreibt er und bringt sein voluntaristisches Credo auf den Punkt: "Es ist Zeit, die Trompeten zu blasen und zur Attacke überzugehen" (RoR 12).

Stärken und Schwächen

Boris Kagarlitzki schwimmt in seinem neuesten Werk mit Verve gegen den linken Strom. Seine Kritik des linken Revisionismus und Reformismus, sein Insistieren darauf, dass ein heutiger Reformismus nicht vor revolutionären Mitteln zurückschrecken darf und kann, will er konsequent sein, ist treffend und aktuell. Der deutsche Fall kann hier als Bestätigung seiner Thesen verstanden werden. Der Sturz Oskar Lafontaines hat exemplarisch gezeigt, wie gering die Reformspielräume im Neoliberalismus sind. Lafontaines Person und Programm, alles andere als revolutionär, vielmehr durch und durch staatsloyal, war den Herrschenden in Ökonomie, Politik und Medien ein solcher Dorn im Auge, dass er mittels Mobbing gekonnt entfernt wurde.13
Dass auch die alternative Linke keine wirkliche Alternative dazu war und ist, zeigt der vor einigen Jahren gestartete Versuch, linke Sozialdemokraten, linke Grüne und linke PDS-Männer und -Frauen unter dem "Crossover"-Dach zu sammeln und zurück zur Politik zu führen, wie es programmatisch hieß. Politisch betrachtet muss dieser Versuch als gescheitert gelten, seit man es im Wahlkampfjahr 1998 abgelehnt hat, gemeinsam in die politische Offensive zu gehen. Seit man sich damals den Organisationszwängen der eigenen Parteien bereitwillig untergeordnet und getrennt Parteienwahlkampf gemacht hat, herrscht Lähmung vor. Dass mit dem Rücktritt Oskar Lafontaines auch die parlamentarische Linke eine nachhaltige Niederlage erlitt, weil sie es nicht verstanden hat, politisch eigenständig und offensiv zu reagieren, haben wenige überhaupt begriffen.14 Auf der Suche nach den Inhalten eines neuen ökologisch-solidarischen New Deal haben sie es versäumt, eine politisch mobilisierbare Gegenmacht aufzubauen. Solcherart zur Ohnmacht verdammt, bleibt fast zwangsläufig nur noch die intellektuelle Arbeit an Zukunftsentwürfen. "Doch das Problem liegt nicht im Fehlen machbarer Theorien" so Kagarlitzki treffend, "sondern in der Schwäche der politischen Organisationen, die sich ihrer annehmen. Konzepte demokratischer Planung, einer erneuerten gemischten Wirtschaft und eines Markt- und Postmarktsozialismus werden in der detailliertesten Weise in akademischen Zirkeln diskutiert und niemand hat bisher bewiesen, dass sie in ihrer reinen Form weniger seriös konstruiert seien als die Ideen der Neoliberalen … Der soziale und politische Raum für Reformen ist sehr eng geworden. Das meint nicht, dass Reformen innerhalb des Kapitalismus prinzipiell unmöglich geworden sind, doch die Vorbedingungen für solche Veränderungen müssen erst aufs neue geschaffen werden … Entscheidend ist nicht wie radikal das neue reformistische Projekt sein wird, sondern dass es solange prinzipiell unmöglich sein wird, bis es nicht zu neuen revolutionären Aufständen kommt." (RoR 154, 159.)
Manche linke Grüne und viele linke Sozialdemokraten aus dem Crossover-Spektrum haben die Konsequenz aus der veränderten Situation gezogen und sind direkt in die PDS eingetreten. Doch die ist noch immer vorrangig darum bemüht, die Anerkennung von Ostidentitäten einzuklagen, sie zu pflegen und sich zu diesem Zwecke dem herrschenden Establishment anzudienen. Solche Suche nach Konsens hat mit dem Willen zum Kampf und der von Kagarlitzki geforderten antikapitalistischen Klassenpolitik nur wenig zu tun.15
Kagarlitzkis Kritik der postmodernen Linken ist erfrischend und bricht in ihrer Deutlichkeit viele Tabus. Eine Ökologiepolitik, die sich dem Antikapitalismus überlegen fühlt und die Umwelt vom Sozialen trennt, reduziert sich zwangsläufig auf Ökosteuern und endet als bloßer Geldbeschaffer für den neoliberalen Staatsapparat. Ein Feminismus, der die Einziehung von Frauen zum Militärdienst verteidigt, verwechselt bürgerliche Gleichheit mit Emanzipation und hält solcherart Gleichheit für wichtiger als menschliche Emanzipation.16
In der Kritik an solcherart Postmodernismus leistet sich Kagarlitzki in der Hitze des Gefechts jedoch auch Schwächen. Es ist zwar richtig, gegen bestimmte postmoderne Linke darauf hinzuweisen, dass Rassismus mehr ist als ein zu bekämpfender Diskurs, dass es auch und vor allem um gesellschaftliche Verhältnisse und deren Institutionen geht. Trotzdem wäre bei manchen seiner Formulierungen mehr Vorsicht geboten, das eine gegen das andere nicht einfach auszuspielen. Liberale Feministinnen sind nicht nur und schon gar nicht per se ein Hindernis für den Kampf um die Rechte arbeitender Frauen (RoR 83). Sie können unter bestimmten Umständen auch hilfreiche Stützen dieses Kampfes sein. Es stimmt leider nur dem Prinzip nach, nicht aber historisch, wenn Kagarlitzki schreibt, dass Sozialisten diejenigen waren, welche die Rechte von Minderheiten am ausdauerndsten verteidigt haben (RoR 57). Identitätspolitik ist auch, aber eben nicht nur "konservativ und opportunistisch", wie er zuspitzt (RoR 65). Es ist verzerrend, die Verwandlung einer ursprünglich offensiven Identitätspolitik mit ihrer Politik des affirmative action zum von weitergehenden emanzipativen Kämpfen losgelösten defensiven Kampf um den Status quo zu beklagen (RoR 83ff.). Dass die linken Kräfte so ohnmächtig und unwillig sind, hat zwar viel mit ihrer postmodernen Weltsicht zu tun, aber eben auch umgekehrt: dass der linke Postmodernismus so vorherrscht, hat auch etwas mit der Schwäche der radikalen Linken zu tun. Zum Schluss seiner heftigen Verbalattacke gesteht dies Kagarlitzki auch wieder ein: "Die Theoretiker der Differenzkultur sind nicht schuld an der schwierigen Situation, in der sich die linke Bewegung nun selbst befindet. Die wahre Schuld liegt bei den kommunistischen und demokratischen Bürokratien, bei den kapitulierenden Intellektuellen und bei der Arbeiterbewegung selbst und ihrer Tradition der Betriebsdisziplin. Aber der Ausweg aus der gegenwärtigen Krise sollte nicht dort gesucht werden, wo sie Identitätspolitik, postmoderner Radikalismus und verspäteter Republikanismus suchen, In diesem Sinne sind solche Phänomene Hindernisse auf dem Weg in die Zukunft." (RoR 96.)
Hier verbirgt sich eine strukturelle Schwäche des Kagarlitzki‘schen Werkes, denn es ist vollkommen unverständlich, warum er der Kritik der kommunistischen und demokratischen Bürokratien keine eigene Beschäftigung widmet. Zumal es sich dabei um keine reine Geschichtsdiskussion handelt, baut doch eine andere Dominante zeitgenössischer Linkspolitik, die nostalgische Linke, auf deren Mythen und Denktraditionen auf. Kagarlitzki registriert zwar, dass die Herrschaft des neoliberalen Großen Bruders so schrecklich sei, dass sich Linke weltweit in konservativer Nostalgie für alte Zeiten einrichten. Und er betont zu Recht, dass die neoliberalen Eliten alles andere als Angst vor dieser Strömung haben (ToG 127). "Die sozialistischen Alt-Gläubigen werden so effektive Komplizen der neuen Realisten, zeigen fortwährend die Impotenz ihres revolutionären Denkens und ihrer politischen Praxis. Aktionen werden von Deklarationen ersetzt, Ideen von Symbolen und Programme vom Aufsagen von Prinzipien. Moralisch betrachtet ist die Position einfacher Negation ebenso dubios wie die der Anpassung an die Realität. Das Ergebnis ist in beiden Fällen dasselbe: alles bleibt so wie es ist." (NRNB 61.) Unverständlich ist jedoch, warum er der Kritik dieser neostalinistischen Linken, die, wie er einräumt, in die Köpfe von Millionen Menschen eingedrungen ist, keine eigene Erörterung widmet, zumal er sie in Russland direkt vor der Nase hat und zumal er eingesteht, dass ihre historischen Bezugsgrößen die Hauptverantwortung für den Niedergang der sozialistischen Linken und den Aufstieg des Postmodernismus tragen. Eine Diskussion der in Neurosen gefangenen Linken, die nur beiläufig auf die Erbschaft des Stalinismus eingeht, hängt doch ziemlich in der Luft und beschwört — auch bei Kagarlitzki — die Gefahr eines sektiererischen, rein negativen Angriffs auf die postmoderne Linke herauf.17
Ein zweite Einschränkung ist gegen Kagarlitzkis Behandlung der postmodernen Linken zu machen. Er schreibt der postmodernen Linken eine Kohärenz zu, die sie nicht hat. Es gibt nicht die politische Formation, die man als postmodern treffend fassen könnte. Es gibt einzelne Individuen und intellektuelle Millieus und bei vielen anderen mischen sich postmoderne mit mal mehr mal weniger traditionellen Elementen. Die postmoderne Linke ist nur als interpretierende Zuschreibung ein identifizierbares Subjekt, sie ist mehr eine hegemoniale Mentalität. Es ist deswegen kein Zufall, dass die marxistische Kritik am Postmodernismus dort am stärksten sich entfalten kann, wo sie, wie bei Terry Eagleton weniger bestimmte Personen angreift, "weniger den ‚gelehrten‘ Formulierungen postmoderner Philosophie als der Kultur, dem Milieu oder gar dem Gefühl für die Postmoderne als Ganzem (gilt)".18
Beide Einschränkungen ändern jedoch nichts wesentliches am sachlichen Gehalt der Kagarlitzki‘schen Kritik des Postmodernismus.
Vieles von dem, was Boris Kagarlitzki zur programmatischen Erneuerung einer sozialistischen Linken zu sagen hat, ist sicherlich nicht neu. Er reklamiert dafür auch keine Originalität. Seine Rückkehr zur Klassenpolitik und sein Insistieren auf der Zentralität der Arbeiterklasse im Emanzipationskampf ist 1997 umfassend und empirisch gesättigt vom US-Aktivisten Kim Moody formuliert worden19, auf den sich Kagarlitzki auch bezieht. Seine Analyse der auch weiterhin tragenden Rolle des Staates im Globalisierungsdiskurs rekurriert auf die Arbeiten aus dem Umfeld des Socialist Register und der Monthly Review. Sein Plädoyer für einen offensiven Kampf zur Verteidigung und Erneuerung des Sozialstaats zeigt deutliche Parallelen zu den politischen Interventionen eines Pierre Bourdieu20, auf den er sich bemerkenswerterweise jedoch nicht beruft. Seine umfassende Kritik des linken Postmodernismus schließlich verdankt viel den hierzulande leider viel zu unbekannten Arbeiten einer Ellen Meiksins Wood21, der er den gebührenden Zoll entrichtet.
Neu ist allerdings Kagarlitzkis Zusammenfassung dieser verschiedenen Ansätze und deren politische Zuspitzung. Neu ist vor allem auch, dass es Boris Kagarlitzki ist, der dies alles schreibt. Alles andere als des linken Traditionalismus verdächtig, haben wir es bei ihm eher mit einem klassischen Fall eines Neuen Linken zu tun, dessen partielle Nähe zu postmodernen Positionen er sogar noch vor wenigen Jahren durch eine Zusammenarbeit mit postmodernen Linken verdeutlichte, von der er sich heute jedoch explizit distanziert.
Am originellsten und umstrittensten dürfte sich jedoch ein ganz anderer Zug Kagarlitzkis erweisen, sein Voluntarismus.

Kagarlitzkis Voluntarismus

Boris Kagarlitzkis Werk handelt primär vom Willen zum Kampf. Doch gibt es einen materialistischen Weg vom Willen zum Kampf? Eine alte Frage, auf die es zwei Antwortebenen gibt.
Die erste ist eine historisch-konkrete Prüfung. Die Anzeichen einer solchen empirischen Sättigung des Kagarlitzki‘schen Voluntarismus sind sicherlich da und er benennt sie ja auch: die neuen Klassen- und Massenkämpfe gegen die neue neoliberale Weltordnung. Seien es die Zapatistas, die russischen Bergleute, die französischen Streik- und Arbeitslosenbewegungen oder die neuen Gewerkschaftskämpfe in den USA, Kanada, Brasilien, Südafrika, Südkorea usw. usf., sie bieten in der einen oder anderen Form das von Kagarlitzki und anderen aufgezeigte Profil und Potenzial. Doch Grund zu überschwenglichem Optimismus ist dies nicht, denn eine Schwalbe macht bekanntlich noch keinen Sommer und seit der Niederschrift seines Werkes haben sich solche Tendenzen kaum verstetigt.
Die zweite Ebene ist prinzipieller Natur. Ist ein solcher Voluntarismus auch theoretisch gerechtfertigt? Wir können uns der Beantwortung dieser Frage nähern, indem wir Kagarlitzki mit zwei anderen interessanten Denkern der Linken vergleichen.

Exkurs 1:
Perry Andersons Vorsicht

Parallel zur Veröffentlichung Kagarlitzkis hat Perry Anderson, der britische Marxist und nun wieder alleinige Herausgeber der New Left Review, dem seit über drei Jahrzehnten international führenden Aushängeschild eines aufgeklärten, kritisch- emanzipativen Marxismus, eine seiner gewichtigen Lageanalysen zur herrschenden Weltpolitik und deren Konsequenzen für die linke Opposition vorgelegt.22
Die wichtigste Entwicklung des letzten Jahrzehnts macht Anderson in der so nicht vorhergesehenen, eigentlich unbestrittenen Konsolidierung und weltweiten Ausbreitung des Neoliberalismus aus. Während das stärkste Glied des kapitalistischen Weltsystems, die USA, ihre führende Rolle ökonomisch, politisch, militärisch und kulturell erneuert habe, zeitige deren schwächstes Glied, die neue russische Ökonomie trotz katastrophischer Regression keine breite Gegenbewegung. Der asiatische Kapitalismus suche sein ökonomisches Heil in einer Anpassung an das US-amerikanische Modell. Auch die Regierungsübernahme der europäischen Sozialdemokratie ändere daran nichts wesentliches. Die neuen Sozialdemokraten übernehmen vielmehr den harten Kern des politischen Vermächtnisses von Reagan und Thatcher, setzen neoliberale Politik in Feldern durch, in denen selbst ihre konservativen Vorgänger gescheitert sind und begleiten dies mit vereinzelten sozialen Konzessionen und einer sanfteren Rhetorik. So finde der vorherrschende neoliberale Konsens im "Dritten Weg" eine neue unerwartete Stabilität, ideologisch hegemonialer denn je, seit der jüngste Balkankrieg mit seiner Menschenrechtsideologie die neuen weltpolitischen Verhältnisse zementiert habe.
Es gäbe zwar, so Anderson, gewichtige Anzeichen für Optimismus, wenn man die Entwicklungen in Südafrika, Indonesien, Venezuela und anderen Ländern betrachte, wenn man die feministischen und ökologischen Bewegungen und ihre progressiven Verdienste in Rechnung ziehe. Doch all diese Bewegungen hätten sich als durchaus kompatibel mit den Imperativen kapitalistischer Akkumulation erwiesen. Auch die Arbeiterinnen und Arbeiter seien trotz vereinzelter Ausnahmen weiterhin in struktureller Defensive. Die neoliberalen Prinzipien herrschen weltweit und, so Anderson, erstmals seit der Reformation ohne soziale und politische Systemalternative am Horizont. Der Sozialismus ist nur noch ein Ideal, keine reale Bewegung, Arbeiterpolitik und Marxismus sind auf der Rest-Linken marginalisiert.
"Der einzige Ausgangspunkt für eine realistische Linke heute ist eine klare Feststellung der historischen Niederlage", schreibt Anderson, will aber weder resignieren noch sich an den siegreichen Neoliberalismus anpassen. Auch die Flucht in den Trost, die neue Macht des Neoliberalismus zu unter- und den Widerstand gegen denselben zu überschätzen, lehnt er ab. Für sich und seine Zeitschrift reklamiert er einen vierten Weg, den des kompromisslosen Realismus. Kompromisslos gegen jede Anpassung an das herrschende System wie gegen illusionäre Hoffnungen auf dessen unmittelbar bevorstehende Überwindung.
Trotz sicherlich gleichen politischen und theoretischen Ausgangspunkts und Zieles von Anderson und Kagarlitzki, der Ton der beiden könnte kaum verschiedener sein. Und es überrascht nicht, dass Kagarlitzki auch gegen Anderson polemisiert. Schreibt Perry Anderson ausgesprochen nüchtern und jedes Wort wohl abgewogen vom Aussichtsturm linker Intellektualität, so sehen wir Boris Kagarlitzki im Schlachtgetümmel am politischen Boden, wild aber beherzt um sich schlagend und in "heiliger Wut" gegen eine Linke, die verlernt hat, gleichermaßen beherzt zu kämpfen. Während Kagarlitzki die Trompeten zum Sturmangriff blasen möchte, erklärt Anderson, dass es "eher der Geist der Aufklärung als der der Evangelisten ist, der heutzutage am meisten gebraucht wird"23. Doch wer hat Recht? Beide und keiner.
Perry Andersons intellektuelle Vorsicht ist im Blick auf historische Strukturen sicherlich solider als das Schwanken Kagarlitzkis, der zuerst das aktuelle Scheitern des Neoliberalismus für unhinterfragbar erklärt, um eine Seite später einzugestehen, dass der ökonomische Misserfolg desselben nicht dessen ideologische Hegemonie in Frage stellt (NRNB 2f.). In einer solch zentralen Frage ist aber Nüchternheit gefragt. Historisch-materialistisch betrachtet sind die Schwalben des Widerstands noch keine ernsthafte Erschütterung jener geschichtlich einmaligen Hegemonie des zeitgenössischen Neoliberalismus, auf die Anderson uns hinweist. Dass es der Neoliberalismus im Herbst 2000 partiell sogar geschafft hat, für seine Ölpreispolitik Menschenmassen und Lohnarbeitende auf die Straße zu mobilisieren, zeigt, wie selbstbewusst er zur Zeit ist, für wie gering er die Gefahren einschätzt, Kräfte wachzurufen, die er nicht mehr zu kontrollieren imstande ist. Doch von Andersons kompromisslosem Realismus und intellektuellem Skeptizismus führt leider keinerlei Weg zur politischen Aktion. Gerade den bietet jedoch Kagarlitzki.
Man mag einen solchen Weg für überholt, veraltet, "traditionalistisch" halten. Doch gerade die postmoderne Linke der letzten beiden Jahrzehnte hat sich als weitgehend kompatibel mit den neoliberalen Imperativen und als politisch impotent erwiesen. Gerade die von denselben verächtlich gemachten "alten sozialen Bewegungen" waren bisher die einzigen, die es geschafft haben, dem Neoliberalismus Grenzen zu setzen. Das war — auf Deutschland bezogen — 1984 so, als nicht die Grün-Alternativen, sondern die gewerkschaftliche Streikbewegung für die 35-Stunden-Woche für ein kräftiges Versanden der "geistig-moralischen Wende" Helmut Kohls sorgte und das war 1996/1997 der Fall, als nicht die rot-grüne Parlamentsopposition den Machtwechsel politisch erkämpfte, sondern als vielmehr die zuerst spontanen, schließlich aber gekonnt kanalisierten Klassenkämpfe u.a. um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle eine ideologische Trendwende verursachten.

Exkurs 2:
Jan Philipp Reemtsmas Abgang

Was bei Perry Anderson als Problem latent angelegt ist, findet sich in manifester Form bei einem in Deutschland mittlerweile allseits präsenten Linksintellektuellen. Vor zehn Jahren, am Ende des Jahres 1990 veröffentlichte der damals noch recht unbekannte Jan Philip Reemtsma einen kleinen aber sehr folgenreichen Artikel in der Zeitschrift Konkret. In "...the bad and the ugly"24 versuchte er im Angesicht des bevorstehenden Golfkrieges eine geschichtsphilosophische Begründung für die damals aufkommende These zu liefern, dass es die Linke nicht mehr gebe. Reemtsma stand damals noch für jene Tradition der Moskau-kritischen, unabhängigen Linken, die ihre Emanzipationshoffnungen nicht auf die dort herrschende Bürokratie, sondern auf den antistalinistischen Kampf eines Leo Trotzki gründeten.25 Trotzdem sah er mit dem Niedergang des ehemals "realen Sozialismus" auch den Bezugspunkt der Linken verloren.
Er glaubte sich mit Trotzki einig in der Hoffnung, dass die sowjetische Bevölkerung, habe sie erst einmal ihre Bürokraten abgeschüttelt, die "historische Chance" wahrnehme und einen Schritt zur Verwirklichung des wahren Sozialismus mache — eines Sozialismus, der die ökonomische und politische Macht aus den Kanzleien auf die Straße zurückholen würde. Genau das sei allerdings nicht passiert: "Es hat aber faktisch niemand diesen Versuch für wert gehalten, unternommen zu werden." Die Tatsache, dass aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine sozialistisch-emanzipative Befreiungsperspektive von unten hervorgehe, verdeutliche, so Reemtsma, dass die Massen nichts mehr mit den Hoffnungen und Programmen, für die das Jahr 1917 symbolisch steht, verbänden. Damit verändere sich "der Blick auf die Weltgeschichte" und die Linke hat aufgehört zu existieren. "Es gibt sie nicht mehr." Und weil es ja keinen linken Bezugsrahmen mehr gebe, wisse man aktuell auch nicht mehr, wer gut und wer schlecht sei. Deswegen könne er, Reemtsma, auch gleich die Intervention des US-Imperialismus im damaligen Golfkrieg unterstützen — "[m]öglicherweise aufgrund eines klassenspezifischen sowie weltregional bedingten Vorurteils", wie er kokettierend hinzufügte.
Historisch gesehen gab Reemtsma damit die Hauptargumentation vor, mit der sich große Teile der (westdeutschen) Linken vor allem infolge des Zusammenbruchs des Ostblocks und des Streits um den Golfkrieg 1991 von der linken Politik verabschiedeten. Nicht zufällig wurde der Text als Leitartikel mit Manifest-Charakter zum Konkret-Kongress 1993 neu aufgelegt. Doch nicht darum soll es hier gehen26, sondern darum, dass dieser Text ein paradigmatisches Beispiel dafür ist, auf welchen Wegen sich der linke Radikalismus, allen voran sein Autor Reemtsma, zu Beginn der 90er Jahre in jene postmoderne Linke transformierte, die Kagarlitzki heute zu Recht zu seiner Hauptzielscheibe erklärt hat.
Reemtsmas zentrales Argument stimmte schlicht nicht. Es gab in den sowjetrussischen Jahren von Perestroika und Glasnost durchaus Ansätze, die ökonomische und politische Macht aus den Kanzleien auf die Straße zu holen. Die ganze anfängliche Perestroikaeuphorie wurzelte in diesen Versuchen, die ihr Symbol in den großen Bergarbeiterstreiks des Jahres 1989 und ihre Sprache schon damals bspw. in den Arbeiten eines Boris Kagarlitzki fanden. Damit reduziert sich aber der Reemstmasche Vorwurf darauf, dass es zu keinem quasi automatischen Übergang zu einem wahren Sozialismus gekommen sei. Spätestens mit der Oktoberrevolution war es jedoch intellektuelles Gemeingut der revolutionären Linken, dass keine Bevölkerung automatisch zum Sozialismus übergehen könne, schon gar nicht, wenn sie diesen Versuch isoliert vom Rest der Welt unternimmt. Eben deswegen scheiterte die sowjetische Perestroika auch nicht nur am Beharrungsvermögen der Bürokratie und an fehlenden oppositionellen Erfahrungen, sondern mindestens gleichermaßen daran, dass die aufbegehrende Bevölkerung jeden sozialistischen Versuch unter Bedingungen weltpolitischer Isolation, bei Fehlen eines machtvollen westlichen Sozialismus hätte in Angriff nehmen müssen.
Jener Trotzki, auf den sich Reemtsma in seinem Artikel explizit bezog, wusste um diese strukturellen Probleme und sah deswegen eine mögliche Lösung gerade nicht in Russland, sondern einzig und allein im Schicksal der westlichen Arbeiterklasse. Er glaubte eben nicht an jene automatische Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse, an die Reemtsma noch 1990 glaubte. Während Reemtsma auf andere, auswärtige Kräfte hoffte, an eine imaginierte russische Arbeiterklasse glaubte, versuchte Trotzki bereits 60 Jahre zuvor, seinen Beitrag zur Organisierung einer vor allem im hochindustrialisierten Westen agierenden revolutionären Bewegung zu leisten, die sich selbst — und damit auch die in den Zwängen des stalinistischen Systems gefangene russische Arbeiterklasse — befreien könne. Was bei Trotzki also, und das ist hier entscheidend, nicht ohne die eigene sozialrevolutionäre Tätigkeit, nicht ohne einen gewissen Voluntarismus gesehen werden kann, war bei Reemtsma zu schnödem "sozialrevolutionären Fatalismus", zum "Bolschewismus fürs aufgeklärte Bürgertum" verkommen, wie es Trotzki in anderem Zusammenhang treffend nannte.
Reemtsma und sein Artikel sind ein bleibendes Beispiel dafür, wie sich ein falsch, d.h. um die tätige Seite verkürzter, bloß anschauend verstandener Materialismus zum postmodernen "anything goes" verwandeln kann.27 Dagegen formuliert Boris Kagarlitzki zu Recht, dass es "unsere Pflicht als Sozialisten ist, dem Kapitalismus zu widerstehen und auch jene Kämpfe zu kämpfen, die besonders hoffnungslos erscheinen. Das ist der Kern unserer Aufgabe: Du kämpfst nicht nur, weil du gewinnen kannst, sondern weil du deine Prinzipien und Werte zu verteidigen hast." (NRNB ix.) Das ist so wahr, wie es voluntaristisch ist. Es schaut nicht auf die geschichtsphilosophische Versicherung des eigenen Erfolgs, sondern ist beseelt vom Willen zum Kampf, vom Willen, den eigenen Stolz und die eigene Würde nicht ausgerechnet dann an der weltgeschichtlichen Garderobe abzugeben, wenn es mal besonders düster mit deren Perspektiven ausschaut.
Dies ist der harte, geschichtsmaterialistische Kern eines marxistisch-sozialistischen Voluntarismus in der Linie eines Trotzki oder Dutschke, einer Luxemburg oder eines Che Guevara, welcher gerade heute dringend notwendig scheint. Ihn in dieser Form formuliert zu haben, ist die Stärke des Kagarlitzki‘schen Werkes. Nicht der Voluntarismus als solcher ist das Problem, denn ohne eine bewusste Setzung von Zielen, ohne bewusste Tat ist keine Emanzipation, kein Fortschritt denkbar. Problematisch ist er vielmehr da, wo der "Bogen des Voluntarismus" (Wolfgang Fritz Haug) überspannt wird, wo er gegen machtvolle historische Trends ignorant anrennt und wo er dazu tendiert, sich sektiererisch gegen die Realität abzuschotten. Wenn auch bei Kagarlitzki beide Gefahren sichtbar sind, so bekommt er sie doch immer wieder in den Griff.28
Der Pessimismus des Verstandes wiederum hat seine Tücken dort, wo er die tätige Rolle "vergisst", wo er sich in anschauender Kontemplation selbst gefällt. Im Reemtsma‘schen Falle ist dies allzu offensichtlich, doch auch Perry Anderson ist davor nicht gefeit.
Eine Rückkehr zur Politik findet zur Zeit wenn, dann auf der Straße, in den Aktionen und Diskussionen der Anti-WTO-Gruppen und ähnlicher Bewegungen statt. Und für die gilt, was Kagarlitzki beklagt: sie findet weitgehend ohne politische und intellektuelle Führung von links statt. In Zeiten politischer Flaute, in denen linke Theorie und Praxis weitgehend getrennt sind, dürfen beide weder gewaltsam getrennt noch gewaltsam vereint werden. Theoriearbeit, die gegen notwendige Praxis angerechnet wird oder sich gar zur Praxis selbst stilisiert, ist ebenso verkehrt wie eine Praxis, die sich nicht von aufklärerischer Nüchternheit leiten lässt. Der Geist der Aufklärung steht nicht im Widerspruch zum Geist der Evangelisten und ohne den letzten ist eine um Emanzipation bemühte Politik schlechterdings nicht denkbar.
Kagarlitzkis Intervention erinnert uns zu Recht gerade daran. Sein dreibändiges Werk ist ein flammendes Plädoyer für eine Rückkehr zur Politik, die sich vor Traditionalismus nicht scheut. Wenn er für eine solche Rückkehr zur Klassenpolitik und zu sozialistisch-marxistischen Traditionen plädiert, plädiert er zuallererst für eine politische und soziale Eigenständigkeit der sozialistischen Linken, die sich organisatorisch jedoch nicht abschottet, sondern solidarisch in plural-linken Parteiformen zu bewähren hat.

Nachwort
Nach der parallelen Veröffentlichung von Kagarlitzkis Werk und Andersons Editorial ist der latente Widerspruch zwischen beiden offen ausgebrochen. Im Frühjahr 2000 publizierte Kagarlitzki eine scharfe Polemik gegen Andersons Editorial und erklärte die New Left Review für politisch tot. Anderson und die NLR hätten sich dem neoliberalen Sieger gebeugt, vom sozialistischen Projekt verabschiedet und quasi Selbstmord begangen.29 Doch so richtig es ist, Andersons historischen Pessimismus scharf aufs Korn zu nehmen30, so unsinnig ist es, so zu tun, als sei dessen Pessimismus ein neues Phänomen. Wer Andersons Schriften mindestens der letzten zwei Jahrzehnte aufmerksam verfolgt hat, der ist mit diesem Ton vertraut und zuversichtlich, dass Anderson daraus auch weiterhin keine nihilistischen Schlüsse ziehen wird. Andersons Vorsicht ist nicht mit Reemtsmas Abgang zu verwechseln. Trotz sachlichem Kern ist Kagarlitzkis Anklage deswegen kurzschlüssig und überzogen (die jüngsten Ausgaben der New Left Review bestätigen Kagarlitzkis Befürchtungen nicht), ein Beispiel, dass der gespannte Bogen des Voluntarismus auch mal reißen kann.

Dezember 2000

Anmerkungen


1. Vgl. E.Altvater, "Schwierigkeiten mit der neoliberalen ‚pensée unique‘. Der internationale Lelio-Basso-Preis und die Suche nach politischen Alternativen", Utopie kreativ, Heft 114, April 2000.
2. Zu Bourdieu v.a. seine kleine Essaysammlung Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz 1998. Zur Kritik des Postmodernismus v.a. T.Eagleton, Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay, Stuttgart/Weimar 1997, sowie "Zur Verteidigung der Geschichte. Marxismus und die postmoderne Tagesordnung" (Beiträge von Ellen Meiksins Wood, David McNally, Francis Mulhern, John Bellamy Foster und Terry Eagleton), SoZ Bibliothek, Beilage zu SoZ 13/96.
3. B.Kagarlitsky, New Realism, New Barbarism. Socialist Theory in the Era of Globalization, Recasting Marxism I, London 1999 (im Folgenden als NRNB zitiert).
B.Kagarlitsky, The Twilight of Globalization. Property, State and Capitalism, Recasting Marxism II, London 2000 (im Folgenden als ToG zitiert).
B.Kagarlitsky, The Return of Radicalism. Reshaping the Left Institutions, Recasting Marxism III, London 2000 (im Folgenden als RoR zitiert).
4. Wesentliche Teile dieses Kapitels seiner Arbeit liegen auch auf deutsch vor. Siehe B.Kagarlitsky, "Die neuen Barbaren", Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 10, 1999.
5. Dieses Kapitel liegt komplett auch auf deutsch vor. Siehe B.Kagarlitzky, "Den Revisionismus revidieren", in: E.Hobsbawm u.a., Das Manifest — heute. 150 Jahre Kapitalismuskritik, Hamburg 1998, S.210—225.
6. Er spricht im latenten Widerspruch zum vorher Gesagten gar von "Niederlage des Marxismus". Dies ist jedoch eine jener vielen begrifflichen Ungenauigkeiten, die eher dem Eifer des Gefechts als realen Widersprüchen geschuldet sind.
7. Wesentliche Teile dieses Kapitels liegen ebenfalls auf deutsch vor. Siehe B.Kagarlitsky, "Osteuropa: An den Rand gedrängt", Ost-West-Gegeninformationen, Heft 4, 1999; vgl. auch B.Kagarlitzki, "Die neue Peripherie. Reformen in Osteuropa", Berliner Debatte, Heft 2, 2000.
8. "Wenn Könige und Lords eine Verbindung zur vorkapitalistischen Vergangenheit herstellen, stellt der Wohlfahrtsstaat eine Verbindung zur Zukunft her" (ToG 8). Die Parallele zu Pierre Bourdieus Ansatz ist offensichtlich. Auch hier sind jedoch unklare Widersprüche zu notieren: Einerseits sagt Kagarlitzki, dass es gelte, die nichtbourgeoisen Elemente des zeitgenössischen Sozialstaats grundsätzlich und offensiv zu verteidigen. Andererseits betont er, dass es weder auf eine Reduktion noch auf eine Verbreiterung der Staatspartizipation ankomme, sondern auf seine radikale Transformation, darauf, einen grundsätzlich anderen Staat zu erkämpfen (ToG 37f.).
9. Crossover (Hrsg.), Zur Politik zurück. Für einen ökologisch-solidarischen New Deal, Münster 1997, und dies. (Hrsg.), Regionales Wirtschaften als linke Reformperspektive, Münster 2000.
10. Eine weitere Unklarheit: Auf der einen Seite betont er, dass das Entscheidende in der Staatsfrage sei, dass dieser neue Staat von Beginn an grundlegend und nachhaltig demokratisiert werden müsse, weil sonst das Ganze in Degeneration und Kollaps ende. Auf der anderen fühlt er sich gemüßigt, gegen "komplett absurde Theorien" (ToG 10) eines staatslosen Sozialismus von links zu polemisieren.
11. Der US-amerikanische Gewerkschaftslinke Kim Moody hat dieses Konzept in konsistenter Form in seinem Werk Workers in a Lean World. Unions in the International Economy, London/New York 1997 entwickelt. Ein Teil der Arbeit liegt auch auf deutsch vor: K.Moody, "Das neue Proletariat. Gewerkschaften im ‚globalisierten‘ Kapitalismus", Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Nr.2, 1999.
12. Ich greife hier einen Benennungsvorschlag auf, den Anja Meulenbelt vor langer Zeit gemacht hat (Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus, Reinbek 1988), um die Diskriminierung bezüglich der Klassenzugehörigkeit auf einen Begriff zu bringen. Ihre Definition, Klassismus sei "Herrschaft von Menschen mit einer besseren beruflichen Stellung und einer besseren Ausbildung über Menschen mit einer weniger angesehenen Arbeit oder überhaupt keiner Arbeit und einem niedrigen Bildungsniveau", mag noch für ihren Kontext, die alltägliche Sozialisation in die herrschende Gesellschaft ausreichen. Für einen allgemeinen Begriff taugt sie jedoch wenig, da sie zum einen die Gesellschaftsstruktur selbst nicht erfasst und zum anderen die spezifische ideologische Wirkung verfehlt: Anders als beim Sexismus und Rassismus, bei denen mehr oder weniger reale Unterschiede zur Begründung von Herrschaft übertrieben werden, wird Herrschaft beim Klassismus begründet, in dem reale und strukturelle Klassenunterschiede negiert und verschleiert werden.
13. Ausführlich hierzu C.Jünke, "Lafontaines Dilemma", Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11, 1999.
14. Im Vorwort zur neuen "Crossover"-Publikation (a.a.O., S.8) nennen die Herausgeber als Wegmarken ihrer enttäuschten Hoffnungen den Kosovokrieg, das Sparpaket und das Schröder-Blair-Papier, vermeiden jedoch jede Erwähnung des Lafontaine-Rücktritts, mit dem doch (fast) alles begann.
15. Im Herbst 2000 entzündete sich in der PDS ein interessanter Streit um die Versuche führender PDS-Funktionäre, nationale Symbole und Begriffe positiv zu besetzen. Mit Kagarlitzki lassen sich Sinn und Unsinn dieser Versuche verstehen: Hier wird der im Prinzip nicht verkehrte Versuch, den globalisierten Eliten mit einem linken "Patriotismus" zu begegnen, mit dem Anstimmen von nationalistischen Tönen verwechselt. Da man nicht zwischen politischem "Patriotismus" und Nationalismus zu trennen vermag (was im deutschen Falle eben auch besonders schwierig ist), da man sich allzu schnell und problemunbewusst herrschenden Diskursen unterwirft und da man diese ganze Kampagne als "Ankommen in der BRD" und nicht als "Überwindung der BRD", als Frontalangriff gegen den herrschenden Neoliberalismus darzustellen versucht, wird solcherart "Patriotismus" leider nicht der Emanzipation, sondern der Anpassung dienen.
16. Es ist interessant, dass auch Kagarlitzki selbst bei diesem Thema in die Falle der bürgerlichen Gleichheit tappt, wenn er sich zwar zu Recht gegen die neuen Berufsarmeen und für die Wehrpflicht ausspricht, dies aber mit der Forderung nach allgemeiner Bewaffnung aller Bürger verbindet (ToG 34ff.). Welchen Sinn soll das haben? Haben wir nicht bereits ein historisches Stadium erreicht, wo die Entmilitarisierung — mindestens in den Metropolenländern — auf der Tagesordnung steht?
17. Eine entsprechende marxistische Kritik an den kommunistischen und sozialdemokratischen Bürokratien, liegt mit Ernest Mandels Macht und Geld. Eine marxistische Theorie der Bürokratie (Köln 2000) nun endlich auch auf deutsch vor.
18. Eagleton, a.a.O., S.VIII.
19. A.a.O.
20. A.a.O.
21. Vgl. neben ihrem Beitrag in der Essaysammlung "Zur Verteidigung der Geschichte" (siehe Anm.2) vor allem E.M.Wood, Democracy against Capitalism. Renewing Historical Materialism, Cambridge 1995.
22. P.Anderson, "Renewals", New Left Review (II), Nr.1, Januar/Februar 2000.
23. Ebd.
24. Konkret 12/1990, Nachdruck in Konkret extra 1/1993.
25. Um nicht falsch verstanden zu werden: Reemtsma war kein Trotzkist im politischen, sondern mehr im literarischen Sinne.
26. Zur ausführlicheren Kritik vgl. C.Jünke, "Reemtsma, Trotzki und die verschwundene Linke", SoZ 11/93). Zur Einordnung in den historisch-politischen Kontext vgl. C.Jünke, "Vorantreiben, Helfen oder Stören. Längerer Rückblick auf zehn Jahre Konkret — aus gegebenem Anlass", analyse & kritik, Nr.409, 1997.
27. "Man möchte schreien, dass sie nur ein Ende mit dem machen sollen, was sie da tun, egal ‚wer gewinnt‘." Mit diesen bezeichnenden Worten rechtfertigte Reemstma damals den Golfkrieg. Einige Zeit später schrieb er bewundernd ein Buch über den postmodernen Kampfstil des Boxers Muhammed Ali. Dass Reemtsmas offener Übergang zum Postmodernismus nur der erste Schritt zurück ins linksliberale Bürgertum war, sei hier nur am Rande vermerkt.
28. Zum Schluss seiner Arbeit nimmt sich Kagarlitzki im Ton bspw. selbst wieder zurück: "Eine Epoche der Reaktion verlangt keinen Heroismus. Sie verlangt Standfestigkeit und Nüchternheit, sowie die Fähigkeit, gegen den Strom zu schwimmen." (RoR 150.)
29. B.Kagarlitsky, "The suicide of New Left Review", mehrfach veröffentlicht und im Internet verbreitet, u.a. in Green Left Weekly, 24.5.2000, und in International Socialism, Nr.88, 2000.
30. Vgl. G.Achkar, "The ‚historical pessimism‘ of Perry Anderson", International Socialism, Nr.88, 2000; "Socialism: A Time to Retreat?" (Editorial), Monthly Review, September 2000.


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